So gar nicht am Rande
18.02.2025 Region Bremgarten, Fischbach-GöslikonDie Kulturkommission lud zur Lesung mit Urs Habegger ein
«Hallo, ich bin dä Urs», begrüsste Urs Habegger jeden Gast, der den Weg in den Ortsbürgersaal der Gemeinde Fischbach-Göslikon fand. Die Kulturkommission Fi-Gö hatte zu dieser ...
Die Kulturkommission lud zur Lesung mit Urs Habegger ein
«Hallo, ich bin dä Urs», begrüsste Urs Habegger jeden Gast, der den Weg in den Ortsbürgersaal der Gemeinde Fischbach-Göslikon fand. Die Kulturkommission Fi-Gö hatte zu dieser Lesung eingeladen, und ein schönes Grüppchen an Interessierten genoss den Abend mit dem Autor.
Berührungsängste hatte Habegger keine – von Anfang an ging er auf Tuchfühlung mit den Besuchenden. Kennt man seine Geschichte, erstaunt dies wenig. Geboren anno 1956 in Windisch, ist es ein Schicksalsschlag, der ihn zum Verkäufer des Strassenmagazins «Surprise» werden liess. Nach einer missglückten Operation sieht Habegger mit einem Auge nur noch in die Weite und mit dem zweiten nur in die Nähe. Dadurch musste er seinen Job in einer Druckerei aufgeben.
Ohne Sozialhilfe und IV-Unterstützung
«Freiheit und Unabhängigkeit sind mein grösstes Gut», erzählte der sympathische 69-Jährige. Darum kam es für ihn auch nicht infrage, Sozialhilfe oder IV-Unterstützung zu beantragen. Er wollte es ohne fremde Hilfe schaffen und dies gelang ihm. Er entschied sich, «Surprise»-Verkäufer zu werden, und zwar in der Bahnhofunterführung zu Rapperswil. Obwohl er in den 19 Jahren, in denen er nun als Strassenverkäufer unterwegs ist, seinen Standort etliche Male hätte wechseln können, ist er standorttreu. So forderte er in seiner Lesung das Publikum immer wieder auf, mit ihm den Slogan «in der Bahnhofsunterführung zu Rapperswil» zu sprechen.
Dieser Aufforderung kam das Publikum lächelnd nach. Habegger gelang es, von Anfang an eine Brücke zum Publikum zu schlagen und es in seine Lesung miteinzubeziehen. 08/15 sind seine Lesungen mit Sicherheit nicht. Habegger steht, bewegt sich, ist stark in der Mimik, spielt Gitarre, singt und überrascht nebst einem guten Gespür für Satire und ernste Themen auch mit poetischen Reimen. Er liebt das Spielen mit Wörtern und löst beim Gegenüber damit verschiedenste Emotionen aus: von Freude über Staunen bis Betroffenheit.
Seit 17 Jahren an sechs Tagen die Woche auf der Strasse
Bis am 31. Dezember 2024 hat er sage und schreibe 103 125 Magazine verkauft. Die Arbeit ist kein Zuckerschlecken, oft steht Habegger an sechs Tagen die Woche jeweils bis zu zwölf Stunden in der Bahnhofsunterführung. Längst ist er stadtbekannt. Man kennt ihn und er kennt die Leute, ausser dass er sich keine Namen merken kann, wie er in der Lesung schmunzelnd erzählte. «Das finde ich schon peinlich.» Authentisch, offen und sympathisch prä- sentierte sich der Senior, der eigentlich schon längst im Ruhestand wäre. Davon will er nichts wissen: «Jetzt geht’s doch erst so richtig los, und die Lesereisen sind ein Geschenk für mich. Sie bieten mir Abwechslung und machen mir grossen Spass.»
«Ich has probiert und gib nöd uf.» – So lautet sein Lebensmotto. Zu diesem Motto hat er auch gleich ein Lied geschrieben namens «Casting», dass er an der Lesung ebenfalls zum Besten gab. Auch scheute er sich nicht, vom Publikum Applaus zu verlangen. «Es darf applaudiert werden», forderte er charmant auf.
Mit 69 Jahren wurde er zum Buchautor
2019 wurden er und weitere «Surprise»-Verkäufer von der Redaktion des Strassenmagazins angefragt, ob sie Interesse daran hätten, eine Kolumne zu schreiben. Habegger hatte das, und der Rest ist eine Geschichte, die nur das Leben so schreiben kann. Weil Habegger seine Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte, hatte er im Nu so viele Kolumnen geschrieben, dass sie im Magazin nicht alle Platz finden. Kurzerhand gestaltete der gelernte Schriftsetzer diese Texte zu Heften, die er ebenfalls in der Bahnhofsunterführung verkauft.
Per Zufall entdeckte ihn dort eine Leiterin eines Kulturklubs, und diese lud ihn zu einer Lesung ein, wo er auf eine Verlagsleiterin stiess. Sie ist begeistert von ihm und lud ihn ein, ein Buch zu schreiben. Im April 2024 wurde sein Buch «Am Rande mittendrin» veröffentlicht. Und seit da ist er nebst seinem Standort «in der Bahnhofsunterführung zu Rapperswil» bis Ende Jahr auf Lesereise durch die ganze Schweiz. Momentan schreibt er an seinem zweiten Buch, das im Frühling, genau zu seinem 70. Geburtstag, erscheinen soll. Urs Habegger, ein Tausendsassa. --sk