«Mensch bleibt Mensch»
31.07.2025 Bremgarten, Porträt, ArbeitMit Leib und Seele Richter
Peter Thurnherr 25 Jahre Gerichtspräsident
Im Jahr 2000 wurde Peter Thurnherr zum Bezirksgerichtspräsidenten gewählt. Bis heute ist er geblieben – und hat dabei entsprechend viel erlebt. Wir haben sein ...
Mit Leib und Seele Richter
Peter Thurnherr 25 Jahre Gerichtspräsident
Im Jahr 2000 wurde Peter Thurnherr zum Bezirksgerichtspräsidenten gewählt. Bis heute ist er geblieben – und hat dabei entsprechend viel erlebt. Wir haben sein Jubiläum als Anlass für ein ausgedehntes Gespräch genommen. Über seine Amtszeit, die immer wieder geprägt war von Rechtsanpassungen und steigenden Anforderungen. Über die Praxis im Alltag als Richter, über die Abgründe des Menschseins – und weshalb diese am Gericht eigentlich gar nicht so oft vorkommen, wie man meinen würde. --huy
Peter Thurnherr ist seit 25 Jahren Gerichtspräsident – ein Gespräch über Wandel, Recht, Herausforderungen und Persönliches
Seit einem Vierteljahrhundert steht Peter Thurnherr dem Bezirksgericht Bremgarten als Präsident vor. Dabei gingen Zehntausende Fälle über seinen Tisch, Tausende Urteile hat er gefällt. Und entsprechend viel hat er erlebt. Menschliches und Unmenschliches.
Marco Huwyler
Ihr Büro ist beeindruckend. Ich weiss nicht, ob ich schon einmal einen so feudalen Arbeitsplatz gesehen habe.
Peter Thurnherr: Ja, ich bin auch zufrieden (lächelt). Ich sage jeweils: Wenn mal jemand ein Ranking machen würde von den schönsten Büros im Kanton, käme meines in die Top 3. Die Verhältnisse im Bremgarter Rathaus und das Büro für meine Position sind halt historisch gegeben. Würde man heute an einem Reissbrett die Flächen verteilen, dann stünde mir wohl etwa die Hälfte zu. Die Kehrseite: Im Hochsommer wird es dann auch schnell einmal 35 Grad heiss. Hier und auch im Verhandlungssaal nebenan.
Seit mittlerweile 25 Jahren stehen Sie diesem Gericht vor. Können Sie uns mal mitnehmen in das Jahr 2000? Wie haben Sie sich als 31-jähriger frischgebackener Bezirksgerichtspräsident gefühlt?
Es war natürlich ein Hochgefühl. Meine Kandidatur war auch ein Abenteuer. Wenn ich nicht gewählt worden wäre, hätte ich keinen Plan B gehabt. Ich war für diese Position sehr jung. Es war ein Sprung ins kalte Wasser. Plötzlich bist du Vorgesetzter von Kollegen, die eben noch auf Augenhöhe neben dir arbeiteten (Thurnherr war vor seiner Wahl Gerichtsschreiber in Bremgarten, Anm. d. Red.). Doch meine Kollegen haben es mir einfach gemacht. Wie mir überhaupt vieles einfach gemacht wurde über all die Zeit. Wir hatten immer tolle und kompetente Mitarbeiter am Bezirksgericht Bremgarten. Das ist nicht selbstverständlich.
Deren Anzahl hat sich in Ihrer Amtszeit von 15 auf 33 mehr als verdoppelt. Gibt es denn auch doppelt so viel Arbeit heute?
Ja, mindestens. Man könnte auch darüber streiten, ob die heutige Anzahl Stellenprozente genügt. Wir haben alle mehr als genug zu tun. Die Fallzahlen haben sich zwar nicht gleich verdoppelt, doch sie haben deutlich zugenommen. Allein durch das Bevölkerungswachstum im Bezirk von etwa 60000 auf rund 80000 ist dies quasi gegeben. Und dann kamen noch die KESB-Fälle dazu, die früher nicht in die Zuständigkeit des Bezirksgerichts fielen.
Wie viele Fälle behandelt das Bezirksgericht Bremgarten jährlich?
2024 waren es rund 4300. Wobei die reine Zahl an sich wenig über das Arbeitsvolumen aussagt. Überhaupt ist es nicht die Quantität der Fälle, welche den Mehraufwand im Vergleich zu meiner Anfangszeit ausmacht.
Vielmehr sind es Anpassungen am Rechtssystem.
Genau. Es ist heute ungleich komplizierter als damals – in fast allen Rechtsbereichen. Nehmen wir das Scheidungs- oder das Kinderunterhaltsrecht als Beispiel. Das ist so komplex geworden, dass es für einen Laien mittlerweile fast unmöglich nachzuvollziehen ist. Auch die standardmässig von den oberen Instanzen verlangte Begründungstiefe bei Urteilen hat massiv zugenommen.
Ist das Recht dadurch heute besser und gerechter?
In der Tendenz ja, bestimmt. Aber wir müssen auch aufpassen, dass wir uns als Justiz nicht in Scheingenauigkeiten verlieren. Das Recht wird nie eine exakte Wissenschaft sein. Es wird immer Interpretationsspielräume geben.
Wie hat sich die Gesellschaft und ihre Täter und Taten im vergangenen Vierteljahrhundert verändert?
(Überlegt lange.) Eigentlich nicht so sehr, wie man vermuten würde. Die Verteilung der Delikte, mit denen wir zu tun haben, ist ungefähr gleich geblieben. Mensch bleibt Mensch. Wenn es Änderungen gab, dann sind diese oft den Umständen geschuldet. Das Internet beispielsweise brachte auch das Darknet mit seinen negativen Auswüchsen, wie etwa der Verbreitung von Kinderpornografie. Teilweise ist es auch unser Umgang mit Recht und Delikten, der sich ändert. Nehmen Sie beispielsweise all die Kleinkiffer-Fälle, die heute Gott sei Dank nicht mehr alle vor Gericht landen.
Wenn Recht und dessen Handhabung sich wandelt, müssen sich auch Gerichte anpassen.
Genau. Es ist ein dauerndes Sich-neu-Erfinden. Wobei dies bereits der Beruf des Richters mit sich bringt. Kein Fall ist wie der vorherige. Das bedingt jeden Tag aufs Neue eine hohe Anpassungsfähigkeit. Neue Klippen, die es bestmöglich zu umschiffen gilt. Diese tägliche Herausforderung ist aber etwas, was ich liebe. Ich würde kein reiner Spezialist in einem Rechtsgebiet sein wollen, der immer wieder dieselbe Sache behandelt. Das hat mich nie gereizt.
Als Bezirksrichter behandeln Sie sämtliche Rechtsgebiete von Zivilüber Familien- bis hin zum Strafrecht. Ihr Alltag muss ziemlich abwechslungsreich sein.
Das ist so (lächelt). Aber er ist nicht immer so actionreich, wie man sich dies vielleicht von aussen vorstellt. Ein Grossteil meiner Arbeit besteht aus Lesen. Akten, aber auch Lehrbücher. Der Fundus davon ist in der Justiz schier unerschöpflich. Und entsprechend hat man als Richter auch nie ausgelernt.
Welche Eigenschaften braucht man als guter Richter – und inwiefern bringen Sie diese mit?
Das ist immer so eine Frage, bei der man aufpassen muss, nicht in Selbstlob zu verfallen (lacht). Aufgrund der grossen Quantität an Arbeit muss man in der Lage sein, Dinge speditiv zu erledigen. Man muss ein gewisses Mass an Entscheidungsfreudigkeit mitbringen und sich dennoch intensiv mit sämtlichen Argumenten und Faktoren beschäftigen.
Man muss teamfähig und ein Leader sein. Und absolut zentral ist ein guter und unvoreingenommener Umgang mit Menschen aller Art.
Hohe Ansprüche. Können Sie diese immer erfüllen?
Nein, natürlich nicht, auch wenn ich es immer versuche. Zu jeder Zeit diesem Idealbild gerecht zu werden, geht nicht. Das kann niemand. Doch genau deshalb ist unser Rechtssystem ja auch darauf ausgelegt, dass Richter menschlich sind und Fehler machen. Sonst bräuchte es keine Rechtsmittelinstanzen. Wobei man sagen muss, dass das Bezirksgericht eine hohe Akzeptanz hat. Nur ein ganz kleiner Prozentsatz unserer Urteile wird angefochten.
Wie verfolgen Sie jene eigenen Fälle, die vor Obergericht oder gar vor Bundesgericht landen?
Mit grossem Interesse. Nicht so, dass ich jeden Prozess verfolge. Dazu habe ich keine Zeit. Aber wenn ein Urteil da ist, werden wir als Vorinstanz informiert.
Und dann lese ich mir dieses genau durch. Es ist spannend – und gewissermassen auch ein Feedback für die eigene Arbeit.
Ärgern Sie sich manchmal, wenn Urteile einer höheren Instanz von Ihrem Verdikt abweichen?
Nein. Oft sind es in einem solchen Fall neue Erkenntnisse oder veränderte Begebenheiten, die dazu führen. Dass ein Urteil komplett umgestürzt und die Vorinstanz gerügt wird, ist sehr selten.
Ist das Schweizer Rechtssystem gerecht? Was würden Sie daran ändern, wenn Sie die Macht dazu hätten?
Ein konkretes Gesetz habe ich dabei nicht im Kopf. Generell gilt: Ich finde den Zickzackkurs nicht gut, den wir manchmal beobachten. So hat man keine Rechtssicherheit und schafft Ungleichheit. Nehmen Sie als Beispiel die Raserdelikte. Hier hat man in der Schweiz das Gesetz nach einem folgenschweren Ereignis drastisch verschärft. Seither ist man wieder am Abmildern. So ein Hin und Her ist nicht gut. Im grossen Ganzen bin ich aber zufrieden mit der Gesetzgebung und dem Prozess, der dahintersteht. Ich stünde im Zweifelsfall sicher lieber in der Schweiz vor Gericht als anderswo (lächelt).
Wie schafft man es, als Richter immer neutral zu bleiben? Und dass einem Einzelschicksale nicht nahegehen? Gerade in Strafprozessen mit schlimmen Straftaten.
Schicksale dürfen berühren. Auch uns Richter. Wir sind keine Eisklötze. Gerade wenn Kinder schlimmes Leid ertragen haben, geht auch mir das nahe. Dennoch kann man neutral bleiben. Ich bin in der Lage, dies zu abstrahieren. Was nicht heisst, dass ich nicht auch manchmal Position beziehe. Ich kann durchaus deutlich werden im Urteil, wenn ich es für angebracht halte. Wichtig ist es aber, zu allen immer korrekt zu sein. Auch zu Tätern, die mutmasslich Schlimmes begangen haben. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich diese vor Gericht in der Regel anständig benehmen, wenn sie auch anständig behandelt werden. So was spiegelt sich.
Ich stelle es mir schwierig vor, täglich mit so vielen negativen Emotionen und den Abgründen des Menschseins konfrontiert zu sein. Wie gehen Sie damit um?
Sehen Sie: Das wird überschätzt. Viel öfter als mit Unmenschlichkeit habe ich es mit Menschlichkeit zu tun. Die positiven Emotionen überwiegen klar, auch in meinem Alltag. Es ist eine Befriedigung, wenn man ein gerechtes Urteil fällen oder einen Vergleich vorschlagen konnte, mit dem alle Parteien leben können.
Erhalten Sie nach Prozessen manchmal Feedbacks von Involvierten?
Ja, das kommt durchaus öfters vor. Nicht gerade Fanpost (lacht). Einfach, dass sich jemand bedankt oder findet, dass ich mit dem nötigen Fingerspitzengefühl bei der Sache war. Aber auch negative Rückmeldungen kommen vor. Bis hin zu regelrechten Hassmails.
Hinterfragt man sich da?
Sicher. Ich überlege dann jeweils, ob ich nachvollziehen kann, weshalb sich die Emotionen an mir abarbeiten. Ob ich etwas falsch gemacht haben könnte. Aber natürlich darf man nicht zu lange darüber nachgrübeln. Ein Richter kann und darf es nicht allen immer recht machen.
Gibt es Fälle, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Ich wusste, dass diese Frage kommt, aber ich mag sie nicht so. Ich möchte keine einzelnen Prozesse herauspicken. Denn ich könnte Dutzende nennen, die auf ihre Art und Weise erinnerungswürdig und anspruchsvoll waren.
Und wenn Sie einen Fall nennen müssten?
(Überlegt.) Der Dreifachmord von Wohlen war eine grosse Herausforderung. Er fiel in meine Anfangszeit als Bezirksrichter. Ein Mann hatte im Oktober 2000 im Personalhaus eines Nachtclubs in Wohlen willkürlich drei Frauen auf brutale Art und Weise getötet. Das geht schon nah und ist gleichzeitig sehr anspruchsvoll. Nicht nur für eine adäquate Urteilsfindung, sondern auch aus Sicherheitsaspekten und wegen des Medieninteresses, das damals gigantisch war.
Wie gelingt es Ihnen, angesichts solcher Fälle zu Hause abzuschalten?
Sehr gut. Die räumliche Trennung von Wohn- und Arbeitsort hilft sicherlich dabei. In Sarmenstorf bin ich nicht der Gerichtspräsident, sondern bloss Peter. Und ich habe eine Familie und viele Freunde, die mich jeweils schnell auf andere Gedanken bringen. Ich habe auch viele Hobbys, die mich vorzüglich zerstreuen.
Zum Beispiel die Fasnacht.
Die gehört auch dazu (lacht). Wobei man als Sarmenstorfer da einfach dabei sein muss, um dazuzugehören.
Sie untertreiben. Nicht jeder erhält schliesslich eine «Goldige Söiblootere» für besonders verdiente Dorffasnächtler.
Da haben Sie wohl recht. Ich gebe es zu: Ich bin mit Leib und Seele Fasnächtler (schmunzelt).
Wie lange bleiben Sie noch Bezirksrichter?
Wenn ich richtig gerechnet habe, sind es noch neun Jahre bis zur Pension. Ich mache also gern noch eine Weile weiter – wenn ich denn weiterhin gewählt werde (schmunzelt). Sicher aber nicht länger als bis ins Pensionsalter. Wenn, dann trete ich eher früher ab. Ich hatte das Glück, meinen beruflichen Traum schon sehr früh leben zu dürfen. Im Pensionsalter werden es 34 Jahre sein. Das ist dann auch mal genug.
Auch vor Ihrem Amtsantritt vor 25 Jahren wurden Sie von dieser Zeitung interviewt. Auf die Frage nach dem Vorbild nannten Sie Nelson Mandela. Wäre dies heute immer noch so?
Das habe ich gesagt? Wirklich? Da hatte ich damals aber eine romantische Sichtweise (lacht). Heute würde ich nicht mehr so antworten. Mit einem so grossen bedeutungsvollen Namen. Ich würde nicht mehr so weit blicken. Vorbild sind für mich Leute, die ich kenne, aus meinem privaten Umfeld. Ganz viele von ihnen bringen bewundernswerte Eigenschaften mit. Vielleicht imponiert mir, wie jemand mit seinen Kindern umgeht. Oder wie gut jemand kochen kann. Man kann sich von vielen etwas abschauen, aber den idealen Menschen gibt es nicht. Wie übrigens auch den geborenen Unmenschen nicht. Wenn man dies irgendwo lernt, dann am Bezirksgericht.
Zur Person
Peter Thurnherr ist 56 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern. Er ist in Wohlen aufgewachsen und hat in Zürich Jus studiert, wo er 1996 mit dem Lizenziat abschloss. Danach arbeitete Thurnherr als Gerichtsschreiber am Bezirksgericht Bremgarten. Im Jahr 2000 kandidierte er als Nachfolger von Hansjörg Geissmann für die CVP als Bezirksgerichtspräsident und setzte sich dabei klar gegen Herausforderer Hans Ulrich Ziswiler (SVP) durch. Seither wurde er sechsmal im Amt bestätigt. Thurnherr lebt mit seiner Familie seit vielen Jahren in Sarmenstorf.