Fataler Griff zum Trostspender
28.03.2025 Region Unterfreiamt, VillmergenAbendstunde in der Oberen Mühle Villmergen zum Thema «Sucht im Alter»
Im Alter fühlen sich viele nicht mehr gebraucht, einsam und sind mit körperlichen Problemen konfrontiert. Medikamente und Alkohol lindern die Probleme. Allerdings nur ...
Abendstunde in der Oberen Mühle Villmergen zum Thema «Sucht im Alter»
Im Alter fühlen sich viele nicht mehr gebraucht, einsam und sind mit körperlichen Problemen konfrontiert. Medikamente und Alkohol lindern die Probleme. Allerdings nur kurzfristig. Was es heisst, wenn ältere Menschen in die Suchtfalle tappen, wurde an der Abendstunde aufgezeigt.
Chregi Hansen
«Sucht im Alter ist leider noch immer ein Tabuthema. Darüber spricht man nicht»: Mit diesen Worten begrüsst Geschäftsleiter Walter Cassina die Gäste in der Oberen Mühle. Den Beweis für seine Aussage hat er direkt vor sich. Noch selten war das Interesse an der öffentlichen Abendstunde so gering wie diesmal. Ist der Saal sonst meist überfüllt, dominieren heute leere Stühle. «Dieses Thema geht mich nichts an», denken wohl viele.
Dabei sprechen die Zahlen eine ganz andere Sprache. Mehr als ein Drittel der Männer über 75 Jahre konsumieren regelmässig Alkohol. Bei den Frauen ist die Zahl kleiner, sie bevorzugen eher Schlaf- und Beruhigungsmittel. Tendenz in beiden Fällen zunehmend. «Auch wir spüren die Entwicklung. Die Situation ist zwar nicht dramatisch, aber es gibt eindeutig mehr Betroffene», macht Cassina deutlich. Wie Angehörige und Institutionen auf diese Situationen reagieren können, darum geht es an diesem Abend. Auch wenn viele das Problem nicht sehen wollen, es sei eben da. Und kann für alle Beteiligten belastend sein.
Alkohol löst nur vermeintlich die Probleme
Die veränderte Lebenssituation im Alter kann das Suchtrisiko erhöhen, wie Petra Brand von der Suchtberatung in Wohlen deutlich macht. «Menschen brauchen Beziehungen, suchen nach Anerkennung. Sie möchten, dass es ihnen gut geht. Und sie wollen selbstbestimmt durchs Leben gehen», erklärt die Fachfrau. Vieles davon falle im Alter weg, darum greifen einige zur Flasche oder zu Medikamenten. «Aus ihrer Sicht ist das kein Problem – der Alkohol hilft gegen das Problem. Aber leider ist das Problem nicht gelöst», so Brand weiter.
Doch damit die Beratungsarbeit Erfolg haben kann, braucht es erst eine gewisse Einsicht. Darum muss sie mit den Betroffenen eine Beziehung aufbauen. Man könne niemanden zum Aufhören zwingen. Das müsse auch dem Partner oder der Partnerin und den Angehörigen bewusst werden, «auch wenn es manchmal schwerfällt, zuzuschauen.» Darum kümmert sich die Suchtberatung Aargau nicht nur um die Betroffenen, sondern auch um das Umfeld. So soll in Wohlen in Kürze ein Angehörigentreff gestartet werden. Wichtig sei, dass die Betroffenen etwas anderes finden, was sie glücklich macht. Es sei ein Ziel der Arbeit, herauszufinden, was dies sein könnte.
Dass man niemanden zu seinem Glück zwingen kann, das bestätigt auch Christina Meyer, Dozentin und Projektleiterin an der Hochschule Luzern. «Letztlich entscheidet die Person selbst, ob sie sich helfen lassen möchte», sagt sie. Das Problem werde verschärft, weil gerade das Trinken von Alkohol in der heutigen Gesellschaft fast dazu gehört. Zudem müssen viele ältere Menschen wegen ihrer körperlichen und psychischen Beschwerden viele, unterschiedliche Medikamente einnehmen, was zu unliebsamen Nebenwirkungen führen kann. Speziell in Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmitteln ortet die Suchtexpertin ein grosses Suchtpotenzial ein. «Der Körper gewöhnt sich mit der Zeit an die Substanz. Und braucht immer mehr davon, damit die gleiche Wirkung eintritt.»
Die neue Lebenssituation im Alter auf andere Art angehen
Bislang gibt es nur wenige Studien zum Substanz- oder Drogenkonsum im Alter, hat sich die Forschung doch meist auf Jüngere konzentriert, macht Meyer deutlich. Weil die Menschen aber immer älter werden, steigt die Gefahr, dass die Betroffenen noch lange die Auswirkungen einer Sucht spüren. «Für viele ältere Menschen gehört der Wein am Abend zur Lebensqualität. Sie oder das Umfeld verharmlosen den Konsum, indem sie sagen: Wir haben ja nicht mehr lange.» Das Problem seien nicht nur Alkohol und Tabletten, macht die Expertin deutlich. «Viele der heute älteren Menschen haben in früheren Jahren vielfältige Erfahrungen mit Drogen gemacht. Stichwort Platzspitz», so Meyer. Aber auch von einer Geldspielsucht können Senioren und Seniorinnen betroffen sein, da sie oft unter Einsamkeit leiden und das Casino als angenehmer Ort für soziale Kontakte und Wohlbefinden wahrgenommen wird.
Wichtig in der Arbeit mit solchen Personen sei es, sie für das Problem zu sensibilisieren und möglichst auch das Umfeld einzubeziehen. Es gehe um die Stärkung der Ressourcen und um das Motivieren, die neue Lebenssituation im Alter auf andere Art anzugehen. Und man müsse auch über die gesundheitlichen Risiken reden. «Im Alter reagiert der Körper anders auf solche Substanzen», so Meyer. Wobei das Ziel nicht unbedingt die Enthaltsamkeit sein muss, manchmal gehe es nur darum, die Menge und die Konsumtage zu reduzieren. Reagieren sollte man aber unbedingt dort, wo der Konsum zu einer ernsthaften Beeinträchtigung der Gesundheit und des Verlusts von Selbstständigkeit und Autonomie führt. Oder sich negative Auswirkungen für das Umfeld zeigen oder die Beziehungen leiden.
Das Personal schulen
Mit Sucht im Alter sind vermehrt auch die Mitarbeiterinnen der Spitex und des Altersheims konfrontiert. Darum werden sie an beiden Orten entsprechend geschult. «Wir haben für uns einen Verhaltenskodex und einen Leitfaden entwickelt. Es ist wichtig, dass alle im Team gleich umgehen mit solchen Situationen», sagt Karin Lachenmeier, Geschäftsführerin der Spitex am Puls in Villmergen. Oberstes Ziel sei es, die Autonomie der Klienten zu erhalten. «Wir sind nicht die Moralpolizei, wir verbieten nichts», sagt die Leiterin der Spitex. Aber man mache sich auch nicht zu Helfern. Als Haushalthilfe in Spitex-Kleidern grosse Mengen Alkohol einzukaufen oder viel Altglas zu entsorgen, das mache sich eben nicht gut.
Oft seien die Spitexmitarbeiterinnen aber die einzige Kontaktperson für bestimmte Menschen. Für einsame Menschen werde Alkohol schnell zum vermeintlichen Trostspender. Darum seien sie entsprechend aufmerksam. «Und wir bemühen uns, die Betroffenen zu anderen Aktivitäten zu ermuntern.» Ist ein gewisses Gefahrenpotenzial zu erkennen, etwa durch Mangelernährung oder Sturzgefahr, so mache man auch mal eine Meldung. «Das kommt aber zum Glück nur selten vor», sagt Lachenmeier zum Schluss.
Recht auf eigene Entscheide
Auch im Altersheim Obere Mühle beschäftigt man sich aktuell mit dem Thema. «Es geht darum, Risiken frühzeitig zu erkennen, dann kann angemessen reagiert werden», berichtet Maren Solari, stellvertretende Bereichsleiterin Pflege und Betreuung. Im Heim sei man vor allem präventiv tätig. Ein geregelter Tagesablauf und vielfältige Aktivitäten führen zu mehr Zufriedenheit und reduzieren das Suchtrisiko. Auch für Solari ist klar: «Die Bewohner haben das Recht auf eigene Entscheide, wir können niemandem sein Bier oder seinen Wein verbieten.» Aber die Mitarbeiterinnen hätten den Auftrag zur Beratung und zur Betreuung.
Aber auch konzeptuell gehe man das Thema an, macht Solari deutlich. So wurde etwa Fachwissen vermittelt oder wurden Abläufe und Zuständigkeiten geklärt. Auch kontrolliere man regelmässig die Medikamentenverordnungen oder fülle Beobachtungsbögen aus. Zudem wurden im Heim bereits verschiedene Broschüren zum Thema erarbeitet. «Wir sind dran am Thema und haben noch einiges vor in diesem Jahr», sagt denn auch Geschäftsleiter Walter Cassina. Dazu gehört auch die aktuelle Abendstunde. Auch wenn wohl viele potenziell Betroffene dem Anlass fernblieben.