Drehen im Dreivierteltakt
08.08.2023 Region Unterfreiamt, VillmergenDer Mann mit der Drehorgel
Nachweislich seit Beginn des 18. Jahrhunderts ist die Drehorgel in allen Ländern Europas als Instrument der Strassenmusiker und Gaukler, aber auch als Kirchen- und Saloninstrument bekannt. Einer, welcher die Geschichte und Funktionsweise ...
Der Mann mit der Drehorgel
Nachweislich seit Beginn des 18. Jahrhunderts ist die Drehorgel in allen Ländern Europas als Instrument der Strassenmusiker und Gaukler, aber auch als Kirchen- und Saloninstrument bekannt. Einer, welcher die Geschichte und Funktionsweise des Instruments genau kennt, ist der Villmerger Hans Schmid.
Der Villmerger Hans Schmid ist ein Experte in Sachen Drehorgeln
1978 entdeckte er in einem Laden erstmals eine Drehorgel und durfte sie spielen. Damit wurde eine Liebe entfacht, die nie mehr endete. Der pensionierte Schreinermeister baute eine eigene Orgel und hat schon Hunderte repariert. Er weiss fast alles, was man über dieses Musikinstrument wissen kann.
Chregi Hansen
Eine 20er-, 31er- oder doch lieber eine 45er-Orgel? Notenbandsteuerung oder Memory? Welches Holz wird wo verbaut? Wie werden die Basspfeifen am besten gekröpft? Und in welcher Stellung dreht man die Kurbel am besten, damit die Geschwindigkeit stimmt und man trotzdem nicht ermüdet?
Zu all diesen Themen kann Hans Schmid Auskunft geben. Und er tut es gerne. «Meine Frau sagte einmal, ich rede mehr über die Drehorgeln, als dass ich sie spiele», erzählt der 76-Jährige schmunzelnd, während er den Besucher in seine kleine Werkstatt im Keller der Schreinerei führt. Zwar hat er die Schreinerei längst seinem Sohn übergeben, er selber schaut aber regelmässig vorbei und arbeitet an seinen Drehorgeln. «Es ist natürlich toll, dass ich hier weiterhin vor mich hin werkeln kann. Irgendwas muss man als Pensionierter ja machen», lacht er.
Simples Konzept immer weiterentwickelt
Schmid weiss, dass er ein sehr spezielles Hobby pflegt. Aber er versteht es meisterhaft, die eigene Faszination für dieses Instrument anderen zu vermitteln. «Es ist weniger die Musik als vielmehr die Technik, die mich fasziniert», sagt der Villmerger. Eine Technik, die sich in den vergangenen mehr als 300 Jahren in ihren Grundzügen kaum verändert hat, auch wenn die Modelle immer ausgeklügelter werden. Und inzwischen sogar die Elektronik Einzug hält. Nach wie vor wird mithilfe eines Schwungrades ein Blasbalg betrieben, der die Luft, den sogenannten Wind, in die Orgelpfeifen presst. Das gleiche Rad treibt auch das Lochband an, auf dem festgehalten ist, welche Ventile wann wie lange geöffnet sind. «Es ist eigentlich ein sehr simples Konzept. Dies aber in einen so kleinen Kasten einzubauen, das braucht viel Geschick und Planung», erklärt der Schreiner. «Und Zeit», wie er lachend anfügt.
Mehr als 2500 Stunden gebraucht
Der Villmerger hat vor gut 20 Jahren eine eigene Drehorgel gebaut. Aber nicht irgendeine, sondern gleich eine grosse Konzertorgel. Eine 45er-Orgel mit 106 Pfeifen und acht Registern, davon fünf schaltbar. Eine Eigenkonstruktion, die er zusammen mit zwei Kollegen entwickelt hat. «Einer war Ingenieur, einer kam vom Metallbau und ich hatte Ahnung vom Holz», berichtet Schmid. «Jeder konnte sein Wissen einbringen. Und wenn wir nicht weiterwussten, konnten wir einen gelernten Orgelbauer um Rat fragen.» Zwei Jahre dauerte allein die Planung, mehr als 2500 Stunden dann der Bau, bis alle drei Drehorgeln fertig waren. Entsprechend stolz ist Hans Schmid über das Ergebnis. Aktuell arbeitet er an einer kleineren Orgel. Daneben repariert er im Auftrag der Firma Deleika kaputte Instrumente. «Es gefällt mir, die alten Instrumente wieder instand zu setzen. Aber so langsam muss ich diese Aufgabe wohl abgeben», bedauert er.
Vom Fricktal her ins Freiamt gekommen
Noch ist es nicht so weit. In seiner Werkstatt hat er die verschiedenen Einzelteile fein säuberlich sortiert. Viele Elemente stellt er auch selber her. «Nicht immer klappt alles im ersten Anlauf», gibt er zu und holt als Beweis einen nicht verwendbaren Ventildeckel aus einer der vielen Schubladen. Fortwerfen kommt aber nicht infrage, die einzelnen Teile können allenfalls wieder verwendet werden. Vieles, was er über Drehorgeln weiss, hat er sich selbst erarbeitet und angelesen. Vieles musste er auch durch Ausprobieren herausfinden. Etwa, worauf man beim Fräsen eines Labiums achten muss und wie man die Pfeifen am besten stimmt. Er ist einer, der gerne pröbelt und stundenlang an einem Detail feilt. «Es kommt beim Klang auf die kleinsten Feinheiten an», weiss er.
Dass er einmal zum Experten für Drehorgeln werden würde, hätte sich der gebürtige Fricktaler wohl selber nie vorstellen können. Nach seiner Lehre und verschiedenen Weiterbildungen erhielt er 1978 die Möglichkeit, die Drechslerei Müller in Villmergen zu übernehmen und sich selbstständig zu machen. «Die Drechslerei hatte vorwiegend Klavierstühle hergestellt und an die grossen Musikhäuser geliefert. Ich habe das eine Zeit lang weitergeführt. Bei einer der Auslieferungen bin ich in einem Musikhaus auf eine Drehorgel gestossen und war sofort fasziniert», schaut er auf die Anfänge zurück. Für ihn, der früher Trompete gespielt hat, war sofort klar: Eine solche Orgel will er selber bauen. Zeit dafür fand er aber erst rund 20Jahre später.
Hansdampf in allen Gassen
Als Erstes nahm er damals eine alte Drehorgel komplett auseinander, um sie zu verstehen. Seither nehmen diese Instrumente einen grossen Teil seiner Zeit ein. Schmid repariert und baut Drehorgeln, er gibt Kurse, berät Kunden, tritt gerne und regelmässig auf und tauscht sich intensiv mit anderen Drehorgelfreunden aus. «Es ist einfach ein faszinierendes Instrument», wiederholt er. Wobei sich der Klang der Orgeln völlig unterscheiden kann. «Darum ist es auch fast unmöglich, zu zweit zu spielen. Selbst wenn man über das gleiche Notenband verfügt», sagt er.
Auch über die verschiedenen Bänder weiss er bestens Bescheid. «Nicht jedes passt in jede Orgel. Das wissen viele leider nicht und kaufen dann die falschen», erklärt er. Bei Preisen von rund 100 Franken für eine Rolle mit jeweils drei Liedern ein teurer Fehlgriff. Früher wurden diese Bänder noch von Hand gestanzt – auf ihnen ist quasi programmiert, wann welche Ventile geöffnet und welche Pfeifen angesteuert werden. «Die Tonskala ist je nach Instrument verschieden, darum muss jedes Lied speziell für jedes Modell arrangiert werden», weiss Schmid. Heute erfolgt die Herstellung computergesteuert. Inzwischen gibt es sogar elektronische Speicherchips, die dann bis zu 300 Lieder umfassen. «Das betrifft allerdings nur die Steuerung der Pfeifen, das Spielen ist und bleibt aber Handarbeit», betont Schmid.
Im Engadin sogar Wiener Walzer gespielt
Inzwischen ist man im Ausstellungsraum im Obergeschoss angekommen. Hier demonstriert der pensionierte Schreinermeister den Klang seiner verschiedenen Drehorgeln. Dazu muss er die Türen schliessen, gleich daneben befindet sich das Büro der Schreinerei. Schmid fordert sein Gegenüber auf, es selber zu probieren. «Gar nicht so schlecht. Du könntest das», so sein Kommentar. An der Wand hinter ihm hängen Zeitungsausschnitte und Bilder von seinen Auftritten. Etwa vom Drehorgeltreffen im Engadin. Da wurden an einem Abend verschiedene Stücke der berühmten Komponisten-Dynastie Strauss aus Österreich gespielt. Quasi also Wiener Walzer via Walze, wobei die ursprüngliche Walze der Drehorgeln längst dem Notenband gewichen ist. «Es ist erstaunlich, wie viele verschiedene Musikstücke es für diese Instrumente gibt», sagt Schmid mit einem Leuchten in den Augen.
Auch wenn er gern und oft auftritt, gerade auch in Altersheimen, wo die Bewohner den Klang besonders schätzen, die wahre Passion ist das Bauen und Basteln an den Instrumenten. Er ist ein Perfektionist, der an jedes Detail denkt. So hat er für seine Orgel extra eine Schublade gebaut, damit er unter dem Instrument die Bänder lagern kann. Als Schreiner fallen ihm solche Arbeiten leicht. Aber er hat auch die Räder des Wagens neu gemacht, damit er sie aufpumpen und so leichter transportieren kann. Auch der Griff und die Kurbel wurden speziell angefertigt. «Die grosse Konzertorgel ist 80 Kilo schwer, da muss man sich schon überlegen, wie man sie von A nach B bringt», lacht er.
Noch mehr Zeit fürs Hobby
Hans Schmid könnte vermutlich noch stundenlang erzählen. In Villmergen schätzt man ihn und sein Instrument. «Ich bin nach dem Umzug hierher der Feuerwehr beigetreten, damit war ich schnell im Dorf integriert», erzählt er. Und seine Frau hat lange einen Geschenkladen geführt. «So hatten wir beide unsere Passion. Sie ihren Laden, ich meine Drehorgeln», grinst er. Und seit der Sohn das Geschäft führt, kann er sich seinem Hobby noch mehr widmen. «Es ist einfach schön, wenn man erlebt, wie der Klang einer Drehorgel Freude in die Gesichter der Zuhörer zaubert», sagt er. Und beginnt als Beweis ein neues Stück zu spielen.