Der Gentleman der Politik
17.10.2025 Wohlen, PolitikDer Einwohnerrat wird 60 Jahre alt: Alois Lütolf war Mitglied des ersten Parlaments und zweiter Ratspräsident
Vor 60 Jahren wurde in Wohlen erstmals der Einwohnerrat gewählt. 158 Kandidaten auf neun Listen strebten einen der 40 Sitze an. Alois Lütolf ...
Der Einwohnerrat wird 60 Jahre alt: Alois Lütolf war Mitglied des ersten Parlaments und zweiter Ratspräsident
Vor 60 Jahren wurde in Wohlen erstmals der Einwohnerrat gewählt. 158 Kandidaten auf neun Listen strebten einen der 40 Sitze an. Alois Lütolf war einer der Jungpolitiker. Der damals 32-Jährige realisierte das beste Resultat, wurde Vize und ab 1968 Einwohnerratspräsident. Der Mann der ersten Stunde erinnert sich.
Daniel Marti
«Das war alles längst nicht so grossartig wie heute», sagt Alois Lütolf, wenn er an den Wahlkampf, an das Ergebnis und die Wahlanalyse im Jahr 1965 zurückdenkt. Er war damals als Jungpolitiker aktiv dabei, als in Wohlen am 5. Dezember 1965 die erste Zusammensetzung des Einwohnerrates gewählt wurde. Für ihn persönlich war es dennoch ein grossartiger Start in die Politlaufbahn. Lütolf erzielte das beste Ergebnis, übertraf als einziger Kandidat die Marke von 1000 Stimmen. Und an der Sitzung vom 10. Januar 1966 wurde er zum ersten Vizepräsidenten gewählt. In den Jahren 1968 und 1969 amtete er als Nachfolger von Theo Burkard als Einwohnerratspräsident. Alois Lütolf kennt also die Entstehung und die 60-jährige Geschichte des Wohler Einwohnerrats wie kein Zweiter.
Eine Ehre und eine Art Genugtuung
Er engagierte sich für die Einführung des Einwohnerrates, weil er damals ein Dorfparlament einfach für «eine gute Sache» hielt. «Dafür wurde ich auch gleich aufgefordert, für das Parlament zu kandidieren», hält er fest. Diverse Personen der Christlich-Sozialen Partei (damals CSP, heute Mitte) wünschten sich seine Kandidatur. «Dabei war ich ja einer der Jüngeren», wie er heute erklärt. Alois Lütolf (geboren am 10. Dezember 1933) stieg also als 32-Jähriger gezielt in die Politik ein. Und er bereute es nie.
Eine Wahlfeier habe es damals im Dezember 1965 übrigens nicht gegeben. Eben, so grossartig wie heute war das Politleben noch nicht. Dafür war es zielgerichtet. An die erste Einwohnerratssitzung im Januar 1966 erinnert er sich noch gut. Theo Burkard von der FDP war als erster Ratspräsident praktisch gesetzt. «Er war erfahrener, bekannter und älter als ich», erklärt er, «und vielleicht war er auch gescheiter», schickt er mit einem Lächeln hinterher. «Und das war gut so. Theo Burkard hat es sehr gut gemacht. Und ich war ja praktisch noch ein Anfänger.»
Vizepräsident im ersten Einwohnerrat von Wohlen und dann zwei Jahre später Einwohnerratspräsident – das sei ja genug der Ehre gewesen. «Und es war auch eine Art Genugtuung für mich.» Die Eltern, sie zogen einst von Schongau nach Wohlen, hatten jedenfalls grosse Freude und waren stolz auf ihren Sohn. «Der Junge macht etwas», hat es ringsherum geheissen.
Der junge Notar entwickelte sich, trug kräftig dazu bei, dass im Dorf die Gesellschaft geeint wurde. «Denn es wurde damals stark darauf geachtet, in welchem Turnverein man aktiv und wie streng man katholisch ist», erinnert er sich. Als guter Leichtathlet und Turner, der viele Kränze nach Wohlen brachte, war seine Stimme rasch anerkannt. Und so gab es auch Mehrheiten für die wichtigen Geschäfte. Die Badi, sie wurde 1967 eröffnet, und das Schulhaus Bünzmatt waren die grossen Themen zu Beginn des Einwohnerrates. «Die Wichtigkeit dieser dominanten Bauten wurde erkannt», und von der Wohler Politik gesamtheitlich gestützt.
Mit Monti-Gründer in der gleichen Partei
Wohlen dachte in den Sechzigerjahren laut Lütolf fortschrittlich. «Aber der Einwohnerrat hatte nicht immer viel zu sagen», räumt er ein, «der Gemeinderat betrachtete sich selber als viel wichtiger.» Dies hatte wohl auch seinen Grund: Der damalige Gemeindeammann Karl Albert Kuhn, KAK, war ursprünglich gegen die Einführung des Einwohnerrates, trotzdem arrangierte er sich.
Je zwei Jahre Vizepräsident und Einwohnerratspräsident in einer Zeit, wo sich alles erst einpendeln musste, das war anspruchsvoll. Er habe das aber nicht als Last empfunden, sagt Alois Lütolf heute. «Wir haben alles zuerst erfahren müssen. Die Last kam erst später, wir mussten uns zuerst behaupten.» Und oft habe es eine Rolle gespielt, aus welchem Elternhaus die jungen Politiker stammten oder welchem Turnverein sie angehörten – auf diesen beiden Schienen haben sich die Kreise der politischen Gegner und Gleichgesinnten ergeben.
Die FDP stellte mit elf Mitgliedern in der ersten Amtsperiode, 1966 bis 1969, die grösste Fraktion. Bekannte Namen wie Theo Burkard, der Strohindustrielle Rudolf Isler, der spätere Gemeindeammann Rudolf Knoblauch, Bezlehrer Anton Wohler, Architekt Hans Wyder oder Apotheker Emil Külling prägten den Freisinn. Die Katholisch Konservative Partei brachte es auf neun Mitglieder mit Persönlichkeiten wie Willy Bächer, Otto Braunwalder, Kasimir Meyer, Paul Kuhn oder Otto Notter. Die Christlich-Soziale Partei kam auf fünf Sitze. Werner Dubler, Herbert Koch, der spätere Gemeinderat Viktor Kuhn und der spätere Gründer des Circus Monti Guido Muntwyler waren die Einwohnerrats-Parteikollegen von Alois Lütolf. «Wir alle waren sehr aktiv bei der CSP dabei und wir hatten Kollegen bei der FDP und bei den Katholisch Konservativen. Oft stand das Turnen an erster Stelle. Bei grossen Themen war aber die Politik wichtiger.»
Voller Bescheidenheit Richtung Grossrat
Politische Grabenkämpfe wie heute gab es laut Lütolf in den Sechzigern (noch) nicht. Das habe wohl auch mit der Stellung des Dorfparlaments zu tun gehabt. Man habe sich nicht ganz so wichtig genommen wie heute, blickt er zurück. Und der Höchste im Dorf, also der Einwohnerratspräsident, habe kaum eine besondere Rolle gespielt. «Auch das kam erst später.»
Alois Lütolf war in der kommunalen Politik rasch anerkannt. Logisch, dass er bald für Grösseres in den Fokus rückte. Grossrat war der nächste Schritt. Für ihn ging der Steigerungslauf allerdings fast zu schnell. «Ich hatte ja gar nicht so viel geleistet», sagt er voller Bescheidenheit. Aber offenbar machte er das, was er anpackte, eben gut, grundsolide und zuverlässig.
«Der Harry macht das gut»
Im Einwohnerrat blieb er zwei Amtsperioden, von Anfang 1966 bis Ende 1973. Vier Jahre lang stellte er sich einer Doppelbelastung als Einwohnerrat und Grossrat. Denn 20 Jahre lang gehörte er dem Kantonsparlament an – vom 1. April 1969 bis am 31. März 1989. Dabei war er auch Mitglied von wichtigen und ständigen Kommissionen: Justizkommission, Geschäftsprüfungskommission (1977 bis 1985) und Staatsrechnungskommission. Und er wirkte von 1970 bis 1982 in insgesamt neun Spezialkommissionen mit. Zu jener Zeit sei im Grossen Rat viel gearbeitet und weniger diskutiert worden, erinnert er sich.
In dieser Grossratsphase wurde Lütolf auch schon mal als Gemeinderatskandidat gehandelt. «Aber alles miteinander, das geht nicht», so Lütolf. Beruf, Familienvater, Vizepräsident im Turnverein und Grossrat, damit war er mehr als ausgelastet, darum stand er als Gemeinderatskandidat nicht zur Verfügung. Und später kam noch das Präsidium der Donatorenvereinigung des FC Wohlen hinzu. Damit, so findet er, habe er sich genügend für die Allgemeinheit und die Gesellschaft eingesetzt. Stimmt.
Alois Lütolf erlebte eine 60-jährige Zeitspanne der Wohler Politik – von der guten Idee, ein Dorfparlament einzuführen, bis zur heutigen Aktualität. Er verfolgt das Geschehen des Einwohnerrates nach wie vor mit viel Interesse. Aber jede überflüssige Diskussion mache er nicht mehr mit. «Es kommt immer auf das Thema an», erklärt er.
Und dann hat er ja noch seinen Sohn Harry, der starke Mann der Mitte Wohlen. Harry Lütolf ist Einwohnerrat und Grossrat, wie einst sein Vater. «Der Harry macht das gut», so Alois Lütolf, «und wenn das nicht der Fall wäre, würde ich schon auch Kritik üben.» Allerdings nicht in der Öffentlichkeit, das wäre dann Familiensache.
Ins Gewissen geredet
Gross zu Wort meldet sich Lütolf zur Politik nicht mehr. Das sei vorbei, sagt er. Letztmals hatte er vor zehn Jahren einen bedeutungsvollen Auftritt. Anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des Einwohnerrats am 14. Dezember 2015 blickte er zurück und stellte interessante Vergleiche an. Das Klima im Rat sei nicht mehr so gut wie damals, «es ist von Neid, Missgunst und Rache die Rede» und es werde zu oft auf den Mann gespielt. Alles sei früher auch nicht rosig gewesen, erinnerte sich Lütolf. Neun Jahre nach der Einführung wollten ein paar Personen per Initiative den Einwohnerrat wieder abschaffen. «Das Volk schmetterte die Initiative aber hochkantig ab.» Lütolf blickte vor zehn Jahren souverän nach vorne. Wohlen stehe vor grossen Herausforderungen, «vor Problemen, die gelöst werden müssen», vor allem beim Schulraum. Da lag er vor einem Jahrzehnt genau richtig.
Letztlich redete er im Dezember 2015 der Politgilde auch ins Gewissen: «Es sollte wieder mehr sachbezogen politisiert werden», lautete sein Ratschlag damals. Bei dieser Feststellung hätte er selbst als gutes Beispiel genannt werden dürfen. Denn eines hat er während seiner Politlaufbahn nie akzeptieren können: persönliche Angriffe. Die habe er nie leiden können, «die braucht es einfach nicht». Alois Lütolf war eben nicht nur Politiker, Notar und Familienmensch, sondern immer auch Gentleman.