Den schwierigen Weg gewählt
27.09.2024 Region Unterfreiamt, SarmenstorfDie Sache mit der Herkunft
Lilo Baur aus Sarmenstorf wird mit dem Hans-Reinhart-Ring 2024 ausgezeichnet
Das Freiamt ist ins Blickfeld des Bundesamtes für Kultur geraten. Letztes Jahr gab es für den Circus Monti einen Schweizer Preis ...
Die Sache mit der Herkunft
Lilo Baur aus Sarmenstorf wird mit dem Hans-Reinhart-Ring 2024 ausgezeichnet
Das Freiamt ist ins Blickfeld des Bundesamtes für Kultur geraten. Letztes Jahr gab es für den Circus Monti einen Schweizer Preis Darstellende Künste. Nun geht sogar der Hauptpreis in unsere Region.
Chregi Hansen
Die Preisbezeichnung ist etwas sperrig. «Schweizer Grand Prix Darstellende Künste / Hans-Reinhart-Ring» nennt sich die Auszeichnung ganz korrekt. Wichtiger ist wohl die Bedeutung des Preises. Der Hans-Reinhart-Ring gilt als höchste Auszeichnung im Theaterleben der Schweiz. Und die geht in diesem Jahr also nach Sarmenstorf.
Das werden viele im Dorf gar nicht realisiert haben. Zum einen hat Lilo Baur ihre Heimat vor 44 Jahren verlassen, war lange eine Globetrotterin und lebt heute in Südfrankreich. Zum anderen war in der Pressemeldung zur Preisvergabe von «Lilo Baur aus Muri» die Rede – und dies wurde in der ganzen Schweiz so verbreitet. «Das hat mich schon auch gewundert», gibt die Preisträgerin zu. Muri sei lediglich der Geburtsort, aufgewachsen ist sie in Sarmenstorf. Und dort kennen sie die meisten weniger als Schauspielerin und Regisseurin, sondern als Nichte des Schnyderli-Toni. Das inzwischen verstorbene Dorforiginal, das im richtigen Leben Anton Köchli hiess, war eine prägende Figur der Sarmenstorfer Fasnacht. Und im Dorf vermutlich bekannter als seine Nichte.
Etliche im Dorf haben es dennoch gemerkt, dass eine von ihnen einen so renommierten Preis gewonnen hat. Gemeindeammann Meinrad Baur (gleicher Name, aber nicht verwandt) hat sofort auf die falsche Ortsbezeichnung aufmerksam gemacht. Auch alte Freunde von ihr haben sich darüber geärgert. Die Geehrte selbst nimmt es gelassen. «Ich habe in der Schweiz nicht den gleichen Bekanntheitsgrad wie in Frankreich und England», weiss sie. Umso mehr freut sie sich, dass sie nun in ihrer alten Heimat ausgezeichnet wird. Auch wenn ihr der Rummel um die Preisvergabe fast etwas zu viel wird. «Ich habe derzeit ganz viel Arbeit und nur beschränkt Zeit für die ganzen Medienanfragen», erklärt die 66-Jährige. Für die Preisübergabe wird sie sich aber Zeit nehmen. Und die Gelegenheit nutzen, um ihre alten Freunde zu treffen. Die zumindest wissen alle, dass sie aus Sarmenstorf stammt und nicht aus Muri.
Lilo Baur aus Sarmenstorf erhält den Schweizer Grand Prix Darstellende Künste / Hans-Reinhart-Ring 2024
Es ist die wichtigste Auszeichnung der Schweiz im Bereich der Bühnenkünste. «Ich bin überrascht und berührt, dass ich sie dieses Jahr erhalte», sagt Lilo Baur. Überrascht, weil sie die Schweiz mit 22 Jahren verlassen hat. Berührt, weil es der Lohn für viele Jahre harte Arbeit ist.
Chregi Hansen
«Als ich telefonisch vom Preis erfuhr, habe ich sofort an meine Eltern gedacht. Es wäre so schön gewesen, wenn sie das noch erlebt hätten», sagt Lilo Baur. Zwar hätten sich die Eltern ihrem Berufsweg nicht in den Weg gestellt, aber sie hatten lange gezweifelt, ob man von der Schauspielerei leben kann. Später waren sie oft dabei bei den grossen Premieren ihrer Tochter. Und entsprechend stolz.
Stolz ist man jetzt in Sarmenstorf über die Preisgewinnerin. Auch wenn viele sie wohl gar nicht mehr kennen. Mit 22 Jahren hat Lilo Baur das Freiamt verlassen und ist nach Paris gezogen. Und seit ihre Eltern gestorben sind, ist sie nicht mehr oft in ihrer alten Heimat. Ihr Lebensmittelpunkt liegt heute im Süden von Frankreich. Ab und zu kommt sie aber für Kurse und Workshops nach Lausanne, dann macht sie gern einen Abstecher ins Freiamt. Besucht alte Freunde. Hilft bei der Arbeit im Wald mit. «In meinem Beruf ist man meist in Räumen ohne Tageslicht. Ich liebe es darum, an der frischen Luft zu sein», sagt Lilo Baur. «Das nährt mich.»
Das Nein-Sagen üben
Sarmenstorf sei ihre Heimat, betont sie. Und wundert sich sehr, dass in all den Pressemeldungen zur Preisverleihung von Lilo Baur aus Muri die Rede ist. «Ich bin zwar im Spital Muri geboren. Aber aufgewachsen bin ich Sarmenstorf», macht sie deutlich. Hier hat sie ihre Wurzeln. Und obwohl sie lange in Grossstädten wie London und Paris gelebt hat, trage sie das Ländliche noch in sich. Gerne erinnert sie sich an das Leben im Dorf. «Wir kannten als Kinder keine Langeweile, haben uns ständig draussen getroffen zum Spielen», erzählt sie. So hätten sie beispielsweise damals gerne die TV-Sendung «Spiel ohne Grenzen» nachgespielt. «Weil wir nur wenig hatten, mussten wir unsere Fantasie nutzen. Heute greifen die Jungen einfach zum Handy, wenn es ihnen langweilig ist.»
Die Verbindung ins Freiamt ist also geblieben, auch wenn Lilo Baur zeitlebens eine Globetrotterin war. «Ich war da zu Hause, wo wir mit unseren Produktionen zu Gast waren.» Frankreich, England, aber auch Südamerika, Australien oder Griechenland. Ihrem Beruf hat sie vieles untergeordnet. Manchmal fast zu viel. «Ich muss jetzt im Alter lernen, Nein zu sagen», erzählt sie am Telefon. Wobei sie nur kurz Zeit hat. Denn der nächste Auftrag wartet, Lilo Baur ist Mitglied der Jury für den Liliane-Bettencourt-Preis und muss nach dem Telefongespräch sofort nach Paris. Das mit dem Nein-Sagen muss sie eben noch üben.
Aktuell vergibt die Sarmenstorferin also einen Preis. Ende Oktober darf sie selbst einen entgegennehmen. Lilo Baur erhält den diesjährigen Schweizer Grand Prix Darstellende Künste / Hans-Reinhart-Ring. Mit dieser Auszeichnung würdigt das Bundesamt für Kultur die vielseitige Bühnenkünstlerin und erfolgreiche Auslandschweizerin. Trotz ihres vollen Terminkalenders wird sie an der Feier in Zug teilnehmen. «Es freut mich und berührt mich sehr, dass ich ausgezeichnet werde. Ich hatte immer das Gefühl, dass man mich in der Schweiz gar nicht so richtig kennt», sagt sie.
Schöne Erinnerungen an die 1.-Klässler in Boswil
Der Hans-Reinhart-Ring gilt als höchste Auszeichnung im Theaterleben der Schweiz. Lilo Baur hat viele berühmte Vorgänger. Dimitri hat den Ring erhalten, Schauspieler wie Anne-Marie Blanc, Bruno Ganz und Matthias Gnädinger, aber auch Regisseure wie Christoph Marthaler oder Luc Bondy. Und nun also Lilo Baur. Sie freut sich sehr über die Anerkennung. Und sie hofft, dass die Auszeichnung an sie auch andere inspiriert. «Es zeigt, wohin man mit Leidenschaft und Durchhaltewillen kommen kann und wie wichtig es ist, dranzubleiben.»
Der Preis ist der Schauspielerin und Regisseurin nicht in den Schoss gefallen. Es hat lange gedauert, bis Lilo Baur Erfolg hatte. «In der Anfangszeit habe ich sehr viele Nebenjobs angenommen, um Geld zu verdienen. Sass in der Migros an der Kasse. Machte Nachtwache im Altersheim. Alles mit dem Ziel, Schauspielerin zu werden», schaut sie auf die Anfänge zurück. Zuvor hat sie dem Vater zuliebe noch eine Ausbildung zur Lehrerin gemacht, «er wollte, dass ich ein Diplom habe, falls es mit der Schauspielerei nicht klappt», erzählt die Preisträgerin. Ein Jahr lang hat sie dann an der Schule Boswil eine 1. Klasse unterrichtet. Sie erinnert sich gern daran zurück. «Diese Kinder hatten so viel Energie und Fantasie, das war fantastisch.» Heute ist sie froh über den von den Eltern angeordneten Umweg, die Zeit am Lehrerseminar hat sie in guter Erinnerung. «Wir haben uns mit Musik, Sport und Literatur beschäftigt, das hat mir alles geholfen später.»
Der Schauspielerei fast alles untergeordnet
Doch trotz der positiven Erfahrung als Lehrerin war für sie immer klar: «Ich will auf die Bühne.» Eigentlich als Tänzerin. Weil dies nicht klappte, besuchte sie eine Theaterschule in Paris. Später tourte sie mit verschiedenen Ensembles durch Frankreich und die USA. Auch hier musste sie durch die harte Schule. «Wenn an einem Gastspielort nur wenige Tickets verkauft wurden, haben wir manchmal am Nachmittag Strassentheater gemacht, um Leute anzulocken. Das war nicht immer einfach, denn nicht alle haben Freude gehabt, wenn wir vor einem Restaurant gespielt haben.» Aufwärts ging es dann, als sie Mitglied der Theatergruppe Complicité wurde. «Es war eine unglaubliche Zeit, wir haben so viel ausprobiert, was heute kaum noch möglich wäre», erinnert sich Baur. In London spielte sie in Shakespeare’s Globe Theater und am Royal National Theatre, in Frankreich sah man sie unter anderem am Théâtre de Nice und vielen weiteren grossen Theaterhäusern.
Viele Jahre hat sie der Schauspielerei fast alles ungeordnet. Stand nicht nur auf der Bühne, sondern auch vor der Kamera. Hatte Rollen in bekannten BBC-Serien und Filmen wie «Vollmond» (von Fredy Murer), «Don Quixote» oder «Hell». Am meisten angesprochen wird sie aber auf einen Kurzauftritt in «Bridget Jones», in dem sie eine Apothekerin spielt. «Ich bin vielleicht zwei Minuten zu sehen», lacht sie. Die Arbeit von Film und Theater würden sich stark unterscheiden, erklärt sie. «Im Film bin ich als Schauspielerin komplett ausgestellt, muss jede Geste und jede Mimik präzis sitzen, ist alles auf mich fokussiert.» Sie selbst fühlte sich auf der Bühne wohler. Auch wenn dies mit sich brachte, immer wieder an neuen Orten zu leben und auf Tour zu gehen.
Vieles verpasst im Leben, das ist die Kehrseite der Medaille
Heute arbeitet sie vor allem als Theater- und Opernregisseurin an grossen Häusern wie der Comédie-Française oder der Opéra-Comique in Paris. Der Wechsel von der Bühne hinter die Kulisse erfolgte nach einem besonderen Erlebnis. «Als eine gute Freundin von mir starb, hatte ich gerade ein Engagement. Ich konnte darum nicht an die Beerdigung. Dafür habe ich die Totenwache übernommen. Und dabei wurde mir bewusst, wie viel ich im Leben verpasse, weil ich terminlich gebunden bin: Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen und viele andere wichtige Momente. Da wusste ich, dass ich etwas ändern muss.»
Ganz so einfach war der Wechsel nicht. «Als Regisseurin habe ich viel mehr Verantwortung. Muss mich um alle Bereiche einer Inszenierung kümmern. Vorher war ich quasi eine Angestellte, jetzt führe ich eine Firma.» Die Intensität der Arbeit sei geblieben, aber sie sei zeitlich begrenzt. «Wenn die Premiere erfolgt ist, kann ich wieder loslassen und mich um Neues kümmern», sagt Lilo Baur. Auch in ihrer neuen Funktion hat die Sarmenstorferin Erfolg. Für ihre Regiearbeit wurde sie bereits für einen Molière nominiert, den nationalen Theaterpreis Frankreichs. Aktuell sind gleich zwei ihrer Inszenierungen in Paris zu sehen. In der Comédie-Française die Komödie «L’Avare» (Der Geizige) von Molière, in der Opéra-Comique die Oper «Armide». Wobei die Schweizerin inzwischen auch den finanziellen Druck spürt, der den Kulturbereich erfasst hat. «Ich musste für die neue Inszenierung von ‹Armide› das gleiche Bühnenbild verwenden wie in einer früheren Version», berichtet sie.
Ihr Ziel: Die Jungen fürs Theater begeistern
Das Theater habe nicht mehr den gleichen Stellenwert wie früher, ist ihr bewusst. Umso wichtiger findet sie es, dass man die Jungen an die Kultur heranführt. So lädt Lilo Baur oft Schulklassen oder auch Jugendliche aus der Banlieue zu Proben und Vorstellungen ein und holt sich danach ihr Feedback ab. «Es ist spannend zu hören, wie sie das erleben», sagt sie. Sie würde sich auch wünschen, dass in den Schulen wieder mehr Theater gespielt wird. Überhaupt: Jung und Alt sollte wieder mehr zusammenkommen. So, wie sie es in Griechenland erlebt hat, wo sie einige Zeit lebte. «Da wird gemeinsam gefeiert, und danach gehen alle wieder ihre Wege. Aber für eine gewisse Zeit spielt das Alter keine Rolle.»
Sie selbst ist in einem Alter, in dem sie in den meisten Berufen schon pensioniert wäre. 66 Jahre wurde sie in diesem Frühling. Aber ans Aufhören denkt die Sarmenstorferin noch nicht. «Eigentlich möchte ich weniger machen. Aber das ist die Kehrseite der Medaille, wenn man Erfolg hat. Man erhält immer wieder neue Angebote», sagt sie. So wie früher könne sie aber heute nicht mehr arbeiten. «Da haben wir oft wochenlang durchgearbeitet, waren zeitweise völlig ausgepowert.» Das gehörte mit zum anspruchsvollen Weg, den sie gewählt hat. Umso mehr freut sie sich nun auf die Auszeichnung. Und auf die Verleihung in Zug – die ideale Gelegenheit für einen Trip in ihre alte Heimat und das Wiedersehen mit ihren Freunden aus alten Tagen. Und spätestens dann werden wohl alle wissen, dass sie Sarmenstorferin ist. Und nicht Murianerin.
Aus dem Jurybericht
«Lilo Baur ist eine Reisende über weite Distanzen und eine Liebhaberin mit grossem Herzen. Sie wird im Aargau geboren, lässt sich in Paris ausbilden und erhält schliesslich in England einen Schauspielpreis. Danach wechselt sie in die Regie und wandert in den 2000er-Jahren nach Frankreich weiter, wo sie 2020 mit der Nominierung für einen «Molière» gewürdigt wird. Sie wird in verschiedene europäische Länder und kürzlich nach Japan eingeladen. Auf ihren Reisen verliert sie aber nie ihre Seelenlandschaft aus dem Blick, ganz wie der kleine Prinz: «Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.» Es ist bemerkenswert, wie sehr Lilo Baurs Kreationen vom zentralen Thema des Liebesgefühls geprägt sind. Bei Marcel Aymé, Molière und Feydeau sowie kürzlich in Lullys Oper «Armide» oder ausgehend von Ettore Scolas Filmschaffen erforscht sie auf der Bühne die Liebe in allen ihren Zuständen. Eifersucht und Leidenschaft, flüchtige Liebe oder politische Erpressung: Um solche Gefühlshandlungen lässt ihr theatrales Schaffen die Bilder eines europäischen Theaters entstehen.»
Der Preis
Mit dem Ziel, hervorragende Verdienste im Bereich der Darstellenden Künste zu würdigen, hatte die Schweizerische Gesellschaft für Theaterkultur 1957 den Hans-Reinhart-Ring ins Leben gerufen. Der Ring ist nach dem Winterthurer Mäzen Hans Reinhart benannt, welcher ihn 1957 gestiftet hatte Der Ring etablierte sich rasch als die bedeutendste, dem Theater im weitesten Sinne gewidmete Auszeichnung des Landes.
In einer Vereinbarung mit dem Bundesamt für Kultur (BAK) hatte die SGTK im Jahr 2014 den Hans-Reinhart-Ring in den «Schweizer Grand Prix Theater / Hans-Reinhart-Ring» überführt. Im Jahr 2021 wurde diese Auszeichnung umbenannt in «Schweizer Grand Prix Darstellende Künste / Hans-Reinhart-Ring» und kann seitdem an Künstlerinnen und Künstler aus allen Bereichen der Bühnenkünste (von Schauspiel und Regie bis hin zu Tanz, Choreografie, Zirkus und Kleinkunst) vergeben werden. Dem Preisträger bzw. der Preisträgerin wird ein speziell hergestellter Ring überreicht. Die Auszeichnung ist mit 100 000 Franken dotiert. Die Preisverleihung findet am 31. Oktober im Theater Casino Zug in Anwesenheit von Bundesrat Ignazio Cassis statt.