GASTKOLUMNE
Carmen Bärtschi, wohnhaft in Zürich, vormals in Bremgarten und Wohlen.
Bäume faszinieren mich. Sie lassen ihre Blätter fallen, als wär dies das Einfachste der Welt. ...
GASTKOLUMNE
Carmen Bärtschi, wohnhaft in Zürich, vormals in Bremgarten und Wohlen.
Bäume faszinieren mich. Sie lassen ihre Blätter fallen, als wär dies das Einfachste der Welt. Entblösst stehen sie da und warten auf den Frühling. Mit einer Zuversicht, die ihresgleichen sucht. Loslassen und mich ins Ungewisse stürzen fällt mir jedoch schwer. Oft klammere ich mich noch lange an Altbekanntes, meine eigene Normalität, die mir kontrollier- und berechenbar erscheint. Dabei vergesse ich manchmal, dass die Welt voller Geheimnisse ist. Weder gut noch böse, weder sicher noch gefährlich, sondern vieles zugleich: voller Ambiguität. Kann ich dies aushalten?
Die Fähigkeit, Widersprüche und Unsicherheiten auszuhalten, ohne in Schwarz-Weiss-Denken zu verfallen, nennt sich Ambiguitätstoleranz. Wer sie besitzt, kann mit offenen Fragen leben. Wer sie nicht hat, sucht nach klaren Antworten, nach Sündenböcken und nach einfachen Erklärungen. Populismus und faschistisches Gedankengut gedeihen, weil Menschen die steigende Komplexität und Unsicherheit der Welt nicht aushalten. Die Geschichte zeigt es immer wieder: In Krisen wächst der Wunsch nach starken Führern, nach klaren Vor- und Feindbildern, nach der Illusion, dass irgendjemand die Dinge wieder in Ordnung bringen kann. Doch diese Ordnung ist ein Trugbild. Sie verdeckt nur die Ungewissheit, die zum Leben gehört. Unser Baum lehrt uns etwas anderes: dass das Loslassen in die Ungewissheit wichtig ist. Dass wir nicht alles wissen und verstehen können. Dass Ambiguität und Ungewissheit nicht Bedrohung, sondern eine Chance sind. Dass wir uns sogar gerade in Zeiten der Unsicherheit für Mitgefühl, für Neugier, für Offenheit entscheiden können, wenn wir die Kontrolle loslassen und den Sprung ins Ungewisse wagen. So, wie nach dem Winter der Frühling folgt. Wie bei einem Kreis. Und wie die Geschichte der Menschen sich im Kreis zu drehen scheint. Kein Vorwärts, stattdessen zurück. Welch frustrierender Gedanke!
Also lass ich mein lineares Denken los und stelle mir die Zeit als Kreiswirbel vor, der in die Höhe steigt. Von der Seite sieht man ein Vor und Zurück; von oben die Drehung im Kreis. Diese Metapher beruhigt mich. Und Sie sind verwirrt? Tant pis. Arbeiten Sie an Ihrer Ambiguitätstoleranz. Lassen Sie los. Man muss nicht alles verstehen.