Wie Phönix aus der Asche
28.03.2024 BremgartenHeute vor 40 Jahren, Brand der Stadtkirche St. Nikolaus in Bremgarten: Aus Brandruine ist ein Kulturdenkmal auferstanden
Am Mittwoch, 28. März 1984, genau heute vor 40 Jahren, hat ab 13.50 Uhr die Stadtpfarrkirche im Bremgarter Kirchenbezirk innert zehn Minuten ...
Heute vor 40 Jahren, Brand der Stadtkirche St. Nikolaus in Bremgarten: Aus Brandruine ist ein Kulturdenkmal auferstanden
Am Mittwoch, 28. März 1984, genau heute vor 40 Jahren, hat ab 13.50 Uhr die Stadtpfarrkirche im Bremgarter Kirchenbezirk innert zehn Minuten explosionsartig auf voller Länge gebrannt. Arbeiter hatten am Vormittag aufs Dachgebälk ein leicht brennbares Schutzmittel gegen Holzbockkäfer aufgesprüht. Nach dem Mittag schleiften sie im Chordach eine vorstehende Schraube ab. Die Katastrophe war kaum in Worte zu fassen. Am Abend präsentierte sich die einst stolze Pfarrkirche als rauchender Trümmerhaufen. Und drei Viertel des Turmes zeugten davon, dass hier seit 1249 eine stattliche Kirche stand.
Hans Rechsteiner
Anderntags waren Entsetzen und Konsternation mit Händen greifbar. Der Stadtrat rief dazu auf, auf jeglichen Brandtourismus zu verzichten. Das traumatische Ereignis war im In- und Ausland Schlagzeilen wert. Das Fazit: «Die seit einem Jahr in Renovation stehende Kirche ist vollständig zerstört. Auch die vor kurzer Zeit wiederentdeckten Freskenmalereien aus den Jahren 1620/1630 dürften unwiederbringlich verschwunden sein.»
Im «Blick» vom 29. März 1984 stand: «Ein Wiederaufbau ist praktisch ausgeschlossen.» Im «Badener Tagblatt», das halt etwas näher dran war, am 30. März aber bereits: «Die Kirche wird wieder aufgebaut.» Das war keineswegs einer Trotzreaktion geschuldet. Für die Verantwortlichen der Denkmalpflege, Baukommission und Kirchenpflege stand es schon sehr bald fest. Gestützt wurde diese Aussage – es gab auch anderslautende, entmutigte Stimmen – durch die Tatsache, dass wertvolle Einrichtungsgegenstände zur Restauration ausgelagert waren. Hochaltar, Kanzel, Chorgestühle und Kirchenbänke sind vor dem Brand demontiert worden.
Bei den stark beschädigten Seitenaltären bestand die berechtigte Hoffnung, dass sie originalgetreu würden wiederhergestellt werden können, denn jedes Detail war fotografisch belegt. Völlig zerstört waren die Orgel und alle Glocken.
Die grösste Sorge galt den Fresken
Im Zuge der Vorarbeiten für die Restaurierung der Stadtkirche, die die Geschichte von acht Jahrhunderten verkörpert, hatte man eine umfassende figürlich-dekorative Ausmalung im Innenraum entdeckt, die um 1620/1630 vom einheimischen Meister Paulus Wiederkehr (1580–1649) geschaffen wurde.
Die Fenster sowie die Arkaden zum Seitenschiff sind mit fantastischer Scheinarchitektur gerahmt und überhöht. Im Rahmenwerk der Fenster erstreckt sich auf halber Höhe ein figürlicher Zyklus mit Christus und den Aposteln. Über den Arkaden-Umrahmungen schweben Passionsengel mit den Leidenswerkzeugen Christi. Den Chorbogen ziert eine monumentale Verkündigungsszene.
Die Stirnwand des Synesius-Schiffes krönt eine Darstellung des Jüngsten Gerichts. Peter Felder, damals kantonaler Denkmalpfleger, bewertete sie fachkundig: «Dieser Freskenzyklus zählt nach Qualität und Umfang zum Besten, was sich an dekorativer und figürlicher Wandmalerei aus der ohnehin spärlich dokumentierten Zeit der Spätrenaissance erhalten hat.»
Gleich zwei Sensationen
Und dann folgte bei genauerer Untersuchung der Brandschäden eine unglaubliche Sensation. Die Fresken waren unter weissem Verputz vor dem Feuer weitgehend geschützt. Dieser war 1780 bei der Barockisierung der Kirche aufgetragen worden – was für ein Glücksfall. Nur scharfes Löschwasser konnte sich schlecht auswirken.
Die nächste erfreuliche Sensation folgte auf dem Fusse: im Chorraum, wo die verflixte Schraube abgeschliffen worden war. Unter bis dahin unentdeckten Wiederkehr-Fresken im Chor, die beim verheerenden Brand vollständig zerstört wurden, kamen spätgotische Fresken aus der Zeit kurz vor 1500 zum Vorschein. Es sind Reste eines Zyklus, der die zwölf Apostel darstellt. Die überlebensgrossen Apostel stehen in Arkaden über schlanken Säulen. Sie sind in die klassische Apostelkleidung gehüllt. In den Händen halten sie ihr Attribut (Kennzeichen) sowie ein Schriftband mit einem Satz aus dem Credo. Zwei – einer davon ist Petrus – verstecken sich hinter der Enge des Hochaltars. Allerdings ist der geniale Künstler leider unbekannt.
Musikalisches Prunkstück
Der verheerende Brand der Bremgarter Stadtpfarrkirche hatte noch mehrere Folgen. Zuerst beübten alle Feuerwehren der Schweiz ihren Kirchturm. Die Versicherungen mussten die Haftungsgrössensummen weit über den reinen Materialwert mit einem Wiederaufbau-Kulturwert aufstocken, übrigens auch bei Landwirtschafts-Liegenschaften.
Und für die neue Stadtkirche Sankt Nikolaus im Bremgarter Kirchenbezirk gab es zwei entscheidende Erfreulichkeiten: Das bei Rüetschi in Aarau neu gegossene Kirchengeläut – es hatte klanglich ja zusammen eigentlich nie so richtig gut geklungen, wie sie in Bremgarten sagten –, am 25. Oktober 1986 von der Schuljugend aufgezogen, tönt seither hervorragend. Und die 1988 mit Begleitung von Dieter Utz in der Orgelbauerfamilie Metzler in Dietikon neu gebaute prächtige Orgel ist ein musikalisches Prunkstück europäischer Ausrichtung.
In der bekannt herausragenden Akustik dieser Stadtpfarrkirche wehen kirchenmusikalische und klassische Werke. Internationale Künstler und Flötisten nehmen hier ihre CDs auf. Und sehr bekannte Organisten, unter anderem die eigene filigrane Stadtorganistin Susanna Soffiantini, geben hier regelmässig Orgelvespern bei freiem Eintritt.
Fazit: So traurig das Geschehen vor 40 Jahren auch war, es hat sehr gut geendet. «Phönix aus der Asche» eben.
«Es isch d Stadtchile»
Kirchenbrand vor 40 Jahren: Ein Augenzeugenbericht des damaligen Redaktors Hans Rechsteiner
Datum und Uhrzeit haben sich in meinen Lebenslauf felsenfest eingeschrieben. Am Mittwoch, 28. März 1984 – am heutigen Tag vor genau 40 Jahren –, ab 13.50 Uhr brennt die im 11. Jahrhundert von den Habsburgern erbaute Stadtpfarrkirche (heute Sankt Nikolaus) in der Bremgarter Unterstadt. Es ist ein Riesenschock. Ein traumatisches Erlebnis. Die Katastrophe kaum in Worte zu fassen. Der Löscheinsatz dauert viele Stunden. Mein Erlebnisbericht.
Hans Rechsteiner
Der Journalist des «Badener Tagblatts» – also ich – ist erst im Februar 1982 nach Bremgarten gekommen und sitzt an jenem Mittwoch in seinem kleinen Büro mit selbst gebauter Filmentwicklungs-Dunkelkammer an der Rechengasse 3. Als plötzlich die Sirenen heulen.
Erste Reaktion: Stadtpolizei anrufen. «Was ist los?» Bruno Notter: «D Stadtchile brennt.» – «Was?» – «Es isch d Stadtchile.» So schnell war ich noch nie unterwegs. Fotoapparat gegriffen und ein paar Schwarz-Weiss-Filme in den Hosensack, für einen Notizblock ist keine Zeit. Beim Rennen der Gedanke, auch als ich unter der «Sonne» rechts die brennende Kirche sehe: «Wo gehe ich zuerst hin?» Ich breche durch die Haustür am Bogen 10 und Hausherr Alois (Foto) Stutz rennt mir in dem ihm eigenen Arbeitstempo die Holztreppen hinauf voraus. Wir stehen zuoberst auf seiner der Kirche zugewandten Terrasse. Heisse Aschenwolken kommen uns entgegen. Es knallt und knistert, unten fliegen die Ziegel vom Kirchendach. Weit unten auf der südlichen Orgelseite sieht man den Feuerwehr-Vizekommandanten August Trottmann einsam fuchteln.
Dazu gibt es eine unglaubliche Episode: Der aktive Feuerwehrkommandant, Bildhauer Ruedi Walliser, ist kurz nach halb zwei aufgebrochen hinaus in den Thurgau. Hätte er sich im Heinrütirank nochmals umgeschaut, hätte er den Brandausbruch «seiner» Kirche, von der er wenige Meter entfernt wohnte und an deren laufender Renovation er aktiv beteiligt war, vielleicht bemerkt. Die Macht des Schicksals.
Funkenwurf von einer Trennscheibe
Während die Löscharbeiten laufen, wird die Brandursache rasch bekannt. In Zusammenhang mit den schon seit einem Jahr andauernden Renovationsarbeiten hatten Arbeiter am Vormittag das Holzwerk des Dachstuhls mit «Arbezol spezial» gegen den Holzbockkäfer eingesprüht. Allerdings hätten sie danach zwei Tage lang kräftig lüften sollen. Nach der Mittagspause schleift stattdessen einer mit der Trennscheibe im Chorgebälk eine vorstehende Schraube ab. Durch den Funkenwurf geraten die noch immer schwelenden Dämpfe der Imprägnierflüssigkeit explosionsartig in Brand – denn «Arbezol spezial» hat einen sehr niedrigen Flammpunkt von nur 38 Grad. Die Flammen fressen sich vom Chor her über den ganzen über fünfzig Meter langen Dachstuhl bis ganz nach hinten zur Orgel durch. Sie schlagen bis 30 Meter hoch übers Dach hinaus. Die aus Holz gefertigte Orgel geht bald einmal in Flammen auf – in einer hohen dunkelschwarzen Wolke.
Die Hitze ist unerträglich. Der Feuerwehr bleibt nichts anderes, als von aussen her aus allen Rohren in und über das Kirchenschiff zu spritzen – mit wenig Wirkung. Ich selbst schaffe es ins Innere. An der westlichen Seitentür neben der Sakristei unter dem Turm versucht ein einzelner Feuerwehrmann den Schlauch hineinzubringen. Ich packe einfach zu, und wir sind drin. Warmes Löschwasser tropft herunter. Die Kleider muss ich sowieso wegwerfen. Die Fotodokumente sind mir das wert.
Im Turm brennt es wie in einem Cheminée
Ein Problem, dem die Bremgarter – und wohl jede – Feuerwehr letztlich nicht gewachsen ist, bildet der 78 Meter hohe Kirchturm und vor allem das Baugerüst, das ihn seit einem Jahr aussen eingerüstet. Weil zuunterst die Tür zum Turm offensteht, kann das Feuer den riesig hohen Kirchturm in Brand setzen. Die Männer müssen zurückgenommen werden. Die Autodrehleiter aus Lenzburg kann wegen der kniehohen Umfassungsmauern um die Stadtkirche gar nicht erst nahe zufahren und hätte wegen ihrer Limitierung auf 30 Meter Auszuglänge ohnehin nur knapp hinauf zu den untersten Turmfenstern gereicht.
Lange besteht akute Einsturzgefahr. Man befürchtet, dass sich das bald einmal ausgeglühte Baugerüst samt dem spitz auslaufenden Dachstuhl gegen die Stadt neigt und zusammenstürzt. Die wertvollen alten Häuser nahe des Kirchhofs werden deshalb geräumt. Die Kirchturmspitze sinkt dann aber, für die Feuerwehrmänner ungefährlich, ins Innere des schon ausgebrannten Turmes, das Gerüst bleibt oben. August Trottmann forderte schliesslich von der Firma Fuchs in Schindellegi einen Helikopter an, der in unzähligen Transportflügen jedes Mal 500 Liter Wasser aus der Reuss von unterhalb der Bruggmühle hinaufträgt und ins Turmgemäuer schüttet. Man sagte, der Heli könne nicht direkt über die hitzigen Aufwinde des Brandes einschweben, es hätte ihn zusätzlich abgehoben.
Zuverlässig schlagen die Glocken ihren eigenen Grabgesang
Hier kommt der Augenzeuge nicht darum herum, sich selbst zu zitieren: «Durch Mark und Bein geht es vielen Umstehenden, als die acht Glocken der Stadtkirche im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Uhrwerk jede Viertelstunde anschlagen. Als die schwerste Glocke auch um 16 Uhr, als der Turm in Vollbrand steht, ihre vier letzten Schläge tut, scheint es, als klage sie über ihr Schicksal.» Tränen fliessen.
Lange scheint der Kirchturm danach unbehelligt. Doch die Flammen fressen sich auf der Stadtseite an den äusseren Gerüstbrettern in die Höhe und setzen schliesslich den Glockenstuhl in Brand. Die Feuerwehrmänner haben keine Chance. Tatenlos müssen sie zusehen, wie der Turm zuoberst feuerrot auflodert. Mir selbst kommt zugut, dass die benachbarte Muttergottes-Kapelle auch bis über ihr Türmchen eingerüstet ist. Ich steige da sicher fünfmal hinauf, es ist ein idealer Fotostandort.
Und dann schenkt mir der nackte Zufall ein exklusives Bild, auf das ich sehr stolz bin. Eben haben sie um 17.30 Uhr die Löscharbeiten aus der Luft eingestellt, als die grösste der Glocken im Turminneren in die Tiefe fällt. Da faucht es wie aus Drachenschlünden, aus den Fensteröffnungen werden Russ, Rauchwolken und grauer Dreck gepustet. Damit verliert Bremgarten die damals älteste Glocke des Kantons Aargau – sie war aus dem Jahr 1641. Sie kündet noch heute, zerstört, im Kirchhof, östlich des Chors, von ihrem traurigen Schicksal. Alle anderen Glocken schmelzen. Im Grund des ausgebrannten Kirchturms liegt nach dem Brand auch das ganze zerstörte Uhrwerk. Und etwa 40 Kubikmeter Schutt.
Es folgt eine sehr lange Nacht
Der fatale Brand ist erst gegen acht Uhr abends einigermassen unter Kontrolle. Für mich beginnt da die Arbeit erst richtig. Das Resultat lässt mich natürlich nicht in Ruhe zu Bett gehen. Gegen Mitternacht fahre ich nach Baden und hole eine Beige der morgigen Ausgabe direkt ab der Druckmaschine. Damit gehts zurück nach Bremgarten. Und in den «Adler», wo sich die Nachtwächter-Brandschichten ablösen. Die Brandruine in der Unterstadt muss abgesperrt und drei Tage lang überwacht werden. Es wird eine sehr lange, eindrückliche Nacht dort im Restaurant Adler, 1. Stock. Man muss nicht alles wissen – respektive erzählen. Der erlebnisreiche historische Tag aber macht Männerfreundschaften.
Anderntags ist mein Bürofenster in der Rechengasse 3 der Treffpunkt. Ich habe die Fensterfront mit den Artikeln und vielen Bildern vollgepflastert. Das findet regstes Interesse. Im «Badener Tagblatt» überlegen wir uns, ein vierseitiges Extrablatt herauszugeben. Es scheitert schliesslich an der Verteilung. Wir hatten an Bremgarter Schulklassen gedacht. Aber das lässt sich so schnell nicht organisieren.
Zu Hause nahm Daniel (3) das Telefon ab
Erst am Abend des Tags eins nach dem Kirchenbrand haben sie mir zu Hause erzählt, dass unser dreijähriger Daniel nachmittags zuvor die unzähligen Telefonanrufe, die mich auf den Brand aufmerksam machten, zuverlässig beantwortet hatte: «Jo, mehr wessed, dass d’Cherche brennt.» Da war ich verblüfft, erfreut, und ja, doch etwas stolz – auf ihn.
Zur Person
Hans Rechsteiner (Jg. 1955) eröffnete 1982 für das «Badener Tagblatt» in Bremgarten eine Lokalredaktion. Er profilierte sich rasch und mischte sich mutig in die Lokalpolitik ein. Im Oktober 1989 erschien unter seiner Leitung erstmals das Kopfblatt «Bremgarter Tagblatt», das 1996 in der Fusion von «Badener Tagblatt» und «Aargauer Tagblatt» in die «Aargauer Zeitung» mündete. Hans Rechsteiner schreibt heute als freier Mitarbeiter für die vier Freiämter Lokalzeitungen. --red
Hinweise: Ölberg St.-Anna-Kapelle, Flügelaltar, 1645/1646 von Gregor Allhelg geschaffen. Die Flügel des Ölbergs sind jedes Jahr nur in der Karwoche geöffnet.
Gedenkgottesdienst zum Kirchenbrand. Sonntag, 7. April, 10.30 Uhr, in der Stadtkirche Bremgarten.
Ausstellung in der St.-Anna-Kapelle. Historiker Heinz Koch stellt sie zusammen. Ein Jahr lang offen.
Kirchenbezirkführungen. Die Stadtführergruppe bietet Führungen durch den Kirchenbezirk an, mit Einbezug der Stadtpfarrkirche. Kontakt: ursihuber@gmx.ch, 056 633 28 77.