Wertvolles Wissen gesichert
08.09.2023 Wohlen60 spannende Geschichten
Schweizer Strohmuseum in Wohlen
Auf diese neue Ausstellung hat man im Schweizer Strohmuseum in Wohlen hingefiebert. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen. Sie wurden interviewt von Daniel Güntert und Corina Haller. ...
60 spannende Geschichten
Schweizer Strohmuseum in Wohlen
Auf diese neue Ausstellung hat man im Schweizer Strohmuseum in Wohlen hingefiebert. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen. Sie wurden interviewt von Daniel Güntert und Corina Haller. Entstanden sind gegen 40 Stunden Filmmaterial, Dieses wurde nicht nur ausgewertet, sondern es wurde in spannende Geschichten verpackt. 60 an der Zahl. Im interaktiven Kino können sie nun bestaunt werden. Mit dieser Herangehensweise konnte wertvolles Wissen abgeholt werden. Von Menschen, die Einblick in die Strohindustrie haben. Das Projekt wurde auch dank Bundes- und Kantonsgeldern ermöglicht. Die Vernissage im Schweizer Strohmuseum findet übermorgen Sonntag, 11.30 Uhr, statt. --dm
Schweizer Strohmuseum: Neue Ausstellung «Zeitzeugen erinnern sich» – Vernissage am Sonntag
Geplant war die Ausstellung schon lange. Nun ist das Projekt vollendet. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen über die Historie der Strohindustrie. Neues, Kritisches, Wissenswertes wird vermittelt. Daniel Güntert und Corina Haller sind die «Filmemacher».
Daniel Marti
Einleuchtender könnte die Geste nicht sein: Daniel Güntert, Lokalhistoriker, rasselt mit einem alten Schlüsselbund. Mit grossen, kräftigen und rostigen Schlüsseln. Diese gehörten einst Johann Nietlisbach, geboren 1904, ein Leben lang Wachtmeister bei den Anlagen der Wohler Strohindustrie. Nietlisbach schaute nachts zum Rechten – und wusste immer, in welches Schlüsselloch welcher Schlüssel passt. Wachtmeister Nietlisbach hätte eine Menge zu erzählen über die Strohindustrie. Nun tut das seine Tochter, die erst kürzlich 90 Jahre alt geworden ist. Per Video erzählt sie davon, dass der Lohn nicht reichte, dass ihr Vater am Nachmittag oben auf dem Niesenberg chrampfte und nachts die Anlagen der Strohbarone bewachte.
Die Zeit drängte, um das Wissen weiterzutransportieren
Das ist nur eine Sequenz aus rund 40 Stunden Filmmaterial, das von Corina Haller und Daniel Güntert in Interviews zusammengetragen wurde. 35 Personen wurden angefragt, praktisch alle waren begeistert, nur eine Person winkte ab und wollte nichts erzählen. Es sind alles Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die selber in der Hutgef lechtindustrie gearbeitet haben oder die über die Tätigkeit ihrer Eltern erzählen können. Alle Interviewpartner haben schon ein gewisses Alter. Alle tragen ein grosses Wissen in sich. Die Zeit drängt also. «Sie alle konnten ein wertvolles Wissen an uns weitergeben», freut sich Museumsleiterin Petra Giezendanner. «In einer Ausstellung sind wir noch nie dermassen und auf diese Art in die Historie vorgedrungen.»
Die grösste Arbeit hatten Haller und Güntert. Und Miriam Rorato von der Firma ImRaum gestaltete und konzipierte den Ausstellungsraum. Entstanden ist eine Einheit mit einem interaktiven Kino, mit einer Zeittafel, mit einer Erinnerungswand und einer Wohler Karte mit sämtlichen noch vorhandenen Gebäuden aus der Strohindustrie. «Die Karte relativiert vieles. Es wurden zwar viele Gebäude abgerissen, aber man staunt, denn fast an jeder Strassenecke taucht noch ein Gebäude aus der Strohindustrie auf», erklärt Güntert.
Dichtes Gesamtbild – Fächer geöffnet
Zurück zu den Erzählungen, sie stammen vom Oral-History-Projekt «Geschichten aus Chly Paris». Alle Interviews wurden von Januar bis Juni 2022 geführt. «Und ich habe dabei viel Neues erfahren», gibt Lokalhistoriker Güntert zu. «Das gesamte Projekt ist faszinierend. Menschen, die die Strohindustre ganz nahe erlebt haben, geben viele Einblicke. Entstanden ist ein grosses Puzzle.» Und für Miriam Rorato ist es sehr interessant, etwas über die Gesellschaftsstrukturen von damals zu erfahren. «Das ergibt ein gutes Gesamtbild.» Dieser Einblick in die Historie sei zwar nicht immer objektiv, so Rorato weiter, «es sind jedoch Erinnerungen, die jeweils ein ganzes Leben geprägt haben.» Das Gesamtbild werde deswegen dichter. «Wir haben mit diesen Videointerviews einen grossen Fächer geöffnet», ergänzt Güntert.
Der Fixpunkt der neuen Ausstellung ist das interaktive Kino. Dabei kann das Publikum nicht nur selber per Knopfdruck bestimmen, welche Sequenz aus welchem Thema gezeigt wird. «Hier können die Menschen miteinander ins Gespräch kommen», betont Museumsleiterin Giezendanner.
«Kreativer Prozess»
Die Herangehensweise war gar nicht einfach. Es musste über etliche Stunden hinweg Videomaterial gesichtet werden. «Das war zwar ein kreativer Prozess», so Güntert, «dafür war der Fundus riesig.»
Daniel Güntert und Corina Haller hielten sich dabei an ein Sprichwort: «Es gibt keine Wahrheit – es gibt nur Geschichten.» Und genau genommen wurden über die Videointerviews über 100 Geschichten präsentiert. Diese Menge an Geschichten musste fürs Publikum aufbereitet werden. «Das interaktive Kino ist eine Chance, sich den Geschichten anzunähern», erklärt der ehemalige Bezlehrer Güntert. Das interaktive Kino konzentriert sich auf zehn Themen, diese bieten jeweils zwei Geschichten an, und das auf drei Ebenen. Das ergibt total 60 Geschichten. Und die Themen sind vielfältig und umfassend: Dorfleben, Anekdoten, Familie/ Alltag, Berufe/Arbeit, Ausbildung, Fachwissen, Chancen, Risiken, Soziales Engagement, Niedergang.
Ein «Glossar» hilft
So erfährt man beispielsweise, wie Maria Werder die Arbeit ihres Vaters, der Nachtwächter Johann Nietlisbach, erlebt hat, und gleichzeitig auch die Heimarbeit ihrer Mutter. Oder am 5. Juli 1966 besuchte der Gesamtbundesrat auf seinem jährlichen Ausflug die Firma Bruggisser in Wohlen. Erzählt von einem Zeitzeugen, festgehalten in einem Dokument vom ehemaligen Bezlehrer Toni Wohler. «Da spürt man förmlich, wie damals das Leben ein anderes war», staunt Museumsleiterin Petra Giezendanner, die gleichzeitig hofft, dass die Erinnerungsstele rasch mit Beispielen voll sein wird. «Was löst der Ausdruck Stroh bei Ihnen aus?», lautet dort beispielsweise eine Frage.
Wer übrigens mit alten Bezeichnungen aus der Strohindustrie nicht klarkommt, der wird an der «Glossar»-Wand freundlich aufgeklärt. So kommt man allenfalls auch bei Fachausdrücken bei den Geschichten des interaktiven Kinos klar. Mit Kino, Karte, Zeittafel, Glossar, Erinnerungsecke wurde also nichts ausgelassen – ganz zur Freude von Miriam Rorato. «Mit den Zeitzeugen haben wir unterschiedliche Quellen und eine einfache Form gefunden, um in unsere Vergangenheit zu blicken», so Rorato. «Und das ist doch sehr spannend – weit über Wohlen hinaus», fügt die Museumsleiterin an.
Ausstellung «Von Kohlepapier, Knöpflimaschine und Knabenurin», Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erinnern sich an die Hutgeflechtindustrie. – Vernissage am Sonntag, 10. September, 11.30 Uhr, im Schweizer Strohmuseum. Die Ausstellung dauert bis am 29. September 2024.