«Werden mit ihren Taten konfrontiert»
25.08.2023 Jugend, Region Wohlen, Region Bremgarten, Region Oberfreiamt, Region UnterfreiamtHans Melliger, ehemaliger Leiter der Jugendanwaltschaft Aargau, über den Umgang mit Mobbern
In seiner Zeit als Jugendanwalt hatte Hans Melliger auch viel mit Mobbingfällen zu tun. Im Jugendstrafrecht geht die Massnahme der Strafe vor – auch bei ...
Hans Melliger, ehemaliger Leiter der Jugendanwaltschaft Aargau, über den Umgang mit Mobbern
In seiner Zeit als Jugendanwalt hatte Hans Melliger auch viel mit Mobbingfällen zu tun. Im Jugendstrafrecht geht die Massnahme der Strafe vor – auch bei Mobbingtätern. Solche Massnahmen sollen die Jugendlichen zu einem Umdenken bringen. «Die Täter sollen nicht nochmals straffällig werden.»
Sabrina Salm
Ist Mobbing strafbar?
Hans Melliger: Das Belästigen, Blossstellen, Quälen, Attackieren, Verprügeln eines Mobbingopfers erfüllt regelmässig strafrechtliche Tatbestände. Dasselbe gilt für Tätlichkeiten wie Beschimpfung, Ehrverletzung oder Drohung. Diese strafrechtlichen Tatbestände stellen allesamt Antragsdelikte dar. Das heisst, das Opfer muss einen Strafantrag stellen, damit ein Verfahren eröffnet wird und die Polizei aktiv wird.
Sie waren über 33 Jahre Jugendanwalt. Hatten Sie viele Mobbingfälle zu behandeln?
Da es sich um Strafantragsdelikte handelte, landet natürlich nur ein kleiner Teil der effektiv stattfindenden Mobbingsituation bei den Jugendstrafbehörden. Vieles wird an der Schule, an der Lehrstelle, in Vereinen auf privater Ebene bereinigt oder nicht strafrechtlich beanzeigt.
Wurde das Thema mit Cybermobbing verschärft?
Das Mobben anderer mithilfe von Internet- und Mobiltelefondiensten hat bei den Jugendlichen sicher stark zugenommen. Da können auch rund um die Uhr Attacken erfolgen, meistens auch anonym, ohne den richtigen Namen preisgeben zu müssen. Die grosse Gefahr und die grossen Schäden bestehen darin, dass alles irgendwo gespeichert und wieder hervorgeholt werden kann. Das Netz «vergisst» ja bekanntlich nichts, wessen sich aber die wenigsten bewusst sind.
Was kann man tun, wenn man in einem Gruppenchat ist, in dem Cybermobbing betrieben wird?
Wir haben zusammen mit den beanzeigten Jugendlichen – und zwar Täter- und Opferseite – einzelne Mobbingattacken und Verläufe im Netz nachgespielt. Zu Lernzwecken und zum Erleben, wie es sich anfühlt, wenn man einmal auf der anderen Seite, nämlich auf der Opferseite, steht. Dabei mussten die Jugendlichen feststellen, dass nicht korrigierend oder helfend eingegriffen werden kann. Die ganze Blossstellung und Häme ergiesst sich automatisch auf die Helfenden und zieht diese mit ein. Es gibt nur eine Erkenntnis.
Und die wäre?
Bei privaten Chats sofort aussteigen und den Chat nicht als Teilnehmenden weiter unterstützen oder gar den Account löschen.
Ist es einfacher, jemanden für Cybermobbing zu belangen oder für «normales» Mobbing?
Cybermobbing ist eine ganz andere Dimension. Und oft eben anonym. Vielfach kursieren bereits die fürchterlichsten Sachen im Netz, bevor es das betroffene Opfer überhaupt merkt. In krassen Fällen müssen Handys und PC eingezogen werden, damit die Beweislage gesichert werden kann. Die Auswertung dieser Geräte ist sehr zeitintensiv und aufwendig.
Wenn ein Gemobbter also einen Strafantrag stellt – wie geht die Jugendanwaltschaft dann vor?
Eigentlich gleich wie in anderen Jugendstraffällen. Die Jugendanwaltschaft lädt in der Regel den Beanzeigten oder die Beanzeigte zusammen mit einem Elternteil für eine Verhandlung vor. Dort wird der Sachverhalt nochmals genau durchgegangen und dann spezifisch die persönlichen Verhältnisse abgeklärt. In leichteren Mobbingfällen wird auch versucht, im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs am runden Tisch zusammen mit der Opferseite eine Lösung zu finden. Also eine Gegenleistung und Wiedergutmachung durch die Tätergruppe wird erbracht, sodass sogar allenfalls die Strafanträge wieder zurückgezogen werden können und die strafrechtliche Ebene beendigt wird.
Und bei schwereren Mobbingfällen?
Da der gesetzliche Auftrag besteht, mit der Strafe oder Massnahme erzieherisch einzuwirken, kann es individuelle Urteile geben, eben auf die fehlbare Person und deren persönliche Verhältnisse massgeschneidert.
Wie sehen solche massgeschneiderten Massnahmen aus?
Auf der Jugendanwaltschaft wurden spezielle Medienkurse entwickelt. So wird beispielsweise in einem Kurs, in Zusammenarbeit mit einem Sozialarbeitenden der Jugendanwaltschaft und einem Medienpädagogen, in einer Gruppe von sechs bis acht Jugendlichen ihre jeweilige Tat aufgearbeitet. Beim Beispiel sind die Anlassdelikte Sexting, Gewaltdarstellungen, verbotene Pornografie, Cybermobbing. An zwei Samstagen à fünf Stunden werden die Jugendlichen mit ihren Taten konfrontiert.
Welche Aspekte werden behandelt?
Themen wie Motiv/Gefühlsebene, Perspektivenumkehr/Hineinversetzen in Geschädigte, Wiedergutmachung werden ebenso behandelt wie Vermittlung von Medienwissen. Auch das Verhalten in Gruppen, wie in einem Gruppenchat, im Unterschied zu individuellen Situationen, wie face to face, werden beleuchtet.
Viele Menschen, besonders Betroffene von Mobbing, finden solche Strafen beziehungsweise Massnahmen äusserst mild.
Das Ziel besteht ja darin, dass die Jugendlichen keine weiteren Delikte begehen. Es macht mehr Sinn, wenn sich jemand der Tragweite seines Handelns bewusst wird und sich ändern kann.
Und das reicht als Strafe? Ist es nicht so, dass Mobber einfach weitermachen à la «einmal Mobber, immer Mobber»?
Ich halte generell nicht viel von Pauschalisierungen. Und gerade im Jugendstrafrecht ist die Chance sehr gross, etwas aus einem Vorfall zu lernen und nicht rückfällig zu werden.
Und wenn sie nichts daraus lernen und weitermachen?
Es gibt natürlich auch extrem schwierige persönliche Verhältnisse bei Jugendlichen, die straffällig werden. Dort gilt meistens der Grundsatz: «Wer Probleme hat, macht Probleme.» Strafen nützen dort nämlich noch weniger und es braucht massgeschneiderte Massnahmen, die an die Wurzeln der Probleme gehen. Eine Wurzelbehandlung bei den Tätern und Täterinnen quasi, die aber nicht weniger schmerzhaft und einschneidend sein kann als eine Busse oder Arbeitsleistung oder gar einzelne Hafttage.
Persönlich
Der 67-jährige Hans Melliger wohnt in Sarmenstorf. Er war über 33 Jahre Jugendanwalt und übernahm auch die Leitung der Jugendanwaltschaft Aargau. Er setzte sich immer dafür ein, dass die Aargauer Jugendlichen, die auf Abwege kamen, eine (zweite) Chance erhalten. «Als Jugendanwalt hatte ich nur mit der Gruppe der Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren zu tun. Und hier nur mit der Täterseite.» Weibliche und männliche Jugendliche waren in etwa gleich vertreten. Seit zwei Jahren ist er in Pension.
In der Region kennt man Melliger aus der Freiämter Theaterszene, unter anderem beim Begorra-Theater oder beim Projekt «Grabenstorf». Dieses feierte vor einem Jahr viel Erfolg. --sab