«Unsere Demokratie verteidigen»
29.09.2023 WohlenBundeskanzler Walter Thurnherr kommt zum Gedankenaustausch in die Nähe seiner Heimat Wohlen
Für ein Referat mit Diskussion besuchte Bundeskanzler Walter Thurnherr den Aargau. Zusammen mit Unternehmerin und Mitte-Politikerin Christina Bachmann-Roth sowie ...
Bundeskanzler Walter Thurnherr kommt zum Gedankenaustausch in die Nähe seiner Heimat Wohlen
Für ein Referat mit Diskussion besuchte Bundeskanzler Walter Thurnherr den Aargau. Zusammen mit Unternehmerin und Mitte-Politikerin Christina Bachmann-Roth sowie Politikwissenschaftler Michael Hermann konnte die Zuhörerschaft den Gedanken und Visionen vom «achten Bundesrat» in Lenzburg folgen. Ein Augenschein.
Britta Müller
Ein Vierteljahrhundert lebte er in Wohlen. Und hierhin zieht es ihn immer wieder. Bundeskanzler Walter Thurnherr mag seine alte Heimat. So ist es logisch, dass er eine Einladung von Christina Bachmann-Roth, Mitglied der Partei Die Mitte, nach Lenzburg nicht ausschlagen konnte. In der Zeit vor den nächsten Wahlen, Bachmann-Roth kandidiert für den Nationalrat, ist es wichtig, mit der Wählerschaft ins Gespräch zu kommen. «An diesem Abend haben alle die Möglichkeit, dies mit dem gern bezeichneten achten Bundesrat zu tun», sagt Bachmann-Roth und ergänzt: «Er selbst bezeichnet sich nicht als solchen, sondern eher als denjenigen, der vermittelt und steuert.» Souverän und wortgewandt stellt sie Bundeskanzler Thurnherrs beachtlichen Karriereweg vor.
Stets nahe am politischen Puls
Walter Thurnherr, 1963 geboren, ist in Wohlen aufgewachsen. Mit 25 Jahren startete er seinen beruf lichen Weg hinaus in die grosse politische Welt – aufs Parkett der Diplomatie und der Kompromisse. Seine wichtigsten Stationen: persönlicher Mitarbeiter von Bundesrat Flavio Cotti, Chef der einstigen Abteilung VI im EDA, Generalsekretär im EDA, EVD und UVEK und seit 2015 Bundeskanzler. Mit seiner charismatischen Persönlichkeit, die so nah am politischen Puls der Zeit steht, und seiner gewandten Rhetorik zieht er immer wieder seine Zuhörerschaft in den Bann. So auch in Lenzburg, übrigens vor vielen Gästen, die auch aus dem Freiamt anreisten.
Heute lebt er nicht mehr im Freiamt. Der Bundeskanzler fühlt sich mit seiner Familie am Thunersee zu Hause. Er liebt Humor und wendet ihn gerne bei passender Gelegenheit geschickt an. Zum aktuellen Thema wird er natürlich politisch korrekt ernst und beleuchtet mit seiner Erfahrung und Einschätzung die Frage, ob die Schweiz noch ein Erfolgsmodell ist.
Bleibt die Schweiz ein Erfolgsmodell?
Dabei geht er auf die Weltgeschichte ein und erklärt an Beispielen, dass Krisen jeglicher Art oft eine Zeitenwende mit sich brachten. Stehen wir heute, durch die aktuelle weltpolitische Lage, auch vor einer Zeitenwende? Welches ist die Lösung, damit die Schweiz weiterhin ein Erfolgsmodell bleibt?
Laut Bundeskanzler «gibt es drei Ansätze: Die Schweiz muss ihr Verhältnis zum Ausland klären. Als Zweites müssen wir unsere Demokratie verteidigen und zuletzt den eigenen Gestaltungswillen hinterfragen», stellt Walter Thurnherr fest. Die Schweiz ist Teil der Globalisierung. Viele Fragen sind zu klären. Er nennt Beispiele wie «Wo die Regulierung der sozialen Medien stattfinden wird, wird unter Umständen international
– von anderen – geregelt und von der Schweiz übernommen werden müssen.»
Bildung und Erziehung in allen Stufen sehr wichtig
Ausser die Schweiz ist bereit mitzugestalten und kann sich dadurch wie bisher weiterentwickeln – stets mit dem Blick, wie die anderen sich entwickeln. «Nur zuschauen wird nicht reichen», sagt Thurnherr und taucht wieder in Beispiele aus der Geschichte ein. Der Blick zurück ist für Thurnherr wichtig, um zu verstehen, aber ihm ist auch wichtig, im Jetzt zu sein und nach vorne, mutig, offen und kompromissbereit zu denken, verhandeln und entscheiden. So wie vor 175 Jahren die Erstellung der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft kein leichtes Unterfangen war, «aber am Ende gab es nicht nur Gewinner und Verlierer, sondern das Werk zeichnet die Schweiz als lösungsorientiert aus», sagt der Bundeskanzler und wünscht sich, dass die heutigen und künftigen Nachfahren gegenüber ihren Vorfahren sich weiterhin ihrer Demokratie-Werte bewusst sind und kompromissfähig bleiben.
Durch Polarisierung und Spaltung versuche man die Demokratie infrage zu stellen. Daher ist Bildung und Erziehung in allen Stufen weiterhin sehr wichtig. Bei der heutigen grossen Vielfalt an Daten und Informationen unterschiedlicher Qualität meinen zwischenzeitlich viele, sie können zu jedem Thema Stellung nehmen, was auf den ersten Blick plausibel erscheint, aber bei genauer Betrachtung das Umfeld verunsichert. «Es gibt Schränke, die leer sind oder in denen einige Tassen fehlen», bemerkt er schmunzelnd.
Ehrfürchtig ergänzt er: «Wir sind unseren Vorfahren für ihr lösungsorientiertes Tun und ihre Kompromissbereitschaft dankbar, aber auch unseren Nachfahren schuldig, dies so weiterzuleben.»
Jede Menge Selfies
Nach dem Referat von Thurnherr fand eine kurzweilige und spannende Diskussion mit dem ausgewiesenen Fachspezialisten und Politologen Michael Hermann, dem Erfinder des SRF-Wahlbarometers, und der engagierten Politikerin und Unternehmerin Christina Bachmann-Roth statt. Zusammen diskutierten sie aus ihren unterschiedlichen Perspektiven. Es geht um Migrationspolitik, darum, wie mit den Ängsten in der Bevölkerung polarisiert wird, um direkte Demokratie und die Freiheit, die sie mit sich bringt.
Unter den Zuhörern sind nicht nur Bürger und Bürgerinnen aus Lenzburg und dem Freiamt, sondern namhafte Politiker und Politikerinnen wie zum Beispiel die Aargauer Alt-Stände- und -Nationalrätin Christine Egerszegi-Obrist, Vertreter des Militärs und weitere Aargauer Parteivertreter. Mit Bundeskanzler Walter Thurnherr will jeder ins Gespräch kommen oder zumindest ein Foto – geduldig gibt er jede Menge Selfies, Händeschütteln und natürlich Gesprächsstoff, denn dazu ist der Bundeskanzler extra in den Aargau gekommen.