Selbstbestimmung im Fokus
11.11.2022 WohlenVertreter der Unternehmen mit sozialem Auftrag trafen sich zur Fachtagung in der Integra
Der diesjährige Bericht des UNO-Ausschusses hielt fest, dass in der Schweiz bei der Umsetzung der Anforderungen der Behindertenkonvention in verschiedenen Bereichen ...
Vertreter der Unternehmen mit sozialem Auftrag trafen sich zur Fachtagung in der Integra
Der diesjährige Bericht des UNO-Ausschusses hielt fest, dass in der Schweiz bei der Umsetzung der Anforderungen der Behindertenkonvention in verschiedenen Bereichen Optimierungsbedarf besteht. Wie dieser hinsichtlich der Selbstbestimmung aussehen könnte, darüber tauschten sich Vertreter und Betroffene an der Herbstveranstaltung der Avusa aus.
Celeste Blanc
Welche Möglichkeiten können geboten werden, die Menschen mit Beeinträchtigung ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen? Wie kann die Inklusion in die Gesellschaft umgesetzt werden? Wo sind die Grenzen von Institutionen, was ist machbar? Mit ebendiesen Fragen beschäftigte sich die Herbstveranstaltung des Aargauischen Verbands der Unternehmen mit sozialem Auftrag, kurz Avusa, die heuer in der Integra gastierte.
Der Schwerpunkt der Tagung lag auf der Schweizer Praxis der Umsetzung der UN-Behinderten- und Kinderrechtskonvention (UN-BRK). Mit deren Ratifizierung hat sich die Schweiz verpflichtet, die Zielvorgaben der Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Gemäss Bericht des UNO-Ausschusses besteht aber noch Optimierungsbedarf.
Raum für Inspiration bieten
Obwohl die Schweiz hinsichtlich der professionellen Begleitstrukturen im Behindertenwesen bereits vieles sehr gut macht, schneidet sich die jetzige Ausgestaltung in unterschiedlichen Bereichen mit dem in der Konvention vorgesehenen Ziel, das das selbstbestimmte Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen schützen will. Sprich, gewisse Strukturen, auf gesellschaftlicher, politischer oder institutioneller Ebene, sind noch gemäss Vorstellungen der UNO ungenügend. Know-how und Erfahrung waren somit an der Fachtagung gefragt. Teilnehmende aus verschiedenen Bereichen, sei es aus der Politik, von Institutionen oder Direktbetroffene, nutzten die Gelegenheit, um sich auszutauschen. «Das Thema ist unglaublich breit und je nach Bereich hat man einen anderen Wissensstand. Die Tagung sollte Raum für Ideen ermöglichen, die inspirieren, sie vielleicht im eigenen Unternehmen anzupacken», so Daniela Matter, Geschäftsleitung Avusa.
Persönliche Assistenz als gute Option
Diesem Ansatz folgten auch die beiden ersten Referenten des Nachmittages. «Es gibt viel Potenzial, wie man die Umsetzung realisieren könnte», meint etwa Jan Habegger, stellvertretender Geschäftsführer von Insieme Schweiz und Mitglied des Vorstands und der Arbeitsgruppe UN-BRK von Inclusion Handicap. Gemeinsam mit Christoph Linggi, Vorstandsmitglied und Mitarbeiter vom Verein «Mensch zuerst», thematisierten sie die Möglichkeit des selbstbestimmten Lebens in der Schweiz im Wohnbereich. In diesem Bereich kann die Unabhängigkeit einer Person nicht immer garantiert werden. So ist für Menschen mit Beeinträchtigungen in einem institutionellen Rahmen wenig Platz für eine selbstbestimmte Lebensführung.
Christoph Linggi, der an diesem Nachmittag als Experte «in eigener Sache» referierte, ist «aus diesem institutionellen Rahmen ausgebrochen» und lebt heute selbstbestimmt mit dem Modell der «persönlichen Assistenz». Das bedeutet, eine unterstützende Fachperson steht dann zur Verfügung, wenn Linggi sich dafür entscheidet, sie um Unterstützung zu bitten. «Die Assistenz half mir anfänglich in kleinen Sachen, die ich heute selber machen kann. Das ist das Ziel: Ein selbstbestimmtes Leben bedeutet, so viel wie möglich selbstständig erledigen zu können.» Somit ist die «persönliche Assistenz» ein Konzept, dessen Ausarbeitung in Zukunft sich lohnt.
Wandel ist das Stichwort
Dass er sich frei bewegen, einem Job nachgehen und seinen Alltag eigenständig planen kann, ist ein Privileg, das aktuell schätzungsweise nur einem bis zehn Prozent der Betroffenen zuteil wird. In einer Institution hingegen wird vieles – Mahlzeiten, Arbeit, Wohnung und Freizeit – durch «andere» geregelt. «Ein institutioneller Wandel ist gefragt», schlussfolgert Habegger. Der sei aber nicht von heute auf morgen möglich. Ansätze für einen langsamen Wandel könnten sein, vermehrt Personen in ihrer Eigenständigkeit zu fördern und zu fordern, mit statt über die Person zu sprechen oder, wenn nur so möglich, die Person ihre Arbeitsplanung und Alltagsplanung in einer Institution mitgestalten zu lassen. «So würden sich Schritt für Schritt die Institutionen weiterentwickeln. Erfahrungswerte können eruiert werden. Und gleichzeitig würde es auch innerhalb der Betreuungsberufe einen Wandel hin zur Ausbildung zur persönlichen Assistenz geben», schlussfolgern Linggi und Habegger.
Widerspruch auch als Chance erkennen
Eine Institution, die schon seit 20Jahren in diese Richtung funktioniert, ist das Heilpädagogische Zentrum Hagendorn (HZH) im Kanton Zug. 130 Schülerinnen und Schüler werden aktuell mit unterschiedlichen Massnahmen in die Gesellschaft eingegliedert. So partizipieren rund 45 Jugendliche in verschiedenen Zuger Gemeinden am regulären Schulalltag.
Die Schule inkludiert erfolgreich Menschen mit Beeinträchtigungen in der Gesellschaft. Sie folgt dem «Befähigungsansatz», wobei die Schülerinnen und Schüler normal nach Lehrplan 21 unterrichtet werden, der einfach auf die jeweilige Person zugeschnitten ist. Obschon man gute Erfahrungen macht, ist die Austarierung zwischen verschiedenen Spannungsfeldern nicht einfach. Dekonstruktion (es gibt nicht eine «Sonderschule», eine Schule für alle ist möglich), Normalisierung (Unterricht und Aktivitäten mit allen gemeinsam sind möglich) und Empowerment (spezialisierte Dienstleistungen durch Beratungs- und Unterstützungsangebote) sind dabei die drei zentralen Stichworte. «Das ‹Trilemma› zeigt manchmal in gewissen Fällen einen Widerspruch», so Tobias Arnold, Geschäftsleiter HZH. «Aber auch hier muss das Mindset überdacht werden. Schliesslich kann man einen Widerspruch differenziert anschauen und dann konkrete Lösungen finden. Das braucht aber Ressourcen.» Allgemein sollte sich die Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen nicht um Wirtschaftlichkeiten drehen – sondern es sollte um die Vision gehen. Das fange beispielsweise schon bei der Platzierung von Institutionen an. «Wenn eine Institution abgelegen ist, ist eine Inklusion schwieriger, als wenn auch mitten in einer Gemeinde eine solche Platz hat. So kann der alltägliche Austausch ermöglicht werden – und die ‹Normalisierung› beginnt von alleine.»
Spannende Inputs, neue Anregungen – für Geschäftsleiterin Daniela Matter war die Fachtagung ein voller Erfolg. «Ziel war es, die verschiedenen Sichtweisen auf dieses nicht einfache Thema zusammenzubringen. Die Referate sollten Inputs liefern, wie Optimierungsprozesse aussehen und wie man sie umsetzen könnte. Das ist gelungen.» Auch den Austragungsort lobt Matter: «Die Integra ist eine gute Gastgeberin und eine beeindruckende Institution.»