Prügel für den Lehrer
15.12.2023 Wohlen«Lass mich in Ruhe»
Schule Bünzmatt mit besonderen Lektionen
Jede fünfte Frau in der Schweiz wird im Verlaufe ihres Lebens Opfer von häuslicher Gewalt. Eine beängstigende Statistik. Die Schule Bünzmatt hat auch deshalb ...
«Lass mich in Ruhe»
Schule Bünzmatt mit besonderen Lektionen
Jede fünfte Frau in der Schweiz wird im Verlaufe ihres Lebens Opfer von häuslicher Gewalt. Eine beängstigende Statistik. Die Schule Bünzmatt hat auch deshalb Lektionen für Schülerinnen ins Leben gerufen, die den Fokus auf Selbstbehauptung und Selbstverteidigung haben. Die Mädchen lernen, sich körperlich und verbal zu wehren. Beispielweise mit einem lauten «Lass mich in Ruhe». Diese Zeitung hat eine Lektion besucht. --spr
Besondere Turnlektionen für Oberstufenschülerinnen am Bünzmatt
Das Selbstbewusstsein stärken, die Grenzen setzen. An der Oberstufe im Bünzmatt wird ein besonderer Kurs angeboten. Ein Einblick in die Lektion zeigt, wie wichtig die Thematik ist.
Stefan Sprenger
Sein Outfit erinnert an einen Bombenentschärfer. Sekundarschullehrer Claude Hasler ist in Vollmontur und bereit, Prügel einzustecken. In der Turnhalle im Bünzmatt wird mit Matten am Boden eine imaginäre Unterführung markiert. In solch einer Umgebung könnte es sein, dass eine Frau körperlich angegriffen wird.
«Lass mich in Ruhe»
Die Schülerinnen der ersten Oberstufe versuchen an diesem Montagmorgen ihren Angreifer in die Schranken zu weisen. Erst mit einem lauten «Stopp», dann mit weiteren direkten Worten wie «Geh weg» und «Lass mich in Ruhe». Und wenn alles nichts nützt, setzen sie sich auch körperlich zur Wehr. Mit einem Handballenstoss, einem Kick in den Intimbereich oder einem Hammerschlag. All diese Techniken haben sie zuvor geübt. Und sie wenden sie auch an.
Ganz unterschiedlich gehen die jungen Frauen ans Werk. Während ein paar schon mit einer lauten Stimme für Abschreckung sorgen, können andere schon ziemlich deftig zuhauen. Der Angreifer – also Lehrer Hasler – kassiert reihenweise Tritte zwischen die Beine oder auf den Kopf.
Diese Lektion in Selbstverteidigung und Selbstbehauptung soll die jungen Frauen auch aufs Leben vorbereiten.
Erschreckende Statistiken
Schulsozialarbeiterin Vanessa Caminada wollte schon länger die Ausbildung für diese Selbstverteidigungskurse machen. Gemeinsam mit Claude Hasler hat sie dies dann getan. Bei Pallas – einer 1994 gegründeten Interessensgemeinschaft – wurden sie fündig. Dort werden Kurse in Selbstbehauptung und Selbstverteidigung für Frauen und Mädchen angeboten. «Aktive Gewaltprävention sowie Gefahren erkennen, Grenzen setzen und sich erfolgreich behaupten», schreibt Pallas über das eigene Kursangebot.
Schulsozialarbeiterin Caminada findet das Thema enorm wichtig. «Aus der Opferrolle schlüpfen, sich zur Wehr setzen. Für junge Frauen ist dies wichtig. Denn tätliche Angriffe auf Frauen gibt es viel zu viele. Diese passieren aber selten in einer Unterführung, sondern viel mehr im privaten Umfeld. Vom Partner beispielsweise.»
Zahlen belegen diese Aussage: Im Jahr 2022 wurden von der Polizei 19 978 Straftaten im häuslichen Bereich registriert, dies entspricht einer Zunahme von 3,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr (ein Plus von 637 Straftaten). 70 Prozent der geschädigten Personen sind Frauen. Alle drei Wochen wird in der Schweiz eine Frau von ihrem (Ex-)Partner ermordet. Jede fünfte Frau in der Schweiz wird im Verlaufe ihres Lebens Opfer von häuslicher Gewalt.
Mit diesem Kurs will man am Bünzmattschulhaus dafür sorgen, dass die jungen Frauen lernen, wie sie sich wehren können. Auch Themen wie Emotionen und Gewalt in einer Beziehung werden besprochen. Vanessa Caminada weiss als ehemalige Frauenhausmitarbeiterin sehr gut, «wie schambehaftet das Thema ist und wie schwer es ist, Hilfe zu holen», wie sie sagt.
Von total drei Sportstunden der ersten Oberstufenklasse ist eine jeweils eine genderspezifische Lektion. Die Mädchen absolvieren diesen Kurs in Selbstverteidigung und Selbstbehauptung. «Bei den Jungs geht es eher um den Umgang mit Grenzen und um Selbstbehauptung», sagt Caminada. Hasler fügt an: «Der Lehrplan 21 hat auch zum Ziel, die Jugendlichen besser auf das wahre Leben vorzubereiten. Ich glaube, dieser Kurs hilft dabei, dass man sich in einer Notlage besser zur Wehr setzen kann.» Die Hoffnung ist natürlich, dass die jungen Frauen in ihrem Leben gar nie in eine solche Extremsituation kommen. «Sie holen sich hier nicht den schwarzen Gürtel und verteilen Profiluftkicks, aber sie können quasi ausprobieren, wie es ist, wenn man in so eine Situation kommt und sich dann zur Wehr setzen muss. Ich glaube, das hilft, denn man merkt es auch hier in der Lektion. Die Jungs sind es sich eher gewohnt, mal zu raufen. Mädchen haben Schlaghemmungen. Hier dürfen sie mal draufhauen», sagt Hasler.
Die Reaktionen der Schülerinnen sind unterschiedlich. «Es gibt solche, die finden es enorm wichtig und schätzen es sehr. Andere würden lieber auf die Eisbahn gehen und Schlittschuh laufen», sagt Caminada.
Ab sofort sollen alle Schülerinnen der 1. Oberstufe diesen Kurs, bestehend aus 14 Lektionen, besuchen dürfen. In der letzten Stunde dürfen die Schülerinnen ein Brett – gesponsert von der R+S Schreinerei in Wohlen – mit blossen Händen zerschlagen. «Das ist keine Hexerei, aber es braucht Entschlossenheit und den Glauben an die eigene Stärke», sagt Hasler.
Caminada und Hasler möchten den Jugendlichen mit diesem Angebot helfen, dass sie selbst Grenzen setzen und sich wehren können. «Und sie haben sogar die Chance, mal einen Lehrer zu verklopfen», lacht Hasler – und kassiert den nächsten Tritt. Das nennt man wohl vollsten Einsatz zum Wohl der Schülerinnen.




