Keine Angst, sich festzulegen
30.12.2025 Villmergen, Region UnterfreiamtJunger Hausarzt in Villmergen
Es ist ein Schritt, den nicht viele junge Menschen wagen. Zu wenige, angesichts der tiefen Hausarztdichte im Freiamt. Marius Stettler aber hat ihn gewagt. Per August übernahm der 34-Jährige mit anderen Ärztinnen und Ärzten ...
Junger Hausarzt in Villmergen
Es ist ein Schritt, den nicht viele junge Menschen wagen. Zu wenige, angesichts der tiefen Hausarztdichte im Freiamt. Marius Stettler aber hat ihn gewagt. Per August übernahm der 34-Jährige mit anderen Ärztinnen und Ärzten eine Hausarztpraxis. Auch wenn die ersten Wochen und Monate intensiv waren, sagt Stettler: «Ich bin froh, diesen Schritt gewagt zu haben.» Er spricht von seiner Faszination für die Medizin und darüber, was ihm daran gefällt, Hausarzt zu sein. --ake
«2025 verändert»: Der junge Hausarzt Marius Stettler übernahm eine Praxis in Villmergen
2024 hat er das Medizinstudium abgeschlossen, alle Praktika absolviert. Ein Jahr später hat er zusammen mit drei weiteren Ärztinnen eine eigene Praxis. Marius Stettler erklärt, was ihn an der Allgemeinmedizin fasziniert und weshalb er den grossen Schritt in die Selbstständigkeit wagte.
Annemarie Keusch
Eigentlich hat er frei an diesem Nachmittag. Aber einer älteren Frau geht es nicht gut, der Praxisbesuch ist zu umständlich. Also geht Marius Stettler bei ihr vorbei. Dass Selbstständige auch arbeiten, wenn sie frei haben, das sei in vielen Branchen keine Seltenheit. «Ich will das so», sagt er. Eine enge Beziehung zu den Patientinnen und Patienten war schon Regula und Roland Schumacher wichtig. Viele Jahre führten die beiden die Praxis in Villmergen, die Stettler im August zusammen mit Hausärztin Claudia Khov und den Gynäkologinnen Klara Wille und Deborah Garaventa übernahm. Während die drei Frauen vorher schon zum Ärzte-Team gehörten, kam Stettler neu dazu. «Eine grosse Chance für mich», sagt er. Dennoch, es ist ein Weg, den wenige – zu wenige – junge Ärztinnen und Ärzte wählen. Viele Hausarztpraxen, gerade in ländlichen Gebieten, finden kaum Nachfolgelösungen. Die Hausärztedichte im Kanton Aargau lag 2021 unter 0,57 pro 1000 Einwohner, im Freiamt sogar bei weniger als 0,4 – ein Hausarzt pro 1000 Einwohner wäre die Empfehlung.
Warum das so ist? «Ich kann es nicht genau sagen.» Vielleicht liege es daran, dass mehr Leute Spezialisten und weniger Generalisten sein wollen. «Wenn jemand eine tiefe Begeisterung etwa für das Herz spürt und dann Kardiologe wird, dann liegt das auf der Hand.» So ging es ihm aber nie. «Mich hat alles fasziniert.» Vielleicht liege es auch daran, dass er in Bern studiert habe, wo die Allgemeinmedizin speziell gefördert wird. Vor allem aber sagt Marius Stettler: «In der Allgemeinmedizin wird breites Wissen vermittelt, das gefällt mir. Auch wegen der Abwechslung, die es mit sich bringt.»
Nicht nur Arzt, auch «Übersetzer»
Dass aus ihm dereinst ein Arzt wird, das war nicht von Kindheit an klar. Obwohl die Medizin familiär ein grosses Thema war. Sein Grossvater war Arzt, seine Mutter hatte eine leitende Funktion bei der Spitex inne, seine Schwester ist Hebamme. «Mich interessierte die Medizin wegen der spannenden Mischung aus Naturwissenschaft und Kontakt zu den Menschen.» Der Berufswunsch entwickelte sich erst während der Kanti in Wohlen und manifestierte sich während des Studiums. Das gilt auch für den eingeschlagenen Weg als Allgemeinmediziner.
Per August hat er nun zusammen mit drei Ärztinnen die Praxis von Roland Schumacher in Villmergen übernommen, «VillMed» heisst sie mittlerweile. Vorher lernte Stettler natürlich auch den Alltag in Spitälern kennen, im Unispital in Zürich, aber auch im Spital Muri. «Als Hausarzt begleite ich Patientinnen und Patienten länger, sehe, wie sie sich nach einem Eingriff erholen. Das gefällt mir. Aber auch aus medizinischer Sicht ist der Alltag spannend und vielseitig.» Man sei miteinander auf dem Weg, nicht selten über viele Jahre hinweg. Kommt hinzu, dass sich Marius Stettler als Hausarzt auch als Vermittler sieht. Als «Übersetzer» zwischen Spezialisten und Patienten. «Wie eine Drehscheibe. Diese Funktion eines Hausarztes ist nicht zu unterschätzen.»
Grosse Chance nutzen
Die Hausarztpraxis in Villmergen kennt Stettler schon länger. Er hat hier Praktika absolviert. Es sei das Ländliche, das ihm zusage. «Ich spüre die Wertschätzung im Alltag enorm. Die Leute sind dankbar, gerade auch darüber, dass ein junger Arzt übernimmt.» Natürlich sei das schön, beflügle. Dennoch, Stettler weiss von seinen Studienkollegen, dass zwar der eine oder andere Allgemeinmediziner wurde, aber eine eigene Praxis führt ausser ihm niemand. «Sich festlegen, das wollen immer weniger Leute.» Stettler hat es getan. Warum? «Weil ich zeigen will, dass es funktioniert.» Und weil sich ihm eine grosse Chance bot. Weil sich die administrativen Aufgaben auf alle vier Ärzte verteilen. Weil er eine bestens funktionierende Praxis mitübernehmen konnte. Weil die Vorgänger unterstützend da sind. «Ihnen und ihrer Grosszügigkeit haben wir viel zu verdanken.»
Dennoch, es gab auch Zweifel. Daran, ob es auch wirtschaftlich funktioniert. «Solche Themen haben wir als Mediziner nicht in unserer DNA.» Schon jetzt sind diese Zweifel aber weg. «Es funktioniert gut.» Im Team, das mehrheitlich gleich geblieben ist. «Eigentlich war es nur für mich ein grosser Schritt», meint Marius Stettler und lacht. Einer, den er als geglückt bezeichnet. Auch wenn sich vieles noch einpendeln muss. Auch wenn der Aufwand noch viel grösser ist, als es seinem Pensum entsprechen würde. «Das ist wohl am Anfang nicht unüblich.» Er muss sich daran gewöhnen, nicht zu viel zu arbeiten. Er muss sich aber auch an die Freiheiten gewöhnen, die die Selbstständigkeit mit sich bringt. «Es ist ein total anderer Alltag und das braucht eben Zeit.» Der 34-Jährige ist froh, dass er dabei in seinem Umfeld auf viel Verständnis stösst.
Sieht nicht schwarz für Hausärzte
Fast 40 Jahre war sein Vorgänger in der Hausarztpraxis in Villmergen tätig. Marius Stettler lächelt. «Natürlich bin ich mir bewusst, dass ich nicht nach zwei Jahren wieder gehe.» Auch weil er überzeugt ist, dass der Hausarztberuf wieder an Attraktivität gewinnen wird. «Wenn man offen ist für neue Modelle.» Dass ein Arzt alleine eine Praxis führt und quasi rund um die Uhr für die Patienten da ist, ist sowieso längst Vergangenheit. Tiefere Pensen, Jobsharing, Gemeinschaftspraxen – das ist die Realität und noch mehr die Zukunft. Stettler kann sich durchaus vorstellen, in Zukunft ergänzend in einem Teilpensum an einem Spital tätig zu sein. «Im Spital ist man ganz nah am aktuellsten Wissen», nennt er ein Argument. Die Nähe, das Miteinander in der Gesundheitsregion Freiamt sei zudem sehr wertvoll.
Vorerst aber gilt «VillMed» der gesamte Fokus. Denn Perspektiven und Ideen hat Stettler auch hier. Er spricht davon, dass eine Ergänzung des Teams um eine weitere Hausärztin oder ein weiterer Hausarzt durchaus ein Thema sei. Es sind Pläne, die untermauern, was der Hausarzt fühlt: am richtigen Ort zu sein. «Ich bin froh, es gewagt zu haben.» Auch wenn aktuell die Freizeit, das Privatleben, noch mehr leidet, als es sollte. «Das wird sich einpendeln.» Und Stettler selbst wird daran wachsen, immer besser abschalten können. Die Balance werde kommen. «Sie muss», meint er und lacht.

