«Jetzt wirst du erschossen»
08.10.2024 WohlenUnterwegs im Nahen Osten
Der Konflikt im Nahen Osten bewegt die Menschen. Seit dem brutalen Überfall der Hamas vor einem Jahr kommt die Region nicht mehr zur Ruhe. Man kann sich kaum vorstellen, dass es einst anders war. Vor 60 Jahren reiste der Wohler Autor Lorenz ...
Unterwegs im Nahen Osten
Der Konflikt im Nahen Osten bewegt die Menschen. Seit dem brutalen Überfall der Hamas vor einem Jahr kommt die Region nicht mehr zur Ruhe. Man kann sich kaum vorstellen, dass es einst anders war. Vor 60 Jahren reiste der Wohler Autor Lorenz Stäger mit einem Studienfreund durch den Nahen Osten. Seine Erlebnisse von damals hat er in einem Text festgehalten. --red
Nahost-Reise von Lorenz Stäger vor genau 60 Jahren: Der Autor hielt das Erlebte in einem Buch fest
Genau vor 60 Jahren, am 7. Oktober 1964, ist Lorenz Stäger von seiner abenteuerlichen Reise zurückgekehrt. Mit dem eigenen Mercedes ging es damals in den Nahen Osten. Eine besondere Fahrt. Einblicke in die damalige Welt.
«Kinder, Camper und Gelehrte». So lautet der Titel des 1993 erschienenen Buches von Lorenz Stäger. Dabei ist der Wohler Autor und ehemalige Kanti-Lehrer «auf den Spuren der Geschichte durch Syrien und Jordanien». Ein Kapitel des Buches widmet Lorenz Stäger einer früheren Reise durch den Nahen Osten, die er mit seinem Studienkollegen Rudolf Fischer von August bis Anfang Oktober 1964, also vor genau 60 Jahren, unternommen hatte.
Die aussergewöhnliche Fahrt im Privatauto (Mercedes Jahrgang 1958) führte von der Schweiz aus durch Jugoslawien und die Türkei nach Syrien, Libanon, Jordanien, Irak, Persien und zurück. Autobahnen gab es damals noch nicht, oftmals nur bessere Schotterstrassen. Nun, 60 Jahre später, ist die Welt eine andere, auch im Nahen Osten.
Nachfolgend einige Auszüge aus dem Buch, zum Teil in Form von stichwortartigen Notizen aus dem Reisetagebuch.
Von der Schweiz in die Südtürkei
Bis Istanbul reiste mein damals 18-jähriger Bruder Heini (heute Wohler Lokalhistoriker) mit. Misstrauen am jugoslawischen Zoll: Die Zöllner vermuten in uns Uhrenschmuggler und beginnen systematisch zu suchen. Glücklicherweise finden sie unsere Browning-Pistole, die wir samt Patronen unter Zucker und Teigwaren versteckt haben, nicht. Sie sollte uns gegen Wegelagerer auf abgelegenen Strecken am Persischen Golf schützen. Über Nacht wird in Smederewo der erste Raddeckel geklaut, in Nisch der erste Schlauch repariert.
Ab Nisch kein Asphalt mehr, dafür wildromantische Gegend. In Bulgarien zweite Schlauchreparatur: Vulkanisieren mit Meta-Tablette in Nescafé-Deckel. Eine Woche lang durchstreifen wir Istanbul, die alte Hauptstadt des oströmischen und osmanischen Reiches. Vor der Hagia Sophia treffen wir auf eine Gruppe von Zürcher Studenten, die mit Professor Marcel Beck eine der legendären «Orientfahrten» unternimmt. Der spätere aargauische Staatsarchivar Dr. Roman Brüschweiler ist unter ihnen. Eine Fähre bringt uns über den Bosporus nach Asien (damals gab es noch keine Brücke). Ankara (Hethitermuseum und Monumentum Ancyranum), dann die Ruinen der einstigen Hethiter-Hauptstadt Hattusa beim Dorf Bogazkale sowie Kayseri mit den Höhlenkirchen in der Mondlandschaft um Ürgüp sind unsere nächsten Ziele. Die Übernachtung in einem Landgasthof kostet umgerechnet einen Franken, das Nachtessen mit einem Liter Wein zwei Franken. Abends Musik auf Saiteninstrumenten, es wird gesungen und getanzt (nur Männer!).
Autounfall in Nordsyrien
Die Grenzformalitäten am syrischen Grenzposten Bab el Hawa verlaufen zügig. In einem Dorf vor Aleppo stehen zwei etwa elfjährige Knaben am Strassenrand. Ich hupe. Der eine rennt über die Strasse, der zweite folgt ihm blindlings, läuft in unseren Wagen und wird mehrere Meter weit weggeschleudert. Im Nu ist unser Auto von der Dorfbevölkerung umringt, die Türen werden aufgerissen, bedrohlich klingende Rufe sind zu hören. Erinnerungen an Berichte über Lynchjustiz in ähnlichen Fällen tauchen auf. Einige alte Männer sprechen beruhigend auf die Menge ein. Wir wollen den wimmernden und blutenden Buben unverzüglich ins nächste Spital bringen. Das wird uns verwehrt: «Zuerst zur Polizei!» Dort werden wir eine Stunde lang verhört und müssen ein arabisch verfasstes Protokoll unterschreiben. Erst anschliessend fahren wir in Begleitung von zwei Polizisten nach Aleppo. Die Verletzungen erweisen sich als weniger schwer als erwartet. Zentnersteine fallen mir vom Herzen. «Alhamdulillah – Lob sei Gott!», sage ich zum Vater des Knaben, der es mit ernster Miene wiederholt.
Als Unfallverursacher bleibe ich auf dem lokalen Polizeiposten in Haft bis zur gerichtlichen Erledigung des Falles. Am nächsten Morgen machen wir uns für die Fahrt zum Gericht in Aleppo bereit. Ein dicker Polizist kramt einige Patronen aus der Schublade und lädt seinen Karabiner. «Jetzt wirst du erschossen», bemerkt er gemütlich. Im Gang des Gerichtsgebäudes warten mit Fussketten gefesselte Gefangene. Ich werde dem Richter vorgeführt. Nach einem lauten Disput mit den in einer Ecke am Boden kauernden Anklägern verurteilt mich der Richter zu einer, für Schweizer Verhältnisse bescheidenen, finanziellen Entschädigung von umgerechnet 130 Franken. Grosses innerliches Aufatmen.
Über Hama am Fluss Orontes, der seit Jahrhunderten mitten in der Stadt die riesigen ächzenden Wasserschöpfräder treibt, führt die Fahrt nach Homs, dann ostwärts in die Wüstenstadt Palmyra. Wir logieren im legendären Hotel Zenobia und ärgern uns über lärmende Gruppentouristen.
Libanesisches Zwischenspiel
Unser nächstes Land ist der Libanon. Am Zoll will man uns zum x-ten Mal den Mercedes abkaufen.
Wir übernachten in Djebail (Byblos) in einer Familienpension. Touristenprospekte nennen Byblos die älteste Stadt der Welt. Sie war einst ein Umschlagplatz für ägyptischen Papyrus, der auf griechisch byblos heisst. Dieser zu Schreibmaterial verarbeitete Pflanze verdankt die Stadt den neuen Namen (auch das Wort Bibel ist davon abgeleitet – über «biblion» = Buch).
Grossartig wird die Fahrt vom Meeresstrand hinauf auf das Libanon-Gebirge, dessen Gipfel 3088 m ü. M. erreicht. Die schmale Strasse führt, ohne Geländer, an Abgründen vorbei zum 2600 m ü. M. gelegenen Col des Cèdres. Der oberste Teil der Passstrasse ist nicht asphaltiert, die Aussicht in die zwischen Libanon und Antilibanon liegende Bekaa-Hochebene dafür überwältigend. In dieser Ebene befinden sich die gewaltigen Tempelanlagen von Baalbek, in denen alljährlich das Baalbek International Festival stattfindet. Dieses Jahr u. a. mit den «Festival Strings Lucerne» unter der Leitung von Rudolf Baumgartner.
Die schönste Altstadt der Welt
In Jerusalem (Ostjerusalem und das Westjordanland waren bis 1967 noch jordanische) logieren wir für einige Tage in einem einfachen Hospiz in Bethanien. Zwei Dollar (damaliger Kurs Fr. 4.29) verlangt der italienische Klosterbruder für Nachtessen, Zimmer und Frühstück. Cesar E. Dubler, Wohler Bürger und mein Arabisch-Professor an der Universität Zürich, hatte mich besonders auf die Altstadt von Jerusalem hingewiesen, die er für die schönste auf der ganzen Welt hielt. Wir müssen ihm recht geben. Ein Spaziergang durch die verwirrenden engen Gässchen mit den Handwerkerbuden und überwölbten Kaufläden ist ein gewaltiges Erlebnis für Augen, Ohr und Nase.
Zu einem weiteren Erlebnis wird der 700 v. Chr. erbaute Siloah-Kanal, ein unbeleuchteter, über 500 Meter langer schmaler und gelegentlich bloss 1,45 m hoher Tunnel, der einst der Wasserversorgung Jerusalems diente. In Badehosen und barfuss, eine flackernde kleine Kerze in der Hand, wate ich hinter dem Führer durch das knietiefe Wasser.
Kostenlose Blinddarmoperation am Persischen Golf
Nach einem Abstecher nach Aqaba am Roten Meer und einer Tageswanderung durch Petra verlassen wir Jordanien in Richtung Irak. Die Strasse, mit vielen militärischen Kontrollposten, führt der Pipeline entlang, die einst in Haifa endete. Der jordanische Zoll befindet sich bei der Pumpstation H 4, etwa 100 km vor der eigentlichen Grenze. Nachts halb zehn Uhr erreichen wir nach einer 800 Kilometer langen Fahrt Ar-Ramadi am Euphrat. Ich fühle mich unwohl und habe hohes Fieber.
Nächstes Ziel ist Bagdad, eine der heissesten Städte der Welt. 45 Grad werden offiziell gemessen, und unser Auto hat keine Klimaanlage. Weitere 600 Kilometer sind es dem Tigris entlang über Al-Amara nach Basra. Ständig Kontrollposten, es wird notiert und gestempelt.
In der abendlichen Dunkelheit verirren wir uns und erwischen die Strasse nach Kuweit. Ringsum flackern Gasflammen über den Ölfeldern. Wir wenden und finden in Basra todmüde ein Hotel. Im Garten und auf dem Dach stehen zu Dutzenden Betten von Gästen, die Kühlung suchen. Wegen meines Fiebers leisten wir uns den Luxus eines klimatisierten Zimmers.
Ein Blick in alte Flugpläne zeigt, welch bedeutender Etappenort Basra einst für die Flüge nach Indien und dem Fernen Osten war. Charles Schärer, aus Wohlen-Anglikon stammend und entfernt verwandt, war hier in den Vierzigerjahren Direktor des Flughafenhotel.
Eine Fähre bringt uns über den Schatt el-Arab, dem gemeinsamen Unterlauf von Euphrat und Tigris. Jenseits gibt es keine Strasse mehr. Auf den 50 Kilometern bis zum persischen Zollgebäude muss man sich den Weg durch die grau-braune Wüstenebene selbst suchen. Freundliche, aber langwierige Prozedur. Staubstürme erschweren die Sicht, wir verfahren uns erneut und entdecken einen Wegweiser zu einem Ölfeld der NIOC (National Iranian Oil Company) bei Aga Jari. Ich habe heftige Bauchschmerzen und Fieber, fühle mich hundeelend und bitte Ruedi, zum Ölfeld zu fahren. Dort erhalten wir ein klimatisiertes Zimmer in einem Bungalow, ein Arzt wird geholt. Vermutlich Blinddarm.
Anderntags werde ich im kleinen Firmen-Spital, mit 14 Betten, operiert. Der persische Arzt behauptet schmunzelnd, in einer Woche könne ich wieder boxen. Jeweils um Mitternacht kurze Spaziergänge der Patienten im Freien. Tagsüber ist es zu heiss. Der Flugplatz meldet 47 Grad, vor einer Woche sogar 52 Grad. Genau am achten Tag nach der Operation steht morgens um fünf Ruedi im Zimmer, um mich abzuholen. Der ganze Aufenthalt, inklusive medizinische Behandlung, ist gratis. «Sorry, wir haben keine Rechnungsformulare!» Nach herzlicher Verabschiedung beginnen wir die 450-km-Fahrt nach Shiraz, die 13 mühsame Stunden dauern wird.
Nach 150 Kilometern hört der Asphalt auf. In zahllosen Kurven windet sich die Schotterstrasse durch und über die Berge bis auf über 2000 m hinauf. Staub, Hitze und Dauer-Rüttlerei machen uns zu schaffen. Ich habe 14 Tage Fahrverbot. Ruedi muss alles allein fahren, während ich mich als frisch Operierter krampfhaft festklammere. Wir erreichen Shiraz erst in der Dunkelheit. Ein junger Perser lädt uns zu Bier, Fladenbrot und rohen Zwiebeln ein. Nicht gerade Rekonvaleszentenkost.
Heimfahrt über Teheran, das Kaspische Meer und die Türkei
In mehreren Etappen durchqueren wir Persien von Süden nach Norden. Ausführlicher Besuch der von Alexander dem Grossen 330 v. Chr. in Brand gesteckten achämenidischen Palastanlage von Persepolis, ebenso Isfahans, der einstigen persischen Hauptstadt.
Von Teheran aus überqueren wir das Elbursgebirge, dessen höchster Punkt der 5670 Meter hohe Demavend bildet.
Wir wählen den Chalus-Pass mit dem auf 2800 m Höhe gelegenen Scheiteltunnel. Fast dreitausend Höhenmeter windet sich die Strasse auf der nördlichen Seite des Gebirges zum 26 Meter unter dem Meeresspiegel liegenden Kaspischen Meer hinunter.
Bei Astara führt die Schotterstrasse wieder auf das Hochland hinauf, entlang der mit Wachttürmen und Kahlstreifen gesicherten (damals noch) russischen Grenze. Natürlich ist Fotografieren strengstens verboten, und natürlich machen wir mit «versteckter Kamera» einige gute Aufnahmen von den grüngestrichenen Wachttürmen. Nach der Überquerung von zwei Pässen und einem Radwechsel (ein persischer Lastwagenchauffeur hilft uns, da ich nichts heben darf) erreichen wir Täbriz, die zweitgrösste Stadt Persiens.
Die nächsten 330 km Strasse bis zur türkischen Grenze sind ein zermürbendes «Wellblech». Es folgen 2000 Kilometer über Erzurum (ein weiteres Mal muss ein Pneu samt Schlauch ersetzt werden), Malatya, Kayseri und Ankara nach Istanbul.
Wieder in der Schweiz am 7. Oktober: Man ist erstaunt, dass wir schon daheim sind, da unsere Karten aus dem persischen Täbriz erst heute Morgen angekommen sind …
Wir haben in den zwei Monaten total 16 322 Kilometer zurückgelegt und zusammen zehn Kilo abgenommen.
Lorenz Stäger



