Meine Mutter starb im Sommer 2001, kurz bevor die beiden Flugzeuge ins World Trade Center rasten und die Welt eine andere wurde. Bei uns zu Hause stürzten keine Türme ein, aber fast unmerkbar das selbstverständliche Familiengefüge. Als habe man aus einem Gebilde den ...
Meine Mutter starb im Sommer 2001, kurz bevor die beiden Flugzeuge ins World Trade Center rasten und die Welt eine andere wurde. Bei uns zu Hause stürzten keine Türme ein, aber fast unmerkbar das selbstverständliche Familiengefüge. Als habe man aus einem Gebilde den untersten Stein herausgerissen. Wir feierten weiter wunderbare Familienfeste, blieben einander verbunden. Aber etwas war nicht mehr wie früher. Etwas fehlte. Sie.
Ich stand längst auf eigenen Beinen, hatte Familie, zwei fröhliche kleine Buben und ein erfüllendes Berufskaleidoskop. Mir blieb kaum Zeit zum Trauern. Und doch begleitete mich meine Mutter jeden Tag, in meinen Gedanken und in meinem Herzen. Bis heute. Wenn ich Gerichte nach ihren Rezepten koche, wenn ich Blumen zu einem Strauss arrangiere, wenn mir Worte entweichen, die nur sie benutzte. Und immer häufiger, wenn ich in den Spiegel schaue. Ich ähnele ihr immer mehr.
Heute habe ich Geburtstag. Das hatte ich schon oft, aber dieser ist ein ganz besonderer. Seit Monaten denke ich mich zu diesem Tag hin, mit einem mulmig-wehmütigen Gefühl. Zu diesem Tag, an dem ich das Alter meiner Mutter erreiche. Natürlich starb sie nicht an ihrem Geburtstag, sondern kurz danach. 17 Tage später. Umgerechnet auf mein Leben wäre das der 20. Oktober. Wenn es nicht ganz dumm läuft, werde ich diesen Tag erleben, werde mit meiner Mutter an der Ziellinie ihres Lebens stehen. Und dann einfach weitergehen. Ich werde älter als meine Mutter sein. Mir ist, als würde ich Neuland betreten.
Wenn ich an all meine Pläne denke – an die Bikereise in Uganda, an mein Buchprojekt über die Ahnen und an mein fünf Wochen altes Enkeltöchterchen – dann ist jeder Tag ein Geschenk. Jedem einzelnen will ich sorgsam begegnen, selbst wenn in der Welt Türme einstürzen und sie immer noch mehr aus den Fugen gerät.