Geld, das im Hochofen landet
26.01.2024 Villmergen, Region UnterfreiamtUnnötig und letztlich teuer
Die Menge an nicht verwendeten und entsorgten Medikamenten nimmt ständig zu
Die Kosten im Gesundheitswesen bewegen sich nur immer nach oben. Da erscheint es fast schon paradox, wie viele Medikamente ...
Unnötig und letztlich teuer
Die Menge an nicht verwendeten und entsorgten Medikamenten nimmt ständig zu
Die Kosten im Gesundheitswesen bewegen sich nur immer nach oben. Da erscheint es fast schon paradox, wie viele Medikamente weggeworfen werden.
Chregi Hansen
Irgendwann im Dezember lüpfte es Alain Jost den Hut. In der Villmerger Berg-Apotheke, die er mit seinem Bruder Pascal zusammen führt, stapelten sich inzwischen so viele Säcke mit entsorgten Medikamenten, dass der Lagerraum nicht mehr reichte. «Im August 2019 waren es noch 11 Altmedikamentensäcke. Jetzt haben wir 20 davon in zwei Monaten gesammelt! Das ist klar die falsche Tendenz», schrieb er zu einem Bild, das er in den Sozialen Medien teilte. «Ich habe enorm viele Reaktionen erhalten», berichtet er.
Die Menge habe klar zugenommen, bestätigt auch Vater Rudolf Jost. Er weiss, wovon er spricht. 40 Jahre führte er zusammen mit seiner Frau die Villmerger Apotheke, bevor er sie vor drei Jahren an seine Söhne übergab. Heute hilft der Senior-Chef regelmässig im Betrieb aus. Die Sortierung der zurückgegebenen Medikamenten gehört zu seinen Aufgaben. Dabei sind nicht verwendete Medikamente sowohl ökologisch wie ökonomisch ein Problem. Sie verursachen hohe Kosten, ohne dass sie einen Nutzen bringen. Und sie sind bei unsachgemässer Entsorgung eine Gefahr für die Umwelt. Darum sind die Apotheken seit 2001 zur Rücknahme verpf lichtet. Jost leistet diesen Effort gerne. Gleichzeitig ist er überzeugt, dass sich diese Abfallmenge auf einfache Weise reduzieren lässt.
In der Berg-Apotheke in Villmergen wird immer mehr Medikamenten-Abfall abgegeben
Viele Medikamente in der Schweiz werden nicht gebraucht, sondern entsorgt. In den letzten vier Jahren hat sich die abgegebene Menge in Villmergen fast verdoppelt. Für die Apotheke viel Arbeit. «Sowohl ökonomisch wie ökologisch ist das ein Problem», sagt Rudolf Jost.
Chregi Hansen
Zwar hat er die Apotheke an seine Söhne übergeben, trotzdem hilft Rudolf Jost regelmässig im Betrieb mit. Der erste Gang führt ihn meist ins Lager, wo die zurückgebrachten Medikamente gesammelt werden. «Die Menge hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen», sagt der erfahrene Apotheker, während er die erste Tüte in die Hand nimmt und durchwühlt und eine halbvolle Packung Dafalgan herauszieht.
Die Zunahme wird zum Problem. Denn Medikament ist nicht gleich Medikament. Je nach Produkt muss es anders entsorgt werden. Heisst: Der Apotheker oder die Pharma-Assistentin müssen die Säcke Packung für Packung kontrollieren und dann sortieren. Und dabei aufpassen, dass sie nicht etwa gestochen werden, zum Beispiel durch eine Spritze oder ein zerbrochenes Fläschchen. Und immer wieder staunt Rudolf Jost, was er alles findet. «Es kommt immer wieder vor, dass ich auf eine ungeöffnete und gar noch versiegelte Packung treffe. Oder dass im Blister nur eine oder zwei Tabletten fehlen. Dann weiss ich, das Medikament wurde nie oder nur ganz kurzzeitig genommen», berichtet der Senior-Chef. Trotz ärztlicher Verordnung.
Ausbau der Kapazitäten nötig
Vor Kurzem hat Sohn Alain Jost ein Foto der Abfallmenge in den sozialen Medien veröffentlicht und auf das Problem aufmerksam gemacht. «Ich habe enorm viele Reaktionen erhalten», berichtet er. 20 grosse Säcke waren es zuletzt in zwei Monaten, dazu diverse Kisten für die speziellen Abfälle. Der dafür vorgesehene Abstellraum reicht kaum noch aus. Aber auch der Zeitaufwand für das Kontrollieren und Sortieren nimmt immer mehr zu. «Wir mussten vor Kurzem zusätzliche Kapazitäten dafür bereitstellen», sagt Bruder Pascal Jost, der als Apotheker zusammen mit Alain die Berg-Apotheke heute leitet.
Die Entsorgung der Medikamente ist in der Schweiz klar geregelt. Seit 2001 gilt eine Rücknahmepflicht. Die Vorschriften umfassen inzwischen einen ganzen Ordner. Das sei an sich richtig, findet Alain Jost, denn viele der Medikamente enthalten Stoffe, die nicht in den normalen Abfall gehören oder die nicht in die Umwelt gelangen sollten. Den Rest des Hustensafts einfach ins WC zu schmeissen, ist also eine ganz schlechte Idee. Die Abfälle werden daher meist in speziellen Hochöfen verbrannt. Neben der Umwelt- und Gesundheitsgefährdung durch infektiöse Abfälle oder Wirkstoffe besteht auch eine Kontaminations- und Verletzungsgefahr. Darum dürfen nur geschulte Personen diese entgegennehmen.
«Wir versuchen, die Grobsortierung jeweils im Beisein der Kunden durchzuführen und sie auf bestimmte Themen aufmerksam zu machen», erklärt Rudolf Jost. «Wenn beispielsweise in einer Hunderter-Schachtel nur einige wenige Tabletten fehlen, erklären wir, dass es diese auch in kleineren Packungen gibt.» Nicht immer aber sehe man auf den ersten Blick, um welches Medikament es sich handelt. «Wir sind froh, wenn sie noch in der Originalpackung sind», sagt der erfahrene Apotheker darum.
Pauschale deckt Aufwand nicht
Der Aufwand, den das Team der Berg-Apotheke leisten muss, wird immer grösser. Honoriert wird er nur mit einer kleinen, jährlichen Pauschale. «Diese deckt unsere Kosten bei Weitem nicht», macht Pascal Jost deutlich. Doch das sei gar nicht das Hauptproblem. Es seien die hohen Kosten, die im Gesundheitssystem anfallen und die Prämien steigen lassen. Und das für Medikamente, die gar nicht verwendet werden. «Das teuerste Medikament ist dasjenige, welches man wegwirft», sagt darum Alain Jost. Dass die Menge zugenommen hat, hängt seiner Meinung nach auch mit den boomenden Online-Apotheken zusammen. «Sie schicken gerne grosse Mengen, weil sich das eher lohnt. Teilweise bieten sie auch Abos an. Dann kommen regelmässig neue Packungen. Egal ob man sie noch braucht oder nicht.» Zwar würden auch die Online-Apotheken eine Rücknahme anbieten, dafür würden die meisten Kunden aber lieber das Geschäft vor Ort nutzen, weil es eben unkomplizierter ist.
Apotheker kennt seine Kunden
Der erfahrene Apotheker Rudolf Jost sieht durchaus Möglichkeiten, die Abfallmenge zu reduzieren. Dazu müssten Ärzte, Apotheken und Patienten sich an eine ganz einfache Regel halten. «Nur so viel verschreiben wie nötig. Nur so viel abgeben wie nötig. Nur so viel einnehmen wie nötig», so sein Tipp. Als Apotheker vor Ort habe man den Patienten vor sich und könne ihn beraten. In vielen Fällen kenne man vorhandene Allergien oder Unverträglichkeiten und könne verhindern, dass ein falsches Medikament eingenommen wird. «Wir kennen unsere Patienten in den meisten Fällen. Sehen, was sie alles bekommen und in der Vergangenheit hatten», sagt Pascal Jost.
Abgabe in ärmere Länder nicht erlaubt
Auch die Werbung trage zur Abfallmenge bei. Da werde immer wieder mal ein bestimmtes Mittel gepusht und alle kaufen es auf Vorrat und brauchen es dann doch nicht. Und wenn sie später ihre Hausapotheke räumen, wird es weggeworfen. Als Beispiel nennt Rudolf Jost Neocitran, das finde man in fast allen Haushaltungen. Ein Problem sei auch, dass gewisse Medikamente derzeit nur schwer erhältlich sind. Dies führe zu Hamsterkäufen, welche die Mangellage nochmals verschärfen. Wobei Rudolf Jost da sogar ein gewisses Verständnis hat. «Wenn ich auf ein bestimmtes Herzmittel angewiesen bin, möchte ich auch die Sicherheit, dass ich es zu Hause habe. Blöd nur, wenn dann plötzlich ein anderes Medikament benötigt wird und ich auf ganz viel Abfall sitze.»
Viele der zurückgebrachten Medikamente wären eigentlich noch wirksam. Warum werden die nicht weiterverwendet oder beispielsweise in ärmere Länder exportiert? Früher sei dies gemacht worden, erklärt Rudolf Jost. «Aber das ist heute nicht mehr erlaubt. Erstens kann die Lieferkette nicht sichergestellt werden und zweitens wissen wir nicht, wie die Packungen vor der Entsorgung gelagert wurden, um sie wiederverwenden zu können. Für Spenden kommen diese Medikamente leider nicht mehr infrage. Das Aussortieren wäre viel zu teuer, um das herauszufiltern, was wirklich gebraucht werden kann», sagt er. Es sei daher besser, Geld statt Medikamente zu spenden.
Nicht in den normalen Kehricht
So bleibt also nur das Abgeben in der Apotheke und die fachgerechte Entsorgung. Wobei je nach Produkt besondere Regeln gelten. Ganz streng sind sie beispielsweise bei Betäubungsmitteln, damit diese nicht in falsche Hände geraten. Aber auch der Versand der Jodtabletten durch den Kanton verursacht aktuell viel Aufwand, weil viele die alten Packungen zurückbringen und diese jetzt speziell entsorgt werden müssen. Auch wenn der Aufwand gross ist und laufend zunimmt, ist die Berg-Apotheke dennoch froh, wenn die Medi-Abfälle bei ihnen und nicht im Hauskehricht landen. «Wir leisten die Arbeit gerne, auch wenn wir ab und zu den Kopf schütteln müssen», so Rudolf Jost. Sagt es und fischt eine ungebrauchte Flasche Flüssigseife aus einer Tüte. Gekauft und nie verwendet – ein Problem eben unserer Zeit.