Carmen Bärtschi, wohnt in Zürich, vormals Wohlen und Bremgarten.
Luzid träumen
«Schlaf ist der kleine Bruder des Todes», besagt ein altes Sprichwort. Dänische Wissenschaftler haben ...
Carmen Bärtschi, wohnt in Zürich, vormals Wohlen und Bremgarten.
Luzid träumen
«Schlaf ist der kleine Bruder des Todes», besagt ein altes Sprichwort. Dänische Wissenschaftler haben untersucht, ob Nahtoderfahrungen und Schlaf etwas gemeinsam haben, und prompt liessen sich Ähnlichkeiten finden. Unser Bewusstsein im Übergang zwischen Schlaf und Wachheit, Tod und Leben ähnelt sich anscheinend. Beide Bewusstseinszustände weisen eine Klarheit auf. «Luzid» nennt sich dies im Fachjargon.
Im Traum sowie bei Nahtoderfahrungen ist man sich bewusst, wer man ist und dass man träumt oder tot ist. Es besteht noch eine Entscheidungsfreiheit, das heisst, man kann ins Leben zurückgehen beziehungsweise den Traum steuern, wenn man möchte. Man ist klar und irgendwie wach, obwohl man schläft beziehungsweise beinahe tot ist. Wie im indianischen Realismus fliessen Traum und Wachbewusstsein ineinander. Der Übergang ist fliessend. Träume und Visionen geben dem Leben im indianischen Glauben Sinn und Richtung. Angesichts der Entwicklungen des letzten Jahrzehnts frage ich mich, ob die Menschheit eine gemeinsame Vision hat. Oder zumindest einen minimalen Konsens beziehungsweise gemeinsamen konzeptuellen Rahmen.
Michel Foucault spricht von einem Paradigmenwechsel, wenn der alte konzeptuelle Rahmen wegfällt. Zurzeit befinden wir uns in einem Paradigmensturm, der durch die Informationsflut befeuert wird. Gängige Bezugspunkte gibt es in unserer pluralistischen Gesellschaft nur wenige. Was als alltäglich galt, wird als Mainstream belächelt. Das alte Dogma der Zweigeschlechtlichkeit wurde aufgehoben, künstliche Ländergrenzen machen in einer globalen Klimakrise keinen Sinn mehr. Vieles, woran wir glaubten, gilt nicht mehr. Bezugspunkte fallen weg und doch sind wir weit davon entfernt, als Menschheit neue Begrifflichkeiten und neue Glaubenssätze entwickeln zu können. Viele suchen Halt in altbewährten Traditionen; beziehen sich dabei auf «gute alte Zeiten».
Wenn eine alte Weltanschauung stirbt und eine neue geboren wird, sprechen esoterische Gruppen von einem Erwachen. Ohne diesem Dualismus zu verfallen, könnten wir stattdessen sagen, dass die Welt zurzeit eine Nahtoderfahrung hat und nun mit Klarheit entscheiden muss, was uns Erdenbürger, Tiere und Pflanzen vereint. Damit wir weiter auf einer bewohnbaren Erde wandeln können.