Fürsorglicher Narr im Dienst
27.02.2024 Region OberfreiamtLachen ist die beste Medizin
Mit seiner Idee leistete der gebürtige Freiämter Urs Christoph Sibold Pionierarbeit: Dank seiner Initiative zählen seit 2018 Spitalclowns fest zum medizinischen Fachpersonal des Universitäts-Kinderspitals Zürich. Sie ...
Lachen ist die beste Medizin
Mit seiner Idee leistete der gebürtige Freiämter Urs Christoph Sibold Pionierarbeit: Dank seiner Initiative zählen seit 2018 Spitalclowns fest zum medizinischen Fachpersonal des Universitäts-Kinderspitals Zürich. Sie besuchen die Kinder auf den Stationen und begleiten sie in den Operationssaal. Die Redaktion begleitete Urs Sibold bei seiner Arbeit. --cbl
Der gebürtige Boswiler Urs Christoph Sibold ist offizieller Spitalclown am Universitäts-Kinderspital Zürich
Er ist der Tausendsassa schlechthin: Urs Sibold ist Musiker, Maler, Performer. Und erster fest angestellter Spitalclown der Schweiz. Egal, in welcher Form – mit Menschen eine gute Zeit zu verbringen, ist für ihn Lebenssinn. Die Liebe zur Kunst entdeckte er im Künstlerhaus in Boswil. Und die Macht des Lachens an schwierigen Kindheitstagen.
Celeste Blanc
«Hallohallo Dadidada?» Es ist der Anruf, auf den Prof. Dr. Dada schon den ganzen Tag gewartet hat. Der Spitalclown ist in Alarmbereitschaft, denn ein junger Patient ist auf seine Unterstützung angewiesen. Der neunjährige Samuel (Name von der Redaktion geändert) hat heute eine Herzoperation und wird von Dada in den OP begleitet. Also speedet der Professor los. Vorbei an Kindern, die ihm mit grossen Augen nachschauen. Erwidern tut Dada die neugierigen Blicke mit breitem Lächeln. Eigentlich nimmt sich der Clown immer Zeit für die jungen Patienten. Doch in diesem Moment ist eben alles ein bisschen anders. «Samuel wird nervös, wenn ich nicht da bin. Wir wollen, dass er beruhigt in die OP starten kann. Deshalb ist jetzt Eile angesagt.»
Hinter der Figur des verrückten Prof. Dr. Dada steckt Urs Christoph Sibold. Seit 2018 bekleidet er an der Seite von Kollegin Joy Winistörfer eine Anstellung als erster fest angestellter Spitalclown der Schweiz. Und das mit grossem Erfolg – seither ist der Fachbereich «Humorologie» am Kinderspital Zürich (Kispi) um zwei Mitarbeiter, konkret Prof. Prof. Giga (Judith Cuénod) und Dr. Dr. Knopf (Lienhard Anz), gewachsen. «Es ist immer noch überwältigend, dass dieser Traum in Erfüllung gegangen ist», meint der Künstler. «Denn das schliesst eine ganz grosse Lücke in der Betreuung von Kindern im Kispi, was sehr wertvoll ist.»
Man muss nicht immer nur lustig sein
Die Erscheinung des Professors ist imposant. Gross gewachsen ist er, hat ein gutmütiges Gesicht, strahlende Augen und ein scheinbar ewig währendes Lächeln. Hinzu kommt sein Berner Dialekt, der Prof. Dr. Dada eine ganz besondere Sympathie verleiht. Leichtfüssig hüpft Dada durch den Gang, gekleidet als Matrose, mit dem Arztköfferchen, auf dem die Maus Mathilda sitzt. «Sie ist die Brückenbauerin zu scheuen Kindern», stellt er sie vor. In der anderen Hand hält er den Spielzeugheli – mit diesem fliegt er durch die Gänge. «Wir wollen den Kindern ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich machen», erklärt der Professor, während er zu einem Mädchen im Rollstuhl läuft, lustige Geräusche macht und sie mit dem Helikopter umkreist. «Dazu gehört auch, im Alltag präsent zu sein und mit den Kindern zu interagieren.»
Blödsinn und Faxen machen, Unbeschwertheit hervorrufen, die Kinder emotional abholen – die Arbeit eines Spitalclowns ist vielseitig. Und dann herausfordernd, wenn es dem Kind eben nicht gut geht. Etwa, wenn es Schmerzen hat, sich vor der Spritze fürchtet oder Angst vor einem Eingriff hat. «Dann sind wir da, um auf die Bedürfnisse einzugehen. Es muss nicht immer alles lustig sein – manchmal halten wir auch einfach die Hand oder schreien mit.» Wichtig sei, dass man die Kinder, die einen Eingriff erleben mussten, so schnell wie möglich mit Spielen, Seifenblasen, Poesie und Humor in den Alltag zurückbringt.
Kunst ist ein wundervolles Ausbrechen
Wie man mit Patienten umgeht, darin ist Urs Sibold ein Experte. Er absolvierte seine Erstausbildung zum Krankenpfleger. Danach liess er sich für die Arbeit in der Psychiatrie weiterbilden, arbeitete in der psychiatrischen Rehabilitation mit Suchtkranken an der Universitätsklinik Waldau in Bern und war Ende der 1990er-Jahre am Pilotprojekt der «Kontrollierten Heroinabgabestelle Kontakt» der Stadt Bern involviert. «Das war teilweise echt heavy. Nach sieben Jahren brauchte ich einen Wechsel», blickt der 55-Jährige zurück. Es sollte fortan etwas Lustiges, Fröhliches, Kreatives sein. So absolvierte er nebst dem Projekt «Freitakt», das er als kreative Betätigung für suchtkranke Menschen aufzog, nebenbei die Jazzschule in Luzern. Einfach so, weil er leidenschaftlich gern Saxofon spielte. Und übte sich fortan in der Landschaftsfotografie und der Malerei in seinen Ateliers in Zürich und Bern. «Musizieren, Malen, Basteln – Kunst kann ein wundervolles Ausbrechen sein.»
Da sein, wenn man gebraucht wird
Schon früh wurde Sibold die Kunst mit auf den Weg gegeben. Er selbst stammt aus einer Künstlerfamilie. Sein Vater führte in den 1970er-Jahren eine Galerie, wo er Werke von vielen bekannten Schweizer Kunstmalern ausstellte, darunter vom Bündner Alois Carigiet, der durch das Bilderbuch «Schellenursli» Bekanntheit erlangte – was Inspiration für Sibolds Namen war. Die Mutter hingegen war das Herz der Familie. Kreativität und Fürsorge – diese Kombination brachte den Berner mit Freiämter Wurzeln 2000 zur Stiftung Theodora. Und die Arbeit als Clown, der kranke Kinder besucht, gefiel ihm so sehr, dass sie zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens wurde. Mit der Zeit entstand Sibolds «Alter Ego» Dada, den er wie eine zweite Haut mit sich trägt.
Vor 10 Jahren kam dann das Bedürfnis auf, sich mit Kollegin Joy Winistörfer, die in die Rolle der Prof. Prof. Flippa schlüpft, selbstständig machen. Auf einer Reise nach Israel lernte man das Konzept der fest angestellten Spitalclowns kennen, die fix zum medizinischen Fachpersonal gehören. 2017 lancierten Winistörfer und Sibold am Kinderspital Zürich eine zweijährige Pilotphase. Und schnell merkte man: Die Festanstellung eines Spitalclowns bringt einen wesentlichen Vorteil. «Kinder, die länger im Spital bleiben müssen, lernen uns kennen und verlieren die Scheu. So ist es möglich, eine Bindung zu ihnen aufzubauen, durch die sie uns ein Stück weit auch als Beschützer wahrnehmen können», weiss Sibold, der nun seit einigen Jahren in Zürich lebt.
Sensibilität ist wichtiger Bestandteil
Ein letztes Mal biegt Prof. Dr. Dada scharf um die Ecke. Endlich ist er bei Samuels Zimmer angekommen. Er klopft dreimal und ruft laut: «De Dadadada isch da!» Dada hat seinem Patienten ein Tablet mitgebracht – das gemeinsame Spielen macht Spass, auch elektronisch. Und der Professor freut sich insgeheim, dass Samuel den Gang in den OP so gut wegzustecken scheint. Samuel und Dada kennen sich schon lange. Aufgrund von Herzproblemen hat der junge Patient schon viele Stunden im Kinderspital verbracht. Nun soll ein weiterer Eingriff endlich Besserung bringen.
Die Spitalclowns sind heute aus der Betreuung am Kinderspital nicht mehr wegzudenken. Man sei weder Arzt noch Betreuungsperson, vor der man Respekt hat. Und man sei auch kein Elternteil, bei dem man die Sorgen spürt. «Doch man ist definitiv Plüschtier, starker Superheld oder Comicfigur.» Oder eben jemand, der aus einem Märchen entsprungen ist, etwa ein fürsorglicher Hofnarr. 2019 entstand dann offiziell am Kinderspital in Zürich der Fachbereich «Humorologie». Und auch die «interdisziplinären Auswirkungen» des Projekts seien mittlerweile auf jeder Station spürbar. So gehören Kisten mit Spielsachen und Beschäftigungsmitteln, beispielsweise Büchlein oder Seifenblasen, auf allen Stockwerken zum festen Equipment. Auch Ablenkungsmethoden wie der «Magic Glove» (dt.: magischer Handschuh), eine hypnotische Schmerzbehandlungsform, werden eingesetzt. «Die Sensibilität ist das grosse Schlagwort. Mit Kindern im Spital sollte man behutsam umgehen. Noch weniger als Erwachsene verstehen sie, was im Krankenhaus passiert. Daher sind sie anfälliger für Traumata», erklärt Sibold. Deshalb kann das Kind mit Rückendeckung des Spitalclowns bis zu einem gewissen Grad mitbestimmen, wie es behandelt werden möchte. Doch Sibold stellt auch klar: «Es ist ein schmaler Grat zwischen dem achtsamen Umgang und dem ‹Verbäbelen› – am Schluss entscheidet das medizinische Fachpersonal.»
Ein magischer Ort
Im Operationssaal angekommen, nimmt die Anästhesistin den Patienten in Empfang. «Bald wirst du träumen», meint sie liebevoll und stellt sich zwischen Prof. Dr. Dada und Samuels Vater. «Weisst du schon, wo es hingeht?» «Mit dem Autorennen fahre ich in die Narkose», meint Samuel. Ihm wird die Narkosemaske aufgesetzt. Nur wenige Minuten dauert es, bis die bis dahin zappeligen Füsse ruhiger werden und Samuel einschläft. Noch ein letzter Kuss von Vater Roger. Danach wird er von Dada aus dem Saal begleitet.
Vor dem OP-Saal legt er Samuels Vater die Hand auf die Schulter und fragt: «Alles gut bei dir?» Doch der Vater bringt kein Wort heraus – stattdessen bricht er in Tränen aus. Und wieder ist Dada zur Stelle. «Lass es raus, jetzt können die Emotionen f liessen. Das wird schon wieder.» Denn die Spitalclowns, sie sind nicht nur für die Kinder da, sondern auch für die Eltern wichtig, bieten eine Schulter, sind Ansprechperson – und haben neben dem Spielzeug auch immer Nastücher im Köfferchen. Dass Freud und Leid nahe beieinanderliegen können, das hat Urs Sibold bereits in seiner Kindheit erfahren. Bis zu seinem 11. Lebensjahr lebte der Tausendsassa in Boswil. Und wurde vor allem von den Künstlerinnen und Künstlern in der Alten Kirche geprägt. «Ein magischer Ort, noch heute», schwärmt er.
Dieser Ort und seine Freunde seien es gewesen, die ihm in seiner Kindheit schöne Momente gespendet haben. «Ich wie auch meine Kollegen hatten es nicht leicht zu Hause, kamen teilweise aus zerrütteten Familienverhältnissen. Das hat in diesem Kindsalter Spuren hinterlassen.» Doch die verwunschene Umgebung der Alten Kirche liess die Kinder träumen und die grössten Abenteuer entdecken. «Hinzu kamen die Künstlerinnen und Künstler, die damals noch da lebten. Sie waren quirlig, humorvoll, hatten Lebensfreude und eine Jugendlichkeit bewahrt, die mich als Kind total fasziniert hat.» Vielleicht sei er auch deswegen heute so multifunktional unterwegs. «Vermutlich ist die Alte Kirche Boswil die tatsächliche Wiege meiner Kunstleidenschaft.»
Prof. Dr. Dada, der nach dem Gespräch mit Samuels Vater nun in seinem Büro – einem bunten Zirkuswagen auf dem Spielplatz des Kinderspitals Zürich – am Fenster steht und nach draussen blickt, wirkt plötzlich nachdenklich. Für einen Moment ist die Fröhlichkeit abgefallen, der Ernst huscht über sein Gesicht. Auch wenn die Alte Kirche als Zufluchtsort in die heile Welt gedient hat, war es eben auch der Humor an sich, der Urs Sibold durch die Schule half. «Es waren damals andere Zeiten, und beim Pfarrer mit der Bibel eine Kopfnuss zu kassieren, gehörte damals zur Pädagogik. Da hatte es ein Spassbold wie ich nicht immer leicht. Da brauchte es die Komik im Alltag», meint Sibold lachend – der Humor ist wieder zurück.
Nach dem Regen scheint die Sonne
Weil eben das Leben eine fröhliche und eine trübe Seite haben kann, trägt Prof. Dr. Dada dies täglich mit sich. Geschneidert auf der Rückseite seiner Uniform, prangt eine strahlende Sonne gemeinsam mit einer Regenwolke. Um die schlimmen Tage kommt man eben auch als Spitalclown nicht herum. Etwa dann, wenn man Kinder leiden sieht, die schwer krank sind. Oder wenn junge Menschen sterben. In solchen Momenten hat Dada nur einen Schutz: den kleinen glitzernden roten Punkt, den Urs Sibold jeden Morgen ganz bewusst auf seiner Nasenspitze platziert. «Mit dieser wohl kleinsten Maske der Welt schlüpfe ich in eine Rolle, in der ich viel tragen kann. Nehme ich sie weg, kommen manchmal Emotionen hoch.» Dann ist er dankbar für die guten Freunde und die liebevolle Partnerin. Oder der Tausendsassa vertieft sich zum Ausgleich in künstlerische Projekte. Landschaftsfotografie, Malerei, Musik – in allem probiert und tobt sich der Künstler aus.
Die grosse Leidenschaft ist aber die Musik. Als Strassenmusiker war er bereits in der ganzen Schweiz und bis nach Kopenhagen unterwegs. Mittlerweile tritt er an Lesungen von Literaten wie Pedro Lenz, Beat Sterchi oder Annette Herbst oder an Festivals mit seinem Duo «fÖn&tÖn» mit Ex-Stiller-Has-Schlagzeuger Balts Nill auf. Wie kommts zum Duo mit Balts Nill? «Ich habe ihn in Frankreich am Strand am Meer kennengelernt. Aus der Begegnung wurde eine Freundschaft, aus der Freundschaft eine neue Möglichkeit, Musik zu Literatur zu spielen. Ein Moment also, an dem die Sonne schien.» Genau wie an diesem Tag – Samuel hat die Operation gut überstanden.
Weitere Informationen zum Schaffen von Urs Christoph Sibold: www.sibi.ch.