Endlich fühlt er sich wohl
23.12.2025 Region Oberfreiamt, Besenbüren, PorträtDiagnose Asperger-Autismus – Luca Lustenberger erzählt aus seinem Leben
Er ist 28-jährig, im zweiten Lehrjahr als Lastwagenmechatroniker. Luca Lustenberger hat viel erlebt: Mobbing, Depression. Aber in den letzten Jahren auch ganz viele Lichtblicke. Nicht ...
Diagnose Asperger-Autismus – Luca Lustenberger erzählt aus seinem Leben
Er ist 28-jährig, im zweiten Lehrjahr als Lastwagenmechatroniker. Luca Lustenberger hat viel erlebt: Mobbing, Depression. Aber in den letzten Jahren auch ganz viele Lichtblicke. Nicht zuletzt wegen der Theaterproduktion «Amerika» in Muri.
Annemarie Keusch
Der Gülletoni. Die Kinder jagen ihn über den Hof, rufen ihm nach, hänseln ihn. Ausgerechnet Luca Lustenberger spielt ihn. Er, der Ausgrenzung am eigenen Leib erfahren hat. Er, der fast immer allein spielte, in seiner Kindheit und Jugend kaum je Anschluss fand. «Kein Problem», sagt er. Er habe damit abgeschlossen und schliesslich sei das auf der «Amerika»-Bühne nur eine Rolle gewesen. «Und ich spürte, wie gern mich die Kinder haben, obwohl sie auf der Bühne gegen mich stichelten.» Traurig sei er fast schon gewesen, als das Theater vorbei war. «Ich habe mich zum ersten Mal so richtig wohl gefühlt», sagt er. Heimat sei nicht dort, wo man geboren werde, sondern dort, wo man sich willkommen fühle.
Es sind starke Worte eines jungen Mannes, den die Suche nach Heimat, danach, willkommen zu sein, quasi sein ganzes bisheriges Leben beschäftigte. Dass er dabei niemandem Vorwürfe macht, das betont Luca Lustenberger immer wieder. Dennoch will er seine Geschichte – oder einen Teil davon – erzählen, um aufzuklären. Um Verständnis zu wecken, für ihn und andere, die seine oder eine ähnliche Geschichte teilen. Dass er anders ist als andere, das habe er früh gemerkt. «Anhand der Interessen, anhand des Verhaltens. Wenn ich Freunde hatte, dann jüngere oder ältere.»
Sich selbst ausgeschlossen
Er habe eine glückliche Kindheit erlebt, sagt Luca Lustenberger zurückblickend. Auch nach der Trennung der Eltern, als er vierjährig war. Mit seiner Mutter zog er später innerhalb der Innerschweiz um. «Mein Stiefvater war Bäcker, die Bäckerei ein Paradies für mich.» Aber Luca Lustenberger merkte, dass für ihn der Alltag nicht einfach ist. «Zumal sich dieser laufend veränderte. Ich merkte: Ohne Struktur funktioniere ich kaum.» Bis zu einer Diagnose sollten noch Jahre vergehen. Jahre, die nicht einfach waren. Ab der fünften Klasse startete das Mobbing. «Ich habe damals nicht verstanden, warum.» Heute weiss der mittlerweile 28-Jährige, dass er sich ein Stück weit selbst ausgeschlossen habe. Gespielt hat er lieber allein. «Ich wusste nicht, wie ich mit anderen umgehen sollte.» Unglücklich war er aber nicht dabei.
Dass die Struktur für seinen Alltag enorm wichtig ist, kristallisierte sich immer mehr heraus. Auch während der späteren Lehre als Fachperson Gesundheit. Dass er Mühe damit hat, Emotionen zuzulassen, sie einzuordnen oder bei anderen Menschen wahrzunehmen, ist ebenfalls eine Erkenntnis aus dieser Zeit. «Es hiess, ich gehe zu wenig auf die Klienten ein. Stattdessen erzählte ich ihnen Privates über mich. Nähe und Distanz einzuschätzen, war unmöglich.» Aber Luca Lustenberger blieb dran, schloss die Lehre trotz vieler Zweifel (bei sich selbst und vonseiten anderer) ab. «Knapp an der Ehrenmeldung vorbei», sagt er und lächelt. Es folgte eine Zeit im Kanton Graubünden. Eine Zeit, die in der Klinik endete. Überforderung am Arbeitsplatz, eine beendete Partnerschaft. «Das ganze Haus fiel in sich zusammen.» Erst einen Monat verbrachte er in der Klinik, dann zwei. Die Depressionen wurden medikamentös behandelt. Sein Halt dabei: Tiere.
Endlich eine Erklärung
Das Treffen mit Luca Lustenberger findet im Murimoos statt. Nicht zufällig. Auch hier hat er bei der Arbeit mit den Tieren Rückhalt gefunden. Dreieinhalb Jahre lang war das Murimoos sein Zuhause. Vorausgegangen war ein nur ganz kurzer Anlauf, eine Lehre als Landwirt zu absolvieren. «Da brach erst recht alles zusammen.» Als er als Landwirt-Lehrling in einer perfekten Familie landete, wurden alte Wunden aufgerissen. Ein halbes Jahr lang stationärer Aufenthalt in einer Klinik folgte. Luca Lustenberger bezeichnet diesen Moment heute als Tiefpunkt. Weder zum Vater noch zur Mutter pflegte er regelmässigen Kontakt. «Die Klinik war meine einzige Hoffnung.» Der Kontakt zu den Eltern ist nach wie vor nicht eng.
Der Tiefpunkt war gleichzeitig der Zeitpunkt, ab dem es aufwärtsging. Nicht linear, aber immer wieder. Weil kurz darauf die Diagnose folgte: Asperger-Autismus. «Endlich», erzählt Luca Lustenberger. Sein Verhalten als Kind, später in der Lehre. «Endlich ergab alles Sinn.» Fortan lebte er im Aargau, zuerst im Gärtnerhaus in Meisterschwanden, bevor er im Sommer 2020 nach Muri kam. Zuerst arbeitete er mit den Tieren, später entwickelte er Faszination für die Mechanik. «Das hätte ich nie gedacht. Plötzlich war ich wissbegierig, wollte Neues entdecken und war weder unter- noch überfordert.» Einzig in der Wohngruppe war es schwierig. Lustenberger konnte bald in eine der Aussenwohnungen im Dorf ziehen. Er spricht davon, langsam ins Leben zurückgekehrt zu sein. Wegen des Murimoos. Aber auch wegen des Dorfes. Als Trainer der G-Junioren beim FC Muri fand er Anschluss. «Ich schaue noch heute ab und zu vorbei.»
Halt im Theater gefunden
Und eben, er fing an, Theater zu spielen. «Zum ersten Mal fand ich in einem Dorf Halt.» Weil er akzeptiert wurde.
Und weil er dadurch auch das Vertrauen fasste, einigen im Ensemble seine Geschichte zu erzählen. Ihre Reaktion, ihre Akzeptanz, ihre Unterstützung sorgten dafür, dass Luca Lustenberger immer mehr Mut fasste. Vor gut einem Jahr stand er in Bünzen auf der Theaterbühne. Dass er in der Region bleiben wollte, stand deshalb ausser Frage.
Dass das Murimoos nicht mehr der richtige Ort ist, war aber ebenfalls klar. «Je besser es mir ging, desto mehr fühlte ich mich fehl am Platz, obwohl mir die Arbeit und die Wohnung sehr gefielen.» Kommt hinzu, dass die IV schon länger eine Umschulung forderte. «Ich fühlte mich bereit, eine Lehre anzugehen.» Mittlerweile ist er im zweiten Lehrjahr als Lastwagenmechatroniker. «Landmaschinen wären mir lieber gewesen, aber ich fand keine Lehrstelle.» Es laufe gut, sagt er. In den Negativstrudel gerate er immer seltener. Nur manchmal überfordere er sich selbst. Wenn er zu viel will, zu viel studiert, zu viel lernt, perfekt sein will.
Krisen werden weniger
Ein wichtiges Puzzleteil ist dabei die Wohnsituation. Allein in einer Wohnung zu leben, «das wäre nicht gut für mich». Die Struktur würde fehlen, er bräuchte Stunden, um sich zu entscheiden, was er kochen solle. Luca Lustenberger nahm allen Mut zusammen und lancierte vor rund eineinhalb Jahren einen Aufruf in den sozialen Medien. Ein Zimmer mit Familienanschluss soll es sein. «Gross war die Resonanz nicht. Nur jemand meldete sich, aber die Richtigen.» Seine Dankbarkeit ist deutlich spürbar. «Ohne sie hätte ich keine Chance gehabt.» Miteinander essen, einander erzählen und vertrauen. Und Luca Lustenberger hilft mit. «Weniger im Haushalt, mehr bei der Betreuung der Pferde», gesteht er und lacht.
Die Liebe zu den Tieren, sie begleitet Luca Lustenberger schon lange. «Sie verstehen mich und geben mir Energie.» Hängt er zu sehr anderen Gedanken nach, während er mit den Pferden unterwegs ist, bleiben sie einfach stehen oder ziehen zum Strassenrand, um zu fressen, und holen ihn damit in die Realität zurück. Die Krisen werden weniger. Er weiss mittlerweile seine Energie einzusetzen. Und diese Energie bleibt nicht nur für die Arbeit, sondern auch für Hobbys. Luca Lustenberger liebt das Wandern, das Bergsteigen, das Klettern, ist SAC-Mitglied und bei den Naturfreunden Oberfreiamt. «Ich habe für den Bergführer immer ein Blatt dabei, damit er weiss, wie mit mir umzugehen.» Das stört den 28-Jährigen nicht. Nicht mehr. Das Anderssein kann er manchmal gar als Stärke sehen. Sein Blick richtet sich nach vorne: zum Lehrabschluss, zu hoffentlich einer Partnerschaft. Zu noch mehr Stärke. «In der Region und bei meiner Familie in Besenbüren bin ich so zu Hause, wie ich es noch nie war.»

