Ein guter Ort, um zu bleiben
31.05.2024 Boswil, Region OberfreiamtEine neue Chance
Von Afghanistan ins Freiamt: Die bewegte Geschichte von Kashmir Islami
Es ist eine Geschichte von Tausenden: Auf der Suche nach Sicherheit flüchtet Kashmir Islami von Afghanistan über die berüchtigte Balkanroute in ...
Eine neue Chance
Von Afghanistan ins Freiamt: Die bewegte Geschichte von Kashmir Islami
Es ist eine Geschichte von Tausenden: Auf der Suche nach Sicherheit flüchtet Kashmir Islami von Afghanistan über die berüchtigte Balkanroute in die Schweiz. In Boswil findet er schliesslich ein neues Zuhause.
Celeste Blanc
Es ist eine Eigenschaft, die sofort ins Auge fällt: Wenn Kashmir Islami lacht, strahlt er über das ganze Gesicht. Und strahlen tut er eigentlich immer – vor allem dann, wenn er über das Karate spricht. «Schau, hier habe ich mein erstes Turnier gewonnen», meint er und zeigt ein Foto auf dem Handy. Seit einem Jahr kämpft Islami im Karate-Club Wohlen, steht an seinem zweiten Turnier bereits zuoberst auf dem Podest. Und das, obwohl er vorher noch nie Karate gemacht hat. Ein Naturtalent? «Das glaube ich nicht», lacht er. «Aber es gibt mir Halt.» Karate, es ist seine neue Leidenschaft. Im Verein findet er einen Ausgleich. Kontakte. Eine Aufgabe.
Zwei Jahre auf der Flucht
Ein Alltag mit Job und Verein – es ist alles andere als selbstverständlich für den 26-Jährigen. Denn Islami blickt zurück auf bewegte Jahre. In einer Bergregion in Afghanistan aufgewachsen, rettete der junge Mann als Rettungssanitäter im Militär Leben. Bei einem Einsatz gegen die Taliban werden er und seine Truppe von einer Bombe überrascht. Islami wird getroffen, überlebt nur knapp. Ein Attentat, der Beinahetod, Rassismus gegenüber seiner Ethnie und drohende Konsequenzen, weil gesundheitlich der Militärdienst nicht mehr möglich ist – Islami entscheidet sich für die Flucht. Zwei Jahre ist er hauptsächlich zu Fuss unterwegs, wobei ihn sein Weg über die berüchtigte Balkanroute führt. Das Leben im Untergrund und in den Flüchtlingscamps sowie die Furcht im Nacken, erwischt zu werden, zählen in dieser Zeit zu Islamis Alltag. Erst in der Schweiz bekommt er eine neue Chance, sich ein Leben aufzubauen, in Sicherheit zu sein.
Das Freiamt, es wird zu Islamis neuer Heimat. Und in diesen Wochen beendet der junge Mann sein erstes Lehrjahr als Automobil-Assistent in der Jean Keusch AG. Geschäftsführer Urs Küng ist mehr als zufrieden. Islami mache einen hervorragenden Job. «Es ist für alle eine Win-win-Situation.»
Kashmir Islami flüchtete über die Balkanroute in die Schweiz – und findet im Freiamt ein neues Zuhause
Einem Attentat ausgesetzt, knapp dem Tod entkommen, die Heimat verlassen, zwei Jahre auf der Flucht: Mit seinen 26 Jahren hat Kashmir Islami aus Afghanistan schon viel erlebt. Nun baut er sich ein Leben im Freiamt auf – und lebt zum ersten Mal seit Langem wieder in Sicherheit.
Celeste Blanc
Freitag, 16.30 Uhr. Feierabend in der Garage Jean Keusch AG in Boswil. Die letzten Arbeiten werden zu Ende gebracht, das Werkzeug verräumt, Ordnung für die nächste Arbeitswoche gemacht. Im Endspurt ist auch Kashmir Islami. Der 26-Jährige beendet in diesen Wochen sein erstes Lehrjahr als Automobil-Assistent. «Ich liebe es, mit den Händen zu arbeiten», erklärt der junge Mann, während er die Motorhaube eines Autos zufallen lässt. Das sei ihm schon immer gelegen. «Und zu werken sowieso.»
Etwas lernen, eine Arbeit verrichten, sich ein Leben aufbauen – was für viele zum Alltag gehört, ist für Islami alles andere als selbstverständlich. Denn mit Anfang 20 musste er seine Heimat Afghanistan aus Angst vor politischer Verfolgung verlassen. Es folgten zwei Jahre auf der Flucht. Hauptsächlich zu Fuss fand er gemeinsam mit seinem Bruder Zafar und dessen Familie seinen Weg über die berüchtigte Balkanroute nach Europa. Ein Weg, der seine Spuren hinterlassen hat. «Negative, aber auch viele positive», so der junge Mann.
Wieder in die Arme schliessen
Es lässt einen staunen, wenn Kashmir Islami über seine Flucht spricht. Erst vor drei Jahren in die Schweiz gekommen, kann sich der Afghane gut auf Deutsch verständigen. Doch die Sprache brachte auch ihre Herausforderungen. «Sie ist viel schwieriger als Persisch», meint Islami lachend. «Und in der Schweiz wird es nicht im Alltag gesprochen. Das hat mich am Anfang ziemlich verwirrt.»
Auch wenn ihm Deutsch je länger, je mehr immer ein bisschen leichter fällt, so ist es das Sprechen über seine Geschichte nicht. Trauer huscht Islami über die Augen, wenn er an seine Vergangenheit denkt. An den Vater, der im Heimatdorf Wa’ir in den Bergen Afghanistans sein Leben lang Bauer war und mit den Erträgen einen kleinen Laden führte. An seine Geschwister, mit denen Islami ihm bei der Arbeit geholfen hat. An seine Mutter, die er mittlerweile seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hat. «Wir haben manchmal Kontakt. Aber es ist nicht das Gleiche. Ich vermisse sie sehr und möchte sie in die Arme schliessen.»
Vor drei Jahren ist auch Islamis Mutter geflüchtet, die heute im Iran lebt. «Sie musste gehen», weil die Taliban 2021 wieder an die Macht gekommen sind. Denn die Familie Islami, sie gehört nicht nur der schiitischen Minderheit an – auch wird sie wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit zum Volk der Hazara seit jeher offen diskriminiert und in der Geschichte des Landes immer wieder verfolgt. «Ob im Alltag, in der Ausbildung oder im Job, wir waren schon immer benachteiligt, Menschen zweiter Klasse», erzählt Islami. Immer wieder waren Orte der Hazara Ziele fundamentalistischer Anschläge. Und seit die Taliban zurück sind, ist die Situation noch brenzliger geworden. Mittlerweile ist es zu etlichen Massakern gekommen. «Uns gegenüber herrscht blanker Rassismus», erklärt der Afghane. Diese Diskriminierung war es schliesslich auch, die Grund für Islamis Flucht war.
Dem Tod nur knapp entkommen
Der 26-Jährige schaut auf das Werkzeug, das ausgebreitet vor ihm liegt. Mit den Händen an Autos zu werken, sei «eine gute Arbeit». Doch Islamis eigentlicher Traumberuf liegt in der Rettung von Menschenleben. Im Alter von 18 Jahren trat er dem Militär bei, wo er die Möglichkeit zur Ausbildung als Rettungssanitäter bekam. Ausgebildet wurde er von deutschen und amerikanischen Soldaten. «Menschen zu retten, ist eine so sinnvolle Aufgabe. Es gibt nichts Wichtigeres.»
Im Sommer 2018 dann der grosse Schicksalsschlag: Bei einem Einsatz gegen die Taliban wurden Islami und seine Truppe von einem Bombenattentat überrascht. Ein Schrapnell verletzte den jungen Mann lebensgefährlich am Herzen. «Ich hatte sehr viel Glück. Nur wenige Zentimeter weiter, und ich wäre tot gewesen.» Islami überlebt knapp, wird aber nie mehr ganz gesund. Und der Militärdienst wird unmöglich. Sein Vorgesetzter zwingt ihn jedoch, den Dienst weiterzumachen. «Einfach, weil ich Hazara bin. Er wusste, dass es mich das Leben kosten könnte. Doch es war ihm egal.» Islami blieben drei Möglichkeiten: den Dienst fortzusetzen, als Fahnenflüchtiger den Rest des Lebens im Gefängnis zu verbringen – oder zu flüchten. Er entschied sich für Letzteres. Eine der schwierigsten Entscheidungen seines noch jungen Lebens. «Auch wenn es nicht immer einfach war, liebte ich mein Zuhause. Ich war glücklich. Aber ich hatte auch Angst um mein Leben. Und sterben wollte ich nicht.»
Win-win-Situation für alle
Auch wenn er nun in Sicherheit ist, überwältigt ihn das Erlebte noch immer. Doch es sei auch wichtig, andere Menschen an seiner Geschichte teilhaben zu lassen. «Vielleicht verstehen sie dann ein bisschen besser.» So auch Urs Küng, Geschäftsführer der Jean Keusch AG, und sein Sohn Marco. Die beiden sind froh, dass Islami zum Team zählt. «Ein feiner Typ», meint Urs Küng. Er lobt den Fleiss, die Voraussicht bei der Arbeit, sein Engagement. «Solche Lernende sind immer ein Gewinn für uns.» Vor allem Islamis Beharrlichkeit sei es zu verdanken, dass er nun zum Team zählt. Auf der Suche nach einem Job klapperte er nicht nur Autogaragen in Wohlen ab, sondern wurde auch in Boswil persönlich vorstellig. Und die Küngs gaben ihm eine Chance. Es sei für alle eine «Win-win-Situation», erklärt Sohn Marco. «Wir sind in unserer Branche froh um jeden guten Arbeiter, um jede potenzielle Fachperson. Dank der Ausbildung kann Kashmir in diesem Beruf Fuss fassen. Gleichzeitig hilft ihm die Arbeit bei der Integration.» Er und Vater Urs sind sich einig: «Warum nicht helfen, wenn man kann?» Zwar war die sprachliche Barriere anfänglich herausfordernd, ein Umgang damit wurde aber schnell gefunden. «Als Mechaniker lernt man vieles auch visuell. Und Kashmir hat ein Händchen dafür.»
Trostloses Leben in den Camps
Die Aussicht auf ein neues Leben – es war auf der Flucht die treibende Kraft von Kashmir und Zafar Islami. Immer im Vordergrund: das Wohl der zwei Neffen Farhad und Omidullah, die auf der beschwerlichen Flucht drei und fünf Jahre alt waren. «Sicherheit und Arbeit findet man schnell», meint Islami. «Doch es musste auch ein guter Ort für die Kinder sein, zur Schule gehen zu können und in Frieden aufzuwachsen.» Im Iran und in der Türkei lebte die Familie im Untergrund, bis es weiter nach Griechenland ging. Dort fand die Familie Zuflucht im Flüchtlingscamp der Insel Lesbos. Das Leben in den Camps, es sei trost- und perspektivlos, so Islami. «Und auch wenn das Engagement der UNO und anderer Hilfswerke gross ist, macht der Alltag zu schaffen.» Dieser war geprägt davon, immer wieder zu schauen, wie man zu wichtigen Dingen wie Essen und Kleidern kommt. Auch deshalb herrschen ab und an Unruhen, manchmal sogar Kriminalität. Und Freundschaften gebe es selten. «Alle sind auf ihr eigenes Wohl bedacht», erklärt Islami. Und dennoch herrsche auch eine gewisse Solidarität: «Tipps über Wege und Aufenthaltsorte wurden immer miteinander geteilt.»
Immer mit der Angst im Nacken
Nach einem Jahr auf Lesbos erhält die Familie Islami mit dem UNO-Konventionspass einen Passersatz, der es ihr erlaubt, weiterzuziehen, und nimmt die berüchtigte Balkanroute. Hauptsächlich zu Fuss, manchmal auch per Taxi, reist die Familie teilweise zwei, drei Wochen mit schwerem Gepäck durch albanische und bosnische Gebirgszüge. Um nicht erwischt zu werden, war man nachts unterwegs. Immer im Nacken: die Angst, von der Polizei erwischt zu werden. Denn die Balkanroute, sie ist gefährlich. Nicht überall sind die Flüchtlinge willkommen. Der Genfer Flüchtlingskonvention zum Trotz werden sie teilweise ohne jegliches Verfahren inhaftiert und zwangsweise in Nachbarländer zurückgeschoben, ohne dass ihr Schutzbedarf abgeklärt wurde.
Rund 12 Monate wandern die Islamis durch den Balkan hoch nach Italien. Das Geld, das er sein Leben lang gespart hatte, trug er während der Reise mit sich. Für Essen, Unterkünfte, eine gelegentliche Taxifahrt. Das Erlebte, es hat seine Spuren hinterlassen. Und doch sei nicht alles negativ gewesen, meint Islami. «Ich habe viele Menschen und Kulturen gesehen. Und da war diese Menschlichkeit und Herzlichkeit der Lokalbevölkerung gegenüber uns. Das war schön.» Positiv hängen geblieben ist auch die erste Polizeikontrolle in der Schweiz. «Anders als in den Balkanstaaten waren die Schweizer Polizisten anständig und hilfsbereit. Vor ihnen hatte ich keine Angst. Und sie halfen meiner kranken Schwägerin und den Kindern.» Kashmir und Zafar Islami wussten ab dann: Die Schweiz, es ist ein guter Ort zum Bleiben.
Das Leben in der neuen Heimat
Die Flucht liegt mittlerweile drei Jahre zurück. Seit 2021 lebt Kashmir Islami in Boswil in der Asylunterkunft an der Mühlegasse. Eine Wohngemeinschaft, bestehend aus 12 Afghanen. Alle mit verschiedenen Geschichten. Alle mit unterschiedlichen Erwartungen. Nicht immer einfach sei das Zusammenleben, erzählt der 26-Jährige. Einen Ort des Rückzugs und der Ruhe gebe es nicht. Deshalb lernt er für die Schule hauptsächlich an den Wochenenden, wenn er seinen Bruder im Kanton Luzern besucht. Oder nach der Arbeit auch in der Garage von Urs Küng.
Und die Küngs, sie helfen Islami nicht nur beim Lernen, sondern wo sie können. Üben mit ihm Autofahren, damit er die Fahrprüfung absolvieren kann. Unterstützen ihn beim Gang zu den Ämtern und beim Ausfüllen der Unterlagen. «Er hat keine Familie hier. Also wer soll ihm das zeigen? Das gehört sich einfach», so Urs Küng. Und die Wertschätzung, die ihnen von Kashmir Islami entgegengebracht werde, sei es wert.
Die Ankunft in Boswil, sie hielt für Islami viele Chancen bereit. «Und die möchte ich nun nutzen», verrät er. Die Lehre zum Automobil-Assistenten läuft gut, in einem Jahr hat er seinen Abschluss. Es steht bereits im Raum, danach die Lehre als Automobil-Fachmann anzuhängen. Auch ist Kashmir Islami in Wohlen in Vereinen aktiv, trainierte zuerst Leichtathletik, nun kämpft er im Karateclub. Eines seiner ersten Turniere hat er bereits gewonnen. «Vorher habe ich noch nie Karate gemacht, aber es macht Spass. Es tut gut und ich komme mit anderen Menschen in Kontakt.» Und was sind seine Träume für die Zukunft? Kashmir Islami lächelt. Eine Aufenthaltsbewilligung C zu erhalten, die es ihm erlaubt, zu reisen, wäre sein grösster Traum. So könnte er vielleicht eines Tages seine Mutter und seinen Vater wiedersehen. «Und wenn alles gut läuft, irgendwann mal mein eigenes Zimmer zu haben, wo ich in Ruhe lernen kann.»