«Ein grosses Privileg»
31.12.2024 WohlenMenschen mit einem besonderen Jahr: «Zeitgeschichte Aargau» fand mit enormer Wohler Unterstützung den Abschluss
Die Projektarbeit dauerte sechs Jahre. Dabei ist ein gigantisches Gesamtwerk entstanden. Kürzlich erfolgte die Übergabe ans ...
Menschen mit einem besonderen Jahr: «Zeitgeschichte Aargau» fand mit enormer Wohler Unterstützung den Abschluss
Die Projektarbeit dauerte sechs Jahre. Dabei ist ein gigantisches Gesamtwerk entstanden. Kürzlich erfolgte die Übergabe ans Staatsarchiv und somit der definitive Abschluss. Der Wohler Fabian Furter blickt als Co-Leiter von «Zeitgeschichte Aargau» zusammen mit seinem Team auf eine spannende Zeit zurück.
Daniel Marti
«Zeitgeschichte Aargau» ist ein riesiges Werk. Ein Buch mit über 620 Seiten, über 60 Zeitzeugen-Gespräche, der Film «Stromland», 14 Dokumentarfilme, Trouvaillen, Geschichtsmagazin. Die enorme Arbeit erstreckte sich von 2018 bis 2024. Nun fand die Übergabe ans Staatsarchiv statt. Die drei wichtigsten Personen haben Wurzeln im Freiamt. Co-Leiter Fabian Furter ist in Wohlen aufgewachsen, Co-Leiter Patrick Zehnder heiratete eine Wohlerin, Ruth Wiederkehrs Spuren führen ebenfalls in den Bezirk Bremgarten (siehe Artikel unten). Die drei Hauptverantwortlichen ordnen das Werk ein. Vorweggenommen: Vergleichbares gibt es im Kanton Aargau nicht.
Nicht jede Historikergeneration hat diese Möglichkeit
«Wir haben diese Arbeit als grosses Privileg empfunden», betont Fabian Furter, der damit für das ganze Team spricht. «Es ist nicht jeder Historikergeneration vergönnt, eine solche Kantonsgeschichte zu erarbeiten. Uns war die Vermittlung der Forschungsergebnisse für ein breites Publikum von zentraler Wichtigkeit, weshalb wir uns bemühten, neben dem klassischen Geschichtsbuch die ganze Palette an Formaten zu bedienen.» So entstanden neben den Grundlagenwerken auch Zeitungsartikel, Unterrichtsmaterialien für die Schulen, Beiträge in den sozialen Medien, eine grosse Ausstellung sowie eine Vielzahl an öffentlichen Veranstaltungen mit Vorträgen und Zeitzeugen-Gesprächen.
Auch für Ruth Wiederkehr war diese einzigartige Arbeit «ein grosses Privileg. Diese Vielfalt an Formaten zu bedienen, hat mir grosse Freude bereitet.» Und Patrick Zehnder erinnert sich gerne an die ersten Anläufe, einen vierten Band der Kantonsgeschichte zu schaffen. «Zum Beispiel auf das Jubiläumsjahr 1998 zu 200 Jahren Helvetische Republik, quasi zur Befreiung der Aargauerinnen und Aargauer vom eidgenössischen Joch. Es gab zwar Forschungsprojekte und Publikationen dazu, aber nicht etwas Umfassendes, wie wir das machen konnten.» Für die beiden Co-Leiter Furter und Zehnder ist es zudem wichtig, zu betonen, «dass die Leistung des Teams im Zentrum steht».
Zum Abschluss zwei Awards erhalten
Der letzte Akt war die kürzlich erfolgte Übergabe ans Staatsarchiv. «Das war nochmals ein Meilenstein für unser Projekt», so Zehnder. «Eigentlich hat sich damit ein Kreis geschlossen. Viele unserer Erkenntnisse basieren auf Akten aus dem Staatsarchiv und nun haben wir alle Quellen und Resultate dahin zurückgebracht.» Die Arbeit von «Zeitgeschichte Aargau 1950–2000» ist getan. Ein gutes Gefühl – auch für die drei Hauptverantwortlichen. Genugtuung, Freude und Stolz vermischen sich. Er verspüre Genugtuung und Freude, «weil das Projekt sowohl im zeitlichen als auch im finanziellen Rahmen eine Punktlandung war», sagt Fabian Furter. Zudem durften sie für das Geschichtsprojekt eine grosse Resonanz erfahren. In der Zwischenzeit deuten nicht mehr nur Verkaufszahlen von Büchern darauf hin, «es sind auch die Views unserer Filme auf Youtube, die alle zusammen heute bei gegen 200 000 stehen. In der Breite war unser Projekt wohl schon ziemlich einzigartig.»
Erst vor zwei Wochen wurde das Magazin mit zwei internationalen Awards ausgezeichnet. «Darauf sind wir natürlich schon ein bisschen stolz.» Zudem ganz wichtig: Die Website www.zeitgeschichte-aargau.ch wird für mindestens noch zehn Jahre weiterlaufen. Darauf sind mit Ausnahme des Magazins sämtliche Inhalte frei zugänglich.
Riesige Erfahrungen gesammelt
Die Frage drängt sich förmlich auf: Kommt nun die grosse Leere? Er habe nach der Buchvernissage und der Veröffentlichung des einstündigen Films «Stromland – ein zeitgenössisches Porträt des Aargaus» schon «so etwas wie Leere gespürt», gibt sich Patrick Zehnder ehrlich. «Aber es ist ja dann gleich weitergegangen, mit unseren vermittelnden Projekten für die Schule.» Unterdessen zeichnen sich nächste Aufträge ab. Er persönlich bearbeitet gerade Quellen aus den 1930er-Jahren. Die Historische Gesellschaft Aargau, «unsere Auftraggeberin, gleist die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen im Aargau auf. Daraus dürfte wieder eine mehrjährige Arbeit entstehen», so Zehnder.
Langweilig wird es dem Trio sowieso nicht. Für Ruth Wiederkehr geht die Arbeit an anderen Projekten weiter. «Das ist Normalität in unserem Beruf als freie Historikerinnen und Historiker.» Im Nachgang zum Projekt «Zeitgeschichte Aargau» arbeitete sie an weiteren Themen zur Konsum-, Religionsund Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Für Fabian Furter geht es ähnlich weiter. Er hat «Zeitgeschichte Aargau» mit einer «schönen Portion Wehmut» abgeschlossen. «Es war eine super Zeit und eine super Erfahrung.»
Geschichtsschreibung endet nie
Zum Kernprojekt. Das Nachschlagewerk über 50 Jahre Zeitgeschichte des Aargaus, von 1950 bis 2000, weist über 620 Seiten auf. Das klingt nach Vollständigkeit. Ist allenfalls etwas vergessen gegangen? «620 Seiten und 550 Abbildungen tönt zwar nach viel, aber die grösste Arbeit bestand darin, das weniger Wichtige wegzulassen», sagt Zehnder. «Wir hatten keine Vorbilder, weil noch kein Deutschschweizer Kanton die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgearbeitet hatte. Der Aargau hat damit Pionierarbeit geleistet.»
Und vergessen, so glaubt Zehnder, «haben wir eigentlich nichts, aber die Geschichte der kleinen Leute, der Randständigen und Minderheiten kam etwas zu kurz». Manches konnte mit den Kurzdokumentarfilmen ausgeglichen werden. Es werde sich nach und nach zeigen, «was wir alles vergessen haben», glaubt Ruth Wiederkehr. «Denn viele Themen kommen erst jetzt an die Oberfläche. Hinzuzufügen wären Praktiken der sozialen Fürsorge, die erst jetzt aufgearbeitet werden. Dazu gehören auch die Adoptionspraktiken bis in die 1980er-Jahre.» Aber Geschichtsschreibung endet eben nie.
So ein 9/11-Moment
Die über 60 Zeitzeugen-Gespräche sind ein weiterer spezieller Eckpfeiler. Alle Autorinnen und Autoren waren dazu eingeladen, zehn Zeitzeugen-Gespräche zu führen, die filmisch begleitet und auf Youtube veröffentlicht wurden. «Jedes dieser Gespräche war eine Bereicherung für unsere Arbeit. Von Zeitzeugen erfahren wir Historikerinnen und Historiker Dinge, die nicht in den schriftlichen Quellen stehen», blickt Fabian Furter zurück. Und so gab es beeindruckende Begegnungen. Jene mit Herbert Otto aus Unterkulm blieb Furter besonders hängen: «Ich interviewte ihn aufgrund seiner damaligen Stellung als Chefingenieur beim Bau der Autobahn im Aargau in den 1960er-Jahren. Doch dann erzählte mir Herbert Otto von seiner Kindheit in Polen und der dramatischen Flucht im Zweiten Weltkrieg, vom Leben in der DDR und einer nochmaligen Flucht in den Westen. Ein filmreifer Stoff.»
Auch die Pulveri-Katastrophe in Dottikon hat für Fabian Furter einen besonderen Stellenwert. Entstanden ist ein Dokfilm, der auch bei den über 20 Trouvaillen aufgeführt wird. «Besonders war das natürlich alleine aufgrund der Fakten. Das war die schlimmste Explosionskatastrophe unseres Landes mit verheerenden Folgen. Für die Menschen in der Region war das so ein 9/11-Moment. Alle, die es erlebt hatten, wussten auch Jahrzehnte später noch ganz genau, was sie just in dem Moment gemacht hatten, als es knallte. Diese Erinnerungen wollte ich seit Jahren einmal sammeln.» «Zeitgeschichte Aargau» habe ihm endlich diese Gelegenheit geboten.
Bewusstsein für die Regionen geschärft
Das Trio könnte ewig lang über die gesammelten Erfahrungen und die Trouvaillen erzählen. Deshalb: Haben sie durch diese Arbeit einen anderen Blick auf den Kanton Aargau bekommen? Das Projekt sei teilweise in die Zeit der Coronapandemie gefallen, erklärt Patrick Zehnder. «Da habe ich mehr Zeit auf dem Velo verbracht. Auch wenn ich davon wusste, machte es mir Eindruck, durch die Täler von Uerke, Pfaffnern und Suhre zu fahren oder über die verschiedenen Jura-Übergänge. Das hat mein Bewusstsein für die Regionen schon noch einmal geschärft.»
Auch sie habe einen anderen Blick auf den Aargau erhalten, sagt Ruth Wiederkehr. «Mich hat die Recherche an viele neue Orte gebracht. Persönlich war das etwas vom Schönsten an diesem Projekt.» Mit den neuen Orten meint sie nicht nur Gemeinden, sondern auch die Themen. «Von der Geschichte der Zirkusse Nock und Monti bis zum Bergrennen Reitnau. Eigentlich wünsche ich das allen Menschen: dass sie durch Begegnungen mit neuen Themen und Personen zu neuen Sichtweisen und Einsichten gelangen.»