«Draussen tobt die Dunkelziffer»
27.10.2023 Wohlen«Viele Jugendliche leiden»
Volkshochschule Region Wohlen widmete sich dem Thema «Vandalismus und Gewalt»
Vandalismus hat in Wohlen diesen Frühling praktisch die ganze Bevölkerung aufgeschreckt. Was sind die Ursachen ...
«Viele Jugendliche leiden»
Volkshochschule Region Wohlen widmete sich dem Thema «Vandalismus und Gewalt»
Vandalismus hat in Wohlen diesen Frühling praktisch die ganze Bevölkerung aufgeschreckt. Was sind die Ursachen und wie geht man mit jugendlichen Straftätern um? Zwei Experten gaben Auskunft.
Daniel Marti
Statistiken und Studien geben genau Auskunft: Bei Vandalismus ist das Täterbild immer ähnlich. Zu 80 bis 85 Prozent sind die Täter männliche Jugendliche im Alter zwischen 15 und 20 Jahren. Das Publikum im Schlössli hätte von den beiden Experten natürlich auch gerne erfahren, wie man denn Vandalenakte verhindern kann. Dazu konnten Josef Sachs, Forensischer Psychiater, und Hans Melliger, ehemaliger Leiter der Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau, kein Erfolgsrezept nennen. Vandalismus und Gewalt gibt es schon seit Urzeit. Und auch mit Videoüberwachung lassen sich solche Vorkommnisse nicht verhindern, sagte Sachs. Wichtig ist für die beiden, wie man mit jugendlichen Straftätern umgeht. Wie und warum Jugendliche auf die schiefe Bahn geraten können. So hat sich beispielsweise bei Jugendlichen in den letzten Jahren ein neues Problemfeld aufgetan. «Sie sind digital aufgewachsen und verbringen sehr viel Zeit im Internet», nennt Josef Sachs die Problematik. Jugendliche bewegen sich im Durchschnitt pro Tag drei Stunden im Netz, am Wochenende sind sie sogar täglich bis zu fünf Stunden online. «Sie verpassen dabei vor allem eines: Schlaf», so Sachs weiter.
In den letzten Jahrzehnten habe die tägliche Schlafenszeit bei Jugendlichen im Schnitt um 40 Minuten abgenommen. «Und viele leben wie gefangen in einer Blase.» Und wenn Jugendliche sonst schon eine Neigung zur Gewalt haben, dann werde es kompliziert, so Sachs. Der Halt in der Familie fehlt oft und die Gewaltbereitschaft könne steigen.
Vandalismus hin oder her – Hans Melliger nennt das Spannungsfeld: «Immer mehr Jugendliche haben mit psychischen Problemen zu kämpfen. Erst wenn man genau hinschaut, sieht man, wie viele Jugendliche leiden.»
Volkshochschule Region Wohlen: Experten Josef Sachs und Hans Melliger referierten über «Vandalismus und Gewalt»
Vandalenakte erfolgen nicht einfach so. Motiv, Enthemmung und Destabilisierung gehen einer solchen Tat voraus. In den meisten Fällen werden die Taten verübt von männlichen Jugendlichen. Die Expertenrunde mit Psychiater Josef Sachs und Ex-Jugendanwalt Hans Melliger gab im Schlössli interessante Einblicke.
Daniel Marti
Seit über die vergangenen Ostertage diverse Schulhäuser in Wohlen regelrecht verwüstet wurden, ist das Thema «Vandalismus und Gewalt» in aller Munde. Es beschäftigt Polizei, Schule und Gemeinderat. Die Vorfälle sind beunruhigend und haben es ins Programm der Volkshochschule Region Wohlen geschafft. Eine Expertenrunde mit Josef Sachs, Forensischer Psychiater, und Hans Melliger, ehemaliger Leiter der Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau, beleuchtet «Vandalismus und Gewalt» sowie das Verhalten der jungen Straftäterinnen und Straftäter.
Täterschaft: Über 80 Prozent männliche Jugendliche
Wie viel Strafe muss sein? Warum kommt es zu solchen Gewaltakten? Was tut die Jugendanwaltschaft? Wohin zielen die Tendenzen? Dieser Fragen nahmen sich Sachs und Melliger an, sie lieferten viele Erklärungen und Erkenntnisse. Aber ein Erfolgsrezept, damit alles besser wird, können beide auch nicht präsentieren.
«Was sind das für Leute, die Schulhäuser dermassen verwüsten?», wollte Edith Weber wissen. Sie moderierte die Expertenrunde. Diese Frage stellt sich Josef Sachs tatsächlich immer wieder. Und er kommt stets zur gleichen Antwort. «Es sind erstaunlicherweise normale Jugendliche, die sonst normale Sachen machen.» Es gibt nur Vermutungen, man wisse ja nicht, wer es ist, aber es gebe auch Erfahrungen. «Sehr wahrscheinlich sind es männliche Jugendliche», so Sachs. Welche Studie er auch bemüht, der Anteil von Frauen ist stets klein, er liegt bei 10 bis maximal 20 Prozent. Dies bedeutet: «80 Prozent der Täterschaft sind junge Männer, im Alter zwischen 15 und 20 Jahren. Und es sind immer die gleichen, die über die Stränge hauen.»
Motiv, Enthemmung und Destabilisierung
Noch etwas strich Josef Sachs heraus: «Gewalt und Vandalismus hat es schon immer gegeben.» Schon in der Steinzeit. Ausgrabungen beweisen, dass 50 Prozent der Toten eingeschlagene Schädel haben… Das allerdings trägt nicht dazu bei, das Problem hierzulande zu lösen. Aber die Schweiz habe diesbezüglich weniger Probleme als beispielsweise Schweden oder die USA, so der Psychiater weiter. «Trotz Videoaufnahmen und Polizeipräsenz» könne man solche Vorfälle in der Schweiz jedoch nicht eliminieren.
Drei Voraussetzungen müssen laut Sachs «erfüllt» sein, dass es überhaupt zu solchen Delikten kommen kann: Motiv, Enthemmung und Destabilisierung. «Ohne Motiv passiert nichts.» Dies können beispielsweise Bereicherung, Respekt verschaffen, Ehre oder auch Langeweile sein. Und wenn eine mögliche Täterschaft weiss, dass gewisse Delikte ausgeführt werden können ohne jegliche Konsequenzen, so führt das zum Abbau von Hemmungen. Und Gleichgültigkeit («das kommt ja gar nicht darauf an») kann auch Destabilisator sein.
44,6 Prozent der Delikte werden aufgeklärt
Den Eindruck, dass alles schlimmer wird, konnte der ehemalige Jugendanwalt Hans Melliger allerdings so nicht bestätigen: «Die Jugenddelinquenz nimmt mit dem Alter ab.» Mit der Bezeichnung Jugenddelinquenz werden die Jugendkriminalität und die Gesamtheit des mit Strafe bedrohten Verhaltens junger Menschen definiert. Bis zu einem Strafverfahren brauche es recht viel, so Melliger weiter. Und noch eines gibt er zu bedenken: «Draussen tobt die Dunkelziffer.»
Im Jahr 2022 wurden im Aargau 32 200 Straftaten und Delikte registriert, so die Statistik der Kantonspolizei Aargau. Die Spannbreite ist gross, von anonymen Sachbeschädigungen über Einbruchdiebstahl bis Tötungsdelikte. Gesamthaft wurden laut Melliger 44,6 Prozent der Fälle aufgeklärt, bei der Aufklärung von Gewaltdelikten liegt die Erfolgsquote bei 87 Prozent. «Je mehr ein Feld beleuchtet wird, desto mehr findet man heraus.»
Zurück zu den jugendlichen Tätern unter 20 Jahren. Bei 80 Prozent geht es um «bagatelle Geschichten», kleine Tätlichkeiten, Sachbeschädigungen. Das alles hat einen Verweis oder eine kleine Busse zur Folge. 20 Prozent sind sogenannte Schwellentäter mit Rückfallrisiko, und 4 Prozent davon landen in einem Heim.
Ein Gutachten hat den Preis eines Kleinwagens
«Und was machen wir mit diesen vier Prozent?», fragte die Moderatorin. «Zuerst ein Gutachten», antwortete Josef Sachs, «das dauert Monate, umfasst 50 bis 100 Seiten und kostet einen Kleinwagen.»
Beim Erstellen eines Gutachtens müsse er jeweils selber seinen Chip wechseln. Als Arzt wolle er ja helfen, «beim Gutachten muss ich urteilen». Und die Personen, die dann vor ihm sitzen, «sehen nicht schlimm aus, sind meistens höflich, gut erzogen» und gesprächig. Beim Gutachten gibt es kein Arztgeheimnis, sondern es werden Informationen gesammelt. Er müsse eine «Vorstellung über die Tatdynamik bekommen und ich muss mir ein Bild machen können über die Schuldfähigkeit». Zuletzt steht die Prognose über die Rückfallgefahr und welche Massnahmen eine Verbesserung der Situation ergeben.
Und beim allfälligen Strafverfahren gilt es, die Balance zu wahren. «Was verspricht sich die Gesellschaft, der Gesetzgeber oder das Opfer von Strafen?», fragte Melliger in die Runde und gab die Antwort selbst. Eine Strafe müsse dermassen Wirkung zeigen, dass in Zukunft nicht wieder gesündigt werde. «Es gilt Rückfälle in der Zukunft zu verhindern.» Das nütze den Opfern oft wenig bis gar nichts, das sei für Opfer schwer nachvollziehbar «und für die Gesellschaft kann das eine gefühlte Ungerechtigkeit bedeuten». Wenn es jedoch dadurch keine weiteren Opfer in Zukunft gebe, so Melliger, dann sei der Nutzen für die Gesellschaft gross.
Erziehung und Therapie der Täter ist so oft der gangbare Weg. «Der Weiterentwicklung wird ein grosser Stellenwert gegeben», erklärt Melliger, «und viele Länder meinen, dass die Schweiz das beste Jugendstrafrecht der Welt hat.»
Therapie kann Jahre dauern
Übrigens: Alle jungen Täter und Täterinnen, die der schwierigen Gruppe der 20 Prozent zugeordnet werden, werden zu einem Gespräch nach Aarau vorgeladen. Nur schon die Reise nach Aarau bewirkt einiges. «Das braucht Kraft und führt zu Diskussionen.» Nur schon die Frage nach dem gemachten Fehler kann da aufreibend sein.
Schliesslich helfen sehr oft nur Therapien weiter. Und da gibt es zu wenige Plätze. Oder umgekehrt: Viele Therapieplätze werden inzwischen benötigt. «Bei Jugendlichen treten immer mehr psychische Probleme auf», sagt der Psychiater. Zudem gibt es für Josef Sachs und Hans Melliger eine Grundregel: Zu viel Aggression kann man nicht einfach abreagieren, sondern die Betroffenen müssen lernen, damit umzugehen. «So kann eine Therapie viele Jahre dauern. Sie bringt allerdings etwas», machte Sachs ein Beispiel, «etwa so viel wie eine Bypass-Operation nach einem Herzinfarkt.» Ein eindrücklicher Vergleich.
Auf Eis gelegt…
Die Vandalismus-Fälle in Wohlen
Das Schlössli war sehr gut besetzt. Die Meinungen der Fachleute Josef Sachs und Hans Melliger waren von Interesse. Logischerweise wurden die Vandalismus-Fälle über die Ostertage auch thematisiert. Vor allem das Bünzmatt-Schulhaus und die Kantonsschule wurden dabei regelrecht verwüstet.
Wie denn der Stand der Dinge sei, wollten diverse Besucherinnen und Besucher wissen. Da konnte Dennis Andermatt, Lehrer im Bünzmatt-Schulhaus, Auskunft geben. «Stand heute», sagte er, «ist die Sache auf Eis gelegt. Ich hoffe trotzdem, dass die Polizei die Täterschaft irgendwann ausfindig machen wird.»
Die Kantonspolizei war in dieser Angelegenheit intensiv tätig, aber einen Erfolg konnte sie nie vermelden. «Auf Eis gelegt, heisst, dass es keine heisse Spur mehr gibt», relativierte der ehemalige Jugendanwalt Hans Melliger. «Die Akten sind also nicht geschlossen.» Es habe anscheinend keine weiteren ähnlichen Schäden gegeben, mutmasste er, «darum haben die Vandalismus-Fälle von den Ostertagen wohl einen Einmaligkeitscharakter».
Gegenwärtig werde der Fall wohl nicht mehr weiter untersucht. «Aber plötzlich kann es mit einem weiteren Fall Überschneidungen geben oder eine ähnliche Vorgeschichte taucht auf.» Dann steigen die Chancen für die Aufklärung der Vandalenakte in Wohlen wieder. «Die Polizei», so Melliger abschliessend, «informiert erst, wenn sie sich in dieser Sache ganz sicher ist.» --dm