Die Frau mit der Harfe

  22.12.2023 Region Oberfreiamt

Eine Annäherung an eine «Grande Dame» des positiven Denkens: Die Freiämterin Gabriela Vetter und ihr bewegtes Leben

Ihr Freund stirbt an Krebs. Das wirft sie aus der Bahn. Der Körper reagiert, die Bauchspeicheldrüse gibt auf. Sie wird zuckerkrank. Gabriela Vetter lernt, damit zu leben, positiv zu sein. Gleichzeitig will sie den Krebs verstehen und wird Onkologie-Psychologin. Sie schreibt Bücher, hilft Tausenden Menschen. Heute ist sie 70 Jahre alt. Und kerngesund.

Stefan Sprenger

Zart zupft sie an den Saiten. Die Augen geschlossen, der Ausdruck im Gesicht zufrieden. Es entstehen sanfte Klänge auf der Harfe. Einfach wundervoll.

Ja, Gabriela Vetter hat schon Wunder erlebt. Es gab Menschen, die von der Medizin aufgegeben worden sind. Krebspatienten, bei denen die Ärzte meinten, der Tod würde bald kommen, in ein paar Wochen, spätestens Monaten. «Und dann kam es doch anders – und sie wurden wieder gesund.» Gabriela Vetter erzählt dies mit einem sanften Lächeln. Mit einem Lächeln, das aussagt: «Es ist viel mehr möglich, als wir oft annehmen.»

«Interviews mit Sterbenden» oder «Was wollen Frauen?»

Sie war 43 Jahre lang Fachpsychologin für Onkologie, hatte mit Tausenden Menschen zu tun, die von der Diagnose Krebs betroffen waren. «Aussichtslose Fälle wurden geheilt. Andere, bei denen die Prognosen gut waren, sind gestorben.» Was sie gelernt hat in all dieser Zeit: «Man kann mit seinem Denken mehr beeinflussen, als man glaubt. Das geht in beide Richtungen – positiv und negativ.»

Man spürt schon beim ersten Händedruck, dass an dieser Frau der Hauch von Besonderheit haftet. Brosche, Kleidung, Ausstrahlung: Alles ist einfach und schlicht – und doch elegant und stilvoll. «Nehmen Sie bitte Platz.» Der Sessel scheint alt, doch ist bequem. Es riecht besonders. Nicht schlecht, auch nicht gut. Irgendwie harmonisch. Der ganze Raum strahlt Geborgenheit aus, man fühlt sich sofort wohl. Diese kleine Wohnung in der Nähe des Niederdörfli in Zürich war jahrzehntelang ihre Praxis. Hier empfing sie ihre Patienten. «Tee?», fragt Gabriela Vetter. Hinter ihr sind Hunderte Bücher im Regal. Titel: «Interviews mit Sterbenden». «Was können wir noch tun?». «Langweilen Sie sich?». «Die Entscheidung liegt an dir». Oder «Was wollen Frauen?».

Das einfachste Thema zuerst: Was wollen Frauen denn? Gabriela Vetter muss für einmal laut lachen. Das passt so gar nicht zu ihr, der besonnenen und stets ausgeglichenen Frau. «Da reicht die Zeit kaum aus», meint sie. «Aber ich kann Ihnen erzählen, was ich im Leben wollte.» Auf diesem Sessel, wo sie sonst ihren Patienten geduldig zuhörte, darf sie für einmal erzählen. Alles. Und was sie preisgibt, ist eindrücklich. «Ich beginne von vorne.»

Federico stirbt – und das Leben erscheint ausweglos

1953 wird sie geboren. Sie wächst in Sins auf. Ihre Kindheit: manchmal schwierig, meistens glücklich. Dabei macht sie schon als junge Frau Bekanntschaft mit dem Tod. Doch zuerst war die Liebe da. Federico. «Ich war sehr verliebt in ihn», sagt sie und wirkt dabei, als könne sie diese Gefühle von damals auch heute noch empfinden. Ihre erste grosse Liebe hat sie sehr genossen. Doch das Paar hat nicht viel Zeit zusammen. Er erkrankt an Krebs. Sie begleitet ihn auf seinem schwierigen Weg. So gut sie es eben kann, als 23-jährige, unerfahrene Frau. Ihr Freund stirbt. Und das im Alter von 23 Jahren. «Das hat mich zutiefst erschüttert. Das Leben erschien für eine Zeit lang ausweglos.» In ihrem Blick ist zu erkennen, dass sie dieses schreckliche Gefühl von damals nicht vergessen hat, auch wenn es beinahe ein halbes Jahrhundert her ist.

Gabriela Vetter rappelt sich auf. Sie will den Tod ihres Freundes verstehen. Sie steht am Anfang ihres Studiums. Onkologische Forschung mit Schwergewicht Psychologie. Ihre Forschungsarbeit hiess: «Resignation Krebs oder Krebs Resignation?» Sie sagt: «Wer löst was aus?» Ein klares Konzept war da, das sie bereits intensiv ausgearbeitet hatte, der unbedingte Wille für diese Arbeit war sowieso vorhanden. Auch aus persönlichen Gründen. Doch sie erhält die Bewilligung nicht, die Forschungsarbeit durchzuführen. «Das hat mich gleich erneut aus der Bahn geworfen.»

Diagnose im Spital Muri: «Solarplexus drehte durch»

Sie war ein gesundes Kind, eine gesunde junge Frau. Doch diese Erlebnisse machten sie kaputt. Erst geistig, dann körperlich. Mit 26 Jahren landet sie im Spital in Muri auf der Intensivstation. Ihr Blutzuckerwert ist enorm hoch. Diagnose: Diabetes Typ 1, Zuckerkrankheit. In diesem Alter eher eine Seltenheit, denn diese Form des Diabetes bricht meist in jüngeren Jahren aus. «Als ich dem Arzt meine Geschichte erzählte, meinte er, es sei ein unbewusster Suizid.» Sie betont, sie hätte sich nie und nimmer selbst etwas antun können. Aber: «Der Schock. Die Ausweglosigkeit. Der Schmerz. Der riesige Verlust. Erst der Tod. Dann die abgelehnte Forschungsarbeit. Das alles führte zu einer Selbstzerstörung. Mein vegetatives Nervensystem ist ausgerastet. Mein Solarplexus drehte durch. Und schliesslich hat meine Bauchspeicheldrüse aufgegeben, die Arbeit eingestellt.»

Jetzt sitzt sie hier, 2023, in ihrer Praxis, entspannt, in ihrem bequemen Sessel. Sie wirkt hochzufrieden und im Einklang mit dem Leben und sich selbst. «Ich fühle mich mit 70 Jahren gesünder und vitaler als mit 20», erzählt sie lächelnd. Ihre Augen verraten, dass sie die Wahrheit sagt.

Ihre Geschichte erlebte damals eine Wende zum Guten. Was ist passiert? Gabriela Vetter sucht nach Worten, muss für einmal länger überlegen. «Ich glaube, nein, ich weiss es», sagt sie und scheint die richtige Antwort gefunden zu haben. «Positives Denken. Es ist anstrengend. Aber es lohnt sich.»

Ihre Situation von damals, der Tod des geliebten Partners, die abgewiesene Forschungsarbeit, die Zuckerkrankheit, das alles hat sie belastet. Dinge, die ihr wahnsinnig wichtig waren, hat sie für immer verloren. «Das erdrückt. Das frisst sich ein. Und wenn man das nicht zulässt und verarbeitet, reagiert der Körper ganz sicher.» Das Immunsystem hängt stark mit dem Nervensystem zusammen. «Wichtig ist, dass man sich selbst ermutigt und sich im Leben neu orientiert.» Genau das tat sie.

Die Dinge entwickeln sich damals so, dass sie schliesslich doch in die internationale Krebsforschung einsteigen kann. An der Universität in Zürich und Essen (Deutschland). «Ein Traum ging in Erfüllung.» Wieder ein Schock, dieses Mal von positiver Natur. Gabriela Vetter wird Doktorin. Genau: Dr. phil. Fachpsychologin für Psychotherapie, Schwerpunkt Onkologie.

Ihre Bücher sind «Rettungsanker»

Sie schreibt Bücher mit den Titeln: «Wie kann ich helfen, wenn die Diagnose Krebs heisst?», «Krebs. Handeln statt resignieren» oder «Krebs. Krankheit der Seele?», «Brustkrebs, was nun?», «Krebs und Zuversicht» oder «Frisch verliebt ins Leben». Wie passend. Auch sie ist frisch verliebt ins Leben. Mit ihren positiven Worten hilft sie Tausenden Menschen mit Krebs und deren Angehörigen. Ihre Bücher sind für die Leser «wertvolle Ratgeber» und «Rettungsanker», wie es in den Beurteilungen heisst.

Doch sie hilft sich auch selbst. Wenn sie zurückdenkt an ihre Anfangszeiten als Diabetikerin vor über 40 Jahren, dann muss sie unweigerlich lachen. «Stellen Sie sich vor …», sagt sie immer wieder – und erzählt von Begebenheiten, die heute undenkbar erscheinen. Die Spritze für das Insulin war riesig, den Blutzuckerwert ermittelt sie mithilfe von Urin und einer Tablette im Reagenzgläschen. «So ungefähr. Handgelenk mal Pi. Das war teilweise ein Blindflug und viel Spekulation», meint sie. Heute hat sie eine Insulinpumpe, der Blutzuckerwert wird in Echtzeit via Sensor im Oberarm und Bluetooth

übermittelt. «Sensationell», findet sie. «Ich bin unheimlich froh über die Entwicklung in Sachen Diabetes, es ist irgendwie ein Wunder. Ich fühle mich nicht als kranker Mensch, ich bin nur manchmal ein bisschen eingeschränkt.»

Extreme Werte, nach oben oder unten, vermeidet sie mit striktem Willen. Kein Alkohol, keine Zigaretten, dafür viel Bewegung und eine gesunde Ernährung. Zum Frühstück isst sie jeden Tag 50 Gramm Brot, Diabetikerkonfitüre, etwas Butter und dazu Tee oder Kaffee. Zum Lunch oder Abendessen gibt es Fisch oder Fleisch, dazu viel Gemüse aller Art. «Ausgewogene Ernährung, ausgewogene Körperfunktion», sagt sie und schwört, dass sie spürt, wie ihre Bauchspeicheldrüse arbeitet. Ihr Zucker-Durchschnittswert (genannt HbA1c) ist optimal, fast wie bei einem Menschen ohne Diabetes. Darauf ist sie stolz. «Ich geniesse es, mich meinem Körper zuzuwenden. Es entspannt. Es gibt Sicherheit.» Kontrollverlust sei für die «der Horror». Das hat sie einmal erlebt, als ihr Zuckerwert so tief war, dass sie beinahe zusammenklappte. «Das wollte ich nie mehr erleben.» Und deshalb hält sie sich an strikte, selbst auferlegte Regeln. Sie hat durch den Diabetes eine Nähe zu sich selbst entwickelt, die ihr Geborgenheit schenkt. Sie hat keine Angst vor dem Diabetes.

«Wird in der Schulmedizin zu wenig thematisiert»

Die meisten Patienten, die zu ihr kommen, haben Angst. Vor dem Krebs, vor dem Tod. Viele sind wieder gesund, viele sind gestorben. Seit 45 Jahren ist sie in der Forschung, hat Tausende Krebspatienten behandelt – und sie hat etwas erkannt. «Wenn man resigniert und aufgibt, dann wird man mit grosser Wahrscheinlichkeit sterben. Dabei bedeutet die Diagnose Krebs heutzutage nicht gleich den Tod.» Was sie auch beobachten konnte: «Die Lebenshaltung hat einen grossen Einfluss – auf alles.» Heisst konkret: Die negativen äusseren Einflüsse wie Alkohol, Bewegungsmangel oder Tabak tragen zu einem erhöhten Krebsrisiko bei. «Aber: Eine positive Lebenshaltung stärkt einen Menschen und hat ebenfalls einen grossen Einfluss.» Man sollte positiv sein und positiv bleiben. «Das kommt gut», sagt sie selbst immer. Und sie setzt auch auf Meditation und Entspannung. Mit ihren Patienten hat sie immer wieder verschiedene Methoden eingeübt. «In der heutigen, schnelllebigen und digitalen Welt sollten wir unserem Körper sehr oft Entspannung zuführen. Fast so regelmässig, wie wir essen und trinken. Das hat Einfluss auf unser Nervensystem. Entspannung wirkt sich positiv auf die Psyche aus.»

Gabriela Vetter kennt viele Menschen, bei denen sie eine Transformation erlebte. Zum Positiven. Und so – glaubt sie – konnte auch der Krebs besiegt werden. «Man ist einem Tumor nicht ausgeliefert. Man kann seine Selbstheilungskräfte über das Immunsystem aktivieren. Die Psyche, das Nervensystem, das Immunsystem, alles ist eng miteinander verbunden. Das wird in der Schulmedizin viel zu wenig thematisiert.»

Doch kein Beispiel ist so gut wie das selbst erlebte. Ihr Diabetesarzt sagte einst zu ihr, dass ihre Inselzellen in der Bauchspeicheldrüse tot sind und nie mehr Insulin produzieren. «Ich dachte mir: ‹Doch. Ich kann es wieder aktivieren.›» Nach mehreren Jahren haben sich die Zellen teilweise regeneriert. «Das war für mich eine Bestätigung, dass wir selbst grossen Einfluss auf unseren Körper haben.» Deshalb sagt sie: «Positiv denken. Immer. Überall. Es ist manchmal anstrengend. Aber es lohnt sich.» Sie selbst ist mit ihrer Geschichte ein gutes Beispiel. Das Leben sagte in den jungen Jahren «Nein». Und sie sagte: «Doch.»

Sie muss nicht mehr

Durch den Diabetes hat sie sich selbst viel besser kennengelernt. Durch ihre Arbeit als Psycho-Onkologin durfte sie Menschen helfen «und über 40 Jahre lang meinen Traumberuf ausüben». Im März 2023 hat sie ihre Praxis geschlossen. «Ich muss nicht mehr. Ich habe aufgehört bei bester Energie.» Und jetzt hat sie Zeit für sich. Für ihren Partner. Die Yogalektionen in den frühen Morgenstunden, die Zeit im Garten am Nachmittag und die guten Bücher in den Abendstunden, das alles macht sie glücklich. «Ich will offen sein für Neues», sagt die frisch pensionierte Frau. Etwas, das bleibt und auch perfekt zu ihr passt, ist ihre Musik. «Psyche. Geist. Körper. Alles sollte so harmonisch wie möglich sein», sagt sie.

Kein anderes Instrument widerspiegelt die Harmonie so gut wie die Harfe. Zart zupft sie an den Saiten. Die Augen geschlossen, der Ausdruck im Gesicht friedlich, als würde sie träumen. Es entstehen sanfte Klänge. Einfach wundervoll. Genau wie sie.


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