«Die Angst ist immer im Kopf»
21.03.2025 WohlenEher düstere Aussichten
David Nauer referierte über die Ukraine
Der Konflikt in der Ukraine bewegt aktuell die ganze Welt. David Nauer nennt es einen monströsen Krieg. Seine Einordnung ist zutreffend – denn er ist Ukraine-Experte. ...
Eher düstere Aussichten
David Nauer referierte über die Ukraine
Der Konflikt in der Ukraine bewegt aktuell die ganze Welt. David Nauer nennt es einen monströsen Krieg. Seine Einordnung ist zutreffend – denn er ist Ukraine-Experte. Nauer übernahm im Herbst 2015 den Posten als Russlandkorrespondent für Radio SRF, und seit über zwei Jahren berichtet er für das Schweizer Fernsehen über die Situation in der Ukraine. Nun referierte er in der voll besetzten Kanti-Aula über das Leben im Krieg. Er beurteilte auch die aktuellen Friedensgespräche. Seine Prognose fällt jedoch eher düster aus. Nauer befürchtet, dass Russland kaum an einem fairen Frieden interessiert sei und dass der Krieg noch Jahre dauern könne. --dm
Kantiforum: SRF-Experte David Nauer über die Kriegssituation in der Ukraine
Das Leben im Krieg in der Ukraine. Das Thema hätte nicht aktueller sein können. Und der Referent, SRF-Korrespondent David Nauer, ist die dominante Schweizer Stimme in diesem Konflikt. Er berichtete aus dem Kriegsgebiet, zeichnete erschreckende Bilder und eher betrübliche Aussichten.
Daniel Marti
«Nein.» So lautet die unmissverständliche Antwort von David Nauer auf die Frage, die am meisten interessiert. Gibt es Aussichten auf einen Frieden? Der Krieg, der die Welt beherrscht, wird also laut Experte weiterhin andauern. Und SRF-Korrespondent David Nauer muss es ja wissen. Er reist regelmässig in die Ukraine. Kennt die Menschen, die Lage im zerrütteten Land und die Machenschaften von Russland-Herrscher Wladimir Putin. «Die Ukrainer sind zu vielem bereit, aber sie brauchen Sicherheitsgarantien, das klingt doch vernünftig», erklärte er dem interessierten Publikum im Kantiforum. Der Saal war praktisch ausverkauft.
Zudem sei die Ukraine aus russischer Sicht ein illegaler Staat, «den man ins russische Reich heimholen» wolle. Und Wladimir Putin «trickst wie ein Geheimdienstagent», so Nauer weiter. Die Welt habe es hier mit einem Diktator zu tun, der bereit sei Hunderttausende Menschen zu opfern, eigene Leute und Ukrainer. «Es kann sein, dass ich mich irre, aber der Krieg wird weitergehen», so seine Prognose. Und wohl traurige Tatsache.
Live von der Kanti zur «Tagesschau»
Auf diese Prognose am Ende des Vortrags wartete das Publikum äusserst gespannt. Weitere Höhepunkte gab es zuvor etliche. Der Einstieg beispielsweise ist nicht zu toppen. Die Weltlage – Putin telefonierte an diesem Tag mit US-Präsident Donald Trump – verlangte es, dass Nauers Einschätzung zur Berichterstattung der «Tagesschau» zählte. Und das dienstags, 19.30 Uhr. Beginn seines Referates und «Tagesschau» waren zeitgleich.
Das wurde allerdings glänzend gelöst: Draussen vor der Kanti gab Nauer seine Einordnung live dem TV-Publikum bekannt, und drinnen schaute das (wartende) Kantiforum-Publikum die «Tagesschau» auf der Grossleinwand. Perfekt, besser geht kaum.
Putin sei «nicht an einem fairen Ende des Krieges interessiert, er bleibt bei seiner harten Linie», sagte Nauer vor der Kanti und drinnen schauten alle mit. In seinem Referat bestätigte der Ukraine-Experte diese These mehrfach. Und Nauer kennt beide Seiten. Ab 2015 war er Russlandkorrespondent in Moskau, seit 2023 berichtet er fürs SRF über die Ukraine.
Geistige Landesverteidigung zum Trotz
David Nauer zeigte verschiedene und vielfältige Einblicke ins Kriegsland. 80 Prozent des Landes werden von der Ukraine kontrolliert. Sein Lieblingsbild – eine Bar in der Hauptstadt Kiew – beweist, dass man in der Ukraine ganz normal leben kann. Erst 30, 40 Kilometer von der Front entfernt sei der Krieg spürbar. In der Zone 10 bis 30 Kilometer bis zum Frontabschnitt sei das zivile Leben auf Sparflamme. «Und in der Distanz ab zehn Kilometern bis zur Front gibt es kein Leben mehr.»
Als spezielles Beispiel stellte er die Stadt Lwiw (Deutsch: Lemberg) vor. Im Westen des Landes gelegen, 800 Kilometer von der Front entfernt. «Diese Stadt ist zur sicheren Blase geworden. Viele ziehen dorthin, fliehen dorthin.» Das Leben sei in Lwiw ganz normal, alles funktioniert bestens. Eines sei allerdings auffallend. «Es gibt jeden Tag Soldaten-Beerdigungen. Es ist erschreckend, wie der Friedhof gewachsen ist.»
Als Gegenpol nennt er die Millionenstadt Charkiw, 30 Kilometer von der Front entfernt. Da gibt es vor der Stadt Panzergräben, die an Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkriegs erinnern. Und drinnen im Stadtzentrum steigen Techno-Partys. Da sei eine besondere Stimmung spürbar. Rein nach dem Motto «Wenn wir nicht normal weiterleben, wofür kämpfen dann unsere Männer an der Front?» Nauer nennt es eine Art «Geistige Landesverteidigung. Die Ukrainerinnen und Ukrainer wollen zum Trotz weiterleben.» Und das nur ein paar Kilometer vom monströsen Krieg entfernt, «der alles zermalmt, das ihm im Weg steht».
In seinem Einsatzgebiet ist halt die Hölle los …
David Nauer schilderte bei seinem Vortrag das Leben von verschiedenen Personen. Vom Soldaten, der so viel Ruhe ausstrahlt und schwer verletzt wurde. Sobald geheilt, will er wieder an die Front. Von Margarita, die sich als Mutter von drei Kindern durchschlägt und nicht an eine Flucht denken will. Von Ekatarina, die drei Geschäfte besitzt, Porsche fährt und trotzdem in der Nähe der Front ausharrt. «Die Ukrainer sind nicht alle Helden», sagt Nauer, «aber ich habe grossen Respekt vor diesen Menschen, die ein solches Monster ertragen müssen.»
Er selbst habe es gut, wenn er in die Ukraine reist. Er könne frei arbeiten und werde respektiert. «Aber meine Begleiter leben in diesem zerstörten Land.» Sein Kameramann ist beispielsweise an die Front kommandiert worden. Wenn Nauer dann in der Ukraine weilt, nimmt der Kameramann dann «Ferien von der Front».
Seine Einsätze plant Nauer, der Familienvater, immer so sicher wie nur möglich. «An der Frontnähe kann ich immer selbst entscheiden, wie viel Risiko ich eingehen möchte. Aber die Angst ist immer im Kopf.» Denn in seinem Einsatzgebiet sei nun mal «immer die Hölle los». Sein Arbeitgeber, das Medienunternehmen Schweizer Fernsehen und Radio SRF, bezahle ihn für seinen Job. Und dieser Job beinhaltet, dass er dort hingehe, wo Krieg herrscht. Natürlich gibt es auch Zwiespälte. Gemäss russischer Version ist die Ukraine eine terroristische Organisation. Und mit seiner Arbeit leiste er Unterstützung für die Ukraine. Das allein macht es ihm unmöglich, nach Russland zu reisen. Gemäss Putin-Version würde dem Schweizer Journalisten dort das Straflager drohen.
Ein Jahr an der Front – lukrativ für die Familie
Trotz allem versucht David Nauer, die journalistische Distanz zu wahren. Die Herausforderung, Nähe herzustellen und Distanz zu wahren, muss er im Kriegsgebiet täglich meistern. Oder er versucht zumindest, dieses Problem gut zu lösen. Mit einer professionellen Einstellung.
Wie die eigenen Bevölkerungen zu den Präsidenten Wladimir Putin und Wolodimir Selenski stehen, wollte das Publikum wissen. «In Russland steigen die Löhne, vor allem in der Rüstungsindustrie und in der Armee sind die Jobs gut bezahlt. Der Preis für den Krieg wird jedoch laufend höher, die Staatsschulden steigen», sagte Nauer und machte zwei interessante Vergleiche. Ein Jahr lang für Russland zu kämpfen und dann im Krieg zu sterben, könne finanziell für die Familie lukrativer sein, als ein Leben lang zu arbeiten. Was für eine Ausgangslage …
Weiter: «20 Prozent der Russen sind total gegen den Krieg, getrauen sich das aber nicht zu sagen.» Weitere 20 Prozent sind für den Krieg, 60 Prozent ist es «sehr unwohl dabei, aber wenn schon, dann wünschen sie sich einen russischen Sieg». Russland werde zudem oft «chronisch unterschätzt und überschätzt – und das gleichzeitig». Auch das macht die Ausgangslage nicht leichter.
Keine «demokratische Friedenstaube»
Rund 60 bis 65 Prozent der ukrainischen Bevölkerung stehen zu Präsident Wolodimir Selenski. «Es gibt aber auch Leute, die ihn nicht mögen. Die sagen, er sei ein Showman.» Für Nauer ist der Ukraine-Präsident integer, aber in seinem Umfeld gebe es auch «unanständige Sachen». So oder so, die Ukraine werde so lange kämpfen, «wie sie kann, da gibt es keine Kapitulation». Darum könne sich der Krieg noch ein paar Jahre hinziehen.
Und ein Russland ohne Putin? «Der Krieg ist sein Ding», aber gleichzeitig müsse er die Elite bei guter Laune halten. «Denn die Oligarchen wollen viel lieber in St. Moritz Ski fahren», als Sanktionen des Westens aussitzen. Und die Hoffnung, ein Nachfolger Putins werde eine «demokratische Friedenstaube» sein, werde sich nicht erfüllen.
Die Hoffnungen auf ein schnelles Ende des monströsen Konflikts sind also klein. David Nauer, der von der Fachzeitschrift «Schweizer Journalist» zum «Besten Reporter des Jahres 2024», gewählt wurde, würde sehr gern ein positiveres Bild zeichnen. Obwohl seine Analyse ein trauriges aktuelles Bild zeichnet, besteht sein Schlusswort auch aus Hoffnung: «Ich hoffe, irgendwann über eine freie Ukraine berichten zu können. Dann wird es langweilig für mich als Journalist. Aber ich sehne mich nach dieser Langeweile.»



