Der Mann der wahren Schätze
13.09.2024 WohlenSchweizer Strohmuseum: Lokalhistoriker Daniel Güntert veranstaltet sechs Führungen im Archiv
Es kann eine Spule sein, ein raffiniertes Werkzeug aus dem 19. Jahrhundert oder ein 150 Jahre altes Musterbuch. Daniel Güntert kennt die Geschichte und die ...
Schweizer Strohmuseum: Lokalhistoriker Daniel Güntert veranstaltet sechs Führungen im Archiv
Es kann eine Spule sein, ein raffiniertes Werkzeug aus dem 19. Jahrhundert oder ein 150 Jahre altes Musterbuch. Daniel Güntert kennt die Geschichte und die Menschen, die dahinterstecken. Solche faszinierende Storys erzählt und dokumentiert er bei seinen Führungen durchs Archiv des Strohmuseums.
Daniel Marti
«Manchmal», sagt Daniel Güntert, «habe ich das Gefühl, dass aktuell Hochsaison ist.» Das tönt doch eher überraschend, ist der Wohler Lokalhistoriker doch für das Depot und das Archiv des Schweizer Strohmuseums verantwortlich. Aber gegenwärtig wird eben viel Material angeliefert, alte Gegenstände aus der ehemaligen Blütezeit der Strohindustrie. Muster oder Werkzeuge oder Protokolle oder Geschäftsberichte. Es ist Material, das von älteren Haushalten stammt. Wenn jemand das Haus der Grosseltern räumt, geht der Blick oft tief in die Vergangenheit. «Und da tauchen oft Trouvaillen auf.» Fundstücke oder Dokumente aus vergangenen Zeiten.
Oft reicht ein Anruf einer Tochter oder eines Enkels eines ehemaligen Prokuristen, der Grossvater oder der Urgrossvater habe mal bei der Firma Georges Meyer gearbeitet oder die Urgrossmutter machte Heimarbeit für irgendeinen Strohindustriellen. Schon ist der Kontakt hergestellt – und Daniel Güntert postwendend auf dem besagten Estrich. «Manchmal bringen Leute einfach ihre Ware aus der Strohindustrie vorbei», erklärt er weiter, «monatlich zwei- oder dreimal.» Diese Kontaktaufnahmen finden immer öfter statt. «Seit zehn Jahren ist die Tendenz steigend.»
Die Spuren führten nach Muri und Shanghai
Oder kürzlich meldete sich eine ältere Frau. Sie gehe jetzt ins Altersheim und sie habe ein paar Schachteln Material, die ihn interessieren könnten. «Da waren echte Schätze drin», verrät Güntert. «Das ist doch faszinierend.» Nach der Sichtung – immer zusammen mit Museumsleiterin Petra Giezendanner – beginnt die Forschungsarbeit. Und die ergibt oft überraschende Ergebnisse. So fand Güntert heraus, dass eine Firma Gerer Stöckli in Muri rund 50 Jahre lang Waren für die Wohler Strohindustrie produzierte. Vorher hatte das niemand auf dem Radar. «Diese Firma in Muri stellte ganz raffinierte Sachen her.» Dank einem Stempel auf einem Briefumschlag konnte der Lokalhistoriker die entscheidende Spur aufnehmen.
Oder ein Stofffetzen, der von einer Wohler Strohfirma stammte und dann in einem privaten Haushalt weiter gebraucht wurde, landete auf dem Tisch von Güntert. Er konnte die Spur weiterverfolgen und fand heraus, dass das Stück Stoff aus Shanghai stammte. Ein wichtiger Ort in Wohlens weltweitem Beziehungsnetz während der Blütezeit der Strohindustrie. «So bekommt ein Objekt eine ganz andere Bedeutung. Die Geschichte dahinter ist dann sehr faszinierend.»
Und so landete vieles auf dem Untersuchungstisch von Daniel Güntert. Dann wird alles Wesentliche erfasst, das Objekt im Computer festgehalten und dann im Archiv für die Ewigkeit abgelegt. Im Archiv, unter dem Museum, hat es manches Schmuckstück, manches zeitgeschichtliche Dokument. «Aber man kann ja nicht alles in der Dauerausstellung zeigen, das würde sie überladen», so Güntert. «Es wäre schön, wenn man den echten Schätzen mehr Raum geben könnte. Aber so, wie es ist, geht das in Ordnung.»
Messgewand und Altartuch
Dann gibt es noch die Möglichkeit, wertvolle Utensilien im Archiv selber sichtbar zu machen. Wie etwa ein Messgewand aus dem Jahr 1750 oder ein Ehrentuch aus dem Jahr 1870. Beide hängen hinter einer Glasscheibe bestens geschützt, bestens zu sehen für die Archivbesucher. Das Messgewand, versehen mit Strohverzierungen, ist eine spezielle Anfertigung mittels Handarbeit, die maschinelle Arbeit der Ausstanzungen wurde erst etwa 100 Jahre später entdeckt. Das Messgewand war für Klosterpriester bestimmt, die mit dem Rücken zu den Kirchgängern die Messe hielten. Und das Ehrentuch, wohl ein Altartuch, ist voller katholischer Symbolik. Verziert mit Rosshaaren und Seide.
Diese beiden Kunstwerke hinter Plexiglas bestaunen zu können, sei jedenfalls um Welten besser, als sie in irgendeiner Archivschachtel verschwinden zu lassen, so Güntert. «Wir haben das Privileg, solche Rosinen zu bewahren.» Daniel Güntert spricht bewusst in der Mehrzahl. Denn mit Yvonne Amsler und Doris Stäger unterstützen ihn zwei wichtige Archivmitarbeiterinnen. «Jedes Kunststück ist phänomenal – vor allem auch die Menschen, die dahinterstecken.»
Spezielle Fähigkeiten und Durchhaltewillen
Mittlerweile hat der ehemalige Bezlehrer mit Jahrgang 1961 rund 3000 wertvolle Stücke fotografiert und im Computer dokumentiert und gespeichert. Ein Blick in eine Liste und er weiss im Nu, wo jedes Stück lagert.
Hutsammlung, Musterbücher, Musterkarten, Werkzeuge für die Heimarbeit («raffinierte kleine Maschinen»), Dokumente, Verwaltungsratsprotokolle, Verträge, Anfragen, Offerten, Kassenbücher – dies sind die verschiedenen Kategorien. «Kassenbücher sind beispielsweise die Grundlage für manche industriegeschichtliche Story», sagt er. «Es gibt halt so manche Facette zur Strohindustrie, und oft kann man wichtige Zusammenhänge aufzeichnen. Die Strohindustrie war auch immer abhängig davon, was auf der Welt passierte.» Auch darum seien das Strohmuseum und die Archivierung zu seinem leidenschaftlichen Hobby geworden, verrät der Lokalhistoriker.
Die Strohindustrie scheint ihn nicht mehr loszulassen. «Sieht so aus.» Die Strohindustrie zeige auf, was Menschen so Besonderes leisten können. «Die Strohindustrie steht für spezielle Fähigkeiten und für Durchhaltewillen. Und wir Wohler haben das genau vor unserer Haustür.»
Die Haifischhaut und der goldene Faden aus Wohlen
Gibt es für ihn auch Lieblingsstücke? «Sicher.» Ein raffiniertes Werkzeug aus dem Jahr 1860 diente dazu, Strohgeflechte zu messen. «Das funktionierte wie eine Haifischhaut.» Die Haut von Haien ist mit Abertausenden Zähnchen ausgestattet. Sie dient als Schutz und ist beim Schwimmen von Nutzen. «Heute», vergleicht er, «fliegt die Swiss mit ihren Flugzeugen mit einer ähnlichen Haut und spart damit Tausende von Litern Kerosin.» Hinter dem Strohwerkzeug, das 162 Jahre alt ist, steckt tatsächlich eine bedeutungsvolle Geschichte.
Oder der goldene Sicherheitsfaden, der um 1970 in französische Noten und später in Schweizer Noten eingearbeitet wurde, wurde in Wohlen produziert. Die Firma Steinmann (Oscosa) stellte diesen Faden her. «Das ist doch erstaunlich, die hatten bei der Oscosa eben tolle Tüftler.» Die Serie mit dem abgebildeten Tessiner Architekten Francesco Borromini gab die SNB zwischen 1976 und 1979 heraus.
Und in Wohlen schlummert im Museumsarchiv genau eine solche Spule. «Eine tolle Geschichte.» So ist es. «Hier lagern wahre Schätze, wertvolles Kulturgut und viel Kulturgeschichte. Vielen Leuten ist das gar nicht bewusst.»
Museum und Archiv wie ein Eisberg
Genau darum bietet Daniel Güntert seine Archivführungen an. Die nächste am Samstag, 21. September, dann noch eine im November und vier im nächsten Jahr (siehe Kasten). «Ein Querschnitt zeigt dann die unermessliche Vielfalt des Strohmuseums und des Archivs.»
Das Archiv ist nur während dieser Führungen geöffnet, man kann allerdings auch einzelne Führungen separat buchen. «Hier schlummern wahrlich wahre Schätze», betont Daniel Güntert, der das Schweizer Strohmuseum gerne mit einem Eisberg vergleicht. «Ein Siebtel ragt aus dem Wasser, der Rest ist im Boden.» Die Dauerausstellung umfasst also rund einen Siebtel der wertvollen Gegenstände, «sechs Siebtel der Schätze sind im Archiv».
Die Führungen
An insgesamt sechs Daten führt Daniel Güntert seine Archivführungen im Schweizer Strohmuseum durch: Zwei finden noch 2024 statt. Und zwar am Samstag, 21. September, und am Samstag, 16. November, jeweils von 14.15 bis 15 Uhr.
Auch die vier Daten im Jahr 2025 sind bereits fixiert: dies jeweils am Samstag, und zwar am 15. Februar, am 10. Mai, am 13. September und am 15. November. – Anmeldung über die Homepage des Schweizer Strohmuseums.