Das leise Gefühl
23.12.2025 Literatur, BücherEine Geschichte über Weihnachten, die Einsamkeit und Poesie
Es gibt Menschen, die eine poetische Seele in sich tragen, auch wenn das Leben sie gelehrt hat, ihre Träume leiser zu stellen. Menschen, die den
Aileen Pilgrim
Dezember nicht ...
Eine Geschichte über Weihnachten, die Einsamkeit und Poesie
Es gibt Menschen, die eine poetische Seele in sich tragen, auch wenn das Leben sie gelehrt hat, ihre Träume leiser zu stellen. Menschen, die den
Aileen Pilgrim
Dezember nicht nur erleben, sondern hören und fühlen – wie einen feinen Riss in der Luft, der Schmerz und Hoffnung zugleich durchlässt. Noor ist so ein Mensch.
Noor bedeutet auf Arabisch «Licht». Aber sie fühlt sich in dieser kalten Jahreszeit selten leuchtend. Als Kind war der Advent für Noor magisch. Voller Glanz, Vorfreude und warmem Lichterflackern.
Doch je älter sie wurde, desto mehr spürte sie eine stille Einsamkeit, die sich nicht in Tränen, sondern in einer schwereren Atmosphäre zeigte, sobald die ersten Weihnachtsmärkte eröffnet wurden. Pärchen halten Händchen, Familien vergnügen sich, Freunde lachen. Alles wirkt schön, fast schon perfekt – während sich dennoch das eine oder andere Herz etwas leiser anfühlt.
Noor kannte dieses Gefühl gut. Es war nicht Neid, sondern Sehnsucht. Die Sehnsucht nach jemandem, der ihre Seele versteht und nicht fragt, was mit ihr «nicht stimmt», sondern «was mit der Welt nicht stimmt».
Noor liebte Poesie. Sie schrieb in ihr Tagebuch: «Die Stille des Winters hängt sanft in der Luft, legt sich auf Zweige und Dächer und lässt das Licht der Laternen leiser wirken, als würde der Winter die Welt kurz zum Schweigen überreden. In diesem Schweigen liegt ein Versprechen: Wer liebt, der wird den Winter durchbrechen.»
Sie liebte diese Stille. In ihr schien die Welt ihre Empfindsamkeit zu verstehen. Doch zu Weihnachten spürte sie ihre Einsamkeit am stärksten, denn Weihnachten gilt als Fest der Nähe. Wer Nähe ersehnt, sie aber nicht hat, hört in der Stille das Echo dieser Sehnsucht.
«Es gibt Monate», hielt Noor einmal fest, «die überkommen einen wie ein Wirbelwind – und es gibt den Dezember. Er kommt nicht laut, sondern mit einem kaum hörbaren Glitzern, als würde jemand unsichtbar Schneestaub über die Welt hauchen. Plötzlich duften Strassen nach gebrannten Mandeln, Menschen nach Zimt und die Zeit beginnt, wo man immer mehr das Bedürfnis hat, einmal tief durchzuatmen.» Ihre Oma hatte sie zu diesen Zeilen inspiriert. Eine Frau, die in Bildern dachte und die Welt stets mit den Gefühlen verband.
Ihr Grossvater meinte oft: «Der Advent ist die Pause zwischen Alltagshektik und Jahresenddrama.» Noor vervollständigte dazu ihre eigenen Gedanken in ihrem Tagebuch: «Auf der einen Seite stehen Einkaufslisten, Termine und Geschenke. Auf der anderen Seite entfachen unseren Seelen ein Verlangen, doch einfach einmal still zu stehen – am liebsten genau dort, wo ein Kaminfeuer brennt und draussen die Kälte gegen die Fensterscheibe drängt.»
Noor erinnert sich an ihren Grossvater, wie er in einer Decke sitzend die Magie des Dezembers mit einem Lächeln auf den Lippen und seiner Pfeife im Mund genoss – weil er an etwas Grösseres glaubte als an sich selbst.
Noor hatte diese Art des Glaubens geerbt, aber sie sprach nicht mehr darüber. Die Welt belächelt Menschen, die an Magie glauben. Doch genau solche Begegnungen, die plötzlich Sinn ergeben, könnten einem doch das Leben verändern.
Es war wenige Tage vor Weihnachten. Ein Abend, der irgendwie zu still, zu kalt und zu vertraut war. Noor spazierte durch die Stadt, blieb an einem Brunnen kurz stehen. Dann hörte sie Schritte. Leise, zögerlich, als komme jemand mit derselben Melancholie daher wie sie selbst. Sie drehte sich um. Und genau dort, in dieser Dezemberstille, stand ein Mensch, der sie ansah, als würde er gerade erkennen, dass er nicht die einzige verlorene Seele in dieser Weihnachtszeit war.
Ein Fremder – und doch so vertraut – blieb wenige Schritte vor ihr stehen. Seine Augen hatten jene weiche Tiefe, die Menschen tragen, die viel gefühlt und lange geschwiegen haben. Der Blick eines Menschen, der versucht hat, nicht zu hoffen – und es dennoch immer wieder tat.
«Schöner Abend», sagte er. Seine Worte klangen nach echter Einsamkeit. «Ja, obwohl er irgendwie leer ist», antwortete Noor und lächelte schüchtern. «Aber irgendwie erwartungsvoll», antwortete er. Sie horchte auf. Als hätte er etwas ausgesprochen, das auch in ihr leise geklungen hatte. Er deutete auf den Weg, der im Glanz der Lichterketten schimmerte. «Darf ich ein Stück mit dir gehen?» Noor nickte. «Gerne.»
Sie gingen los, ohne Ziel. Ihre Schritte passten überraschend gut ineinander, als hätten sie sich schon vor langer Zeit aneinander gewöhnt. Nach einer Weile fragte er: «Magst du Weihnachten?» «Sehr», sagte Noor, «aber in dieser Zeit fühle ich mich oft besonders allein.» Ihm geht es genauso. «Ich dachte immer, ich sei der Einzige, der Weihnachten liebt und trotzdem jedes Jahr ein bisschen einsamer wird.» Ihre Blicke trafen sich für einen Moment. «Vielleicht muss man eine poetische Seele haben, um gleichzeitig voller Liebe und voller Einsamkeit zu sein», sagte Noor. «Oder man muss eine poetische Seele haben, um überhaupt zu überleben», meinte er lachend.
Zwischen ihnen entstand eine leichte Wärme. «Der Advent entfaltet sich so mystisch, selbst ein Greis wird in seiner Magie wieder kindlich», sprach Noor die Worte ihres Grossvaters laut aus. «Magie. Dieses Wort habe ich schon lange nicht benutzt», sagte er. «Warum?», fragte Noor. «Vielleicht, weil ich aufgehört habe zu glauben, dass Unmögliches passieren kann. Aber heute treffe ich jemanden, der genauso fühlt wie ich. Fast ein kleines Wunder.»
Am Fluss verlangsamten sich ihre Schritte. «Manche tragen eine unsichtbare Melancholie», sagte er, «erkennbar nur für jene, die sie selbst kennen.» «Eine Melancholie, die nicht traurig macht, sondern tief», ergänzte Noor. Er blieb kurz stehen. «Ich weiss nicht, warum ich dir das sage, aber ich habe mich selten so wenig allein gefühlt wie jetzt.» Noor spürte etwas Warmes in ihrer Brust. Ein Gefühl, das sie fast vergessen hatte. «Ich auch», flüsterte sie.
Noor fragte nach seinem Namen. «Miran», antwortete er, «der Leuchtende.» Und Noor sagte leise: «Weisst du, gerade fühlt es sich an, als müsste etwas in mir nicht mehr gegen die Kälte ankämpfen.» Und er schien zu wissen: «Vielleicht ist es das, was passiert, wenn zwei Menschen, die die gleiche Stille tragen, einander begegnen.» Noor schaute in den Himmel, in dem der weisse Nebel sich mit dem Licht der Laternen mischte. «Manchmal glaube ich, dass grosse Veränderungen nicht durch Entscheidungen kommen. Sondern durch kleine Augenblicke, durch Begegnungen, die eine verborgene Tür in uns öffnen», sagte Noor. «Vielleicht ist Liebe … nichts Lautes», sagte Miran. «Vielleicht ist sie nur das stille Erkennen: Du bist auch hier.»
Die Figur Noor ist eigentlich Aileen Pilgrim selbst. Miran, so heisst es, sei die tiefe Sehnsucht durch die Augen der Poesie.
Über die Autorin: Aileen Pilgrim ist 27 Jahre jung und kommt aus Muri. Sie arbeitet als Psychologin in Windisch. Sie mag die Poesie, hat eine philosophische Seele und liebt das Singen. In der Musikszene kennt man sie unter ihrem Künstlernamen «Noorai». Sie ist die ältere Schwester der Fussballerin Alayah Pilgrim.


