Das Haus der Chancen
15.07.2025 Wohlen, JugendWo der Pfeil trifft
Sommerserie «Auf den Punkt»: Start in Wohlen
Rigistrasse 10 in Wohlen. Da steckt der Dartpfeil. Und da stattet die Redaktion in der Sommerserie «Auf den Punkt» also einen Besuch ab. Es ist die ...
Wo der Pfeil trifft
Sommerserie «Auf den Punkt»: Start in Wohlen
Rigistrasse 10 in Wohlen. Da steckt der Dartpfeil. Und da stattet die Redaktion in der Sommerserie «Auf den Punkt» also einen Besuch ab. Es ist die Sozialpädagogische Gemeinschaft SPG. Im Haus werden Kinder und Jugendliche unterstützt, die aufgrund familiärer Situationen nicht bei ihren Eltern aufwachsen können. Ein Besuch zeigt, dass hier ganz viele spannende Geschichten darauf warten, erzählt zu werden. --red
Sommerserie «Auf den Punkt»: Zu Besuch bei der Sozialpädagogischen Gemeinschaft SPG im Haus Wohlen
Es ist ein unscheinbares Haus an der Rigistrasse 10 in Wohlen. Hinter den Mauern steckt aber eine Welt voller Geschichten und Herausforderungen. Die Sozialpädagogische Gemeinschaft SPG unterstützt in diesen Räumlichkeiten Kinder und Jugendliche, die aufgrund familiärer Situationen nicht bei ihren Eltern aufwachsen können.
Josip Lasic
An diesem Haus ist jeder Wohler in seinem Leben schon mehrfach vorbeispaziert. Viele wissen aber nicht, was dort drin passiert. Einige haben schon Dinge darüber gehört, die aber den wahren Kern der Arbeit, die an der Rigistrasse 10 geleistet wird, nur bedingt erfassen. «Es ist dann schnell davon die Rede, dass hier die Schwererziehbaren einquartiert sind», sagt Sozialpädagoge Jonas Bühlmann. Er arbeitet für die Sozialpädagogischen Gemeinschaften SPG und ist Leiter der beiden Häuser in Wohlen und Muri. Und das Haus Wohlen ist dasjenige an der Rigistrasse 10.
Die Sommerserie «Auf den Punkt» (siehe Box «Die Serie») soll helfen, ein bisschen Licht ins Dunkel zu bringen, wie die Arbeit der SPG im Detail aussieht. Vielleicht ist es Glück, vielleicht auch Schicksal, dass der Pfeil exakt in diesem Haus einschlägt. Es ist ziemlich genau 25 Jahre her, dass die SPG von der Aeschstrasse in dieses Gebäude gezogen ist. Die Serie ist häufig eine spontane und abenteuerliche Sache. In diesem Fall wird die Spontanität ein wenig reduziert und mit einem kurzen Telefon bei der Institution abgeklärt, ob ein solcher Bericht überhaupt erwünscht ist, bevor ich dort unangemeldet aufkreuze. Franz Lötscher, Geschäftsführer der Stiftung ikj, zu der auch die SPG gehören, empfängt mich am allerletzten Tag, an dem er noch als Geschäftsführer tätig ist. Schnell stellt sich heraus, dass mich ein unangemeldeter Besuch auch nicht weit gebracht hätte. Bei meiner Ankunft ist ausser Lötscher und Bühlmann niemand vor Ort. In den Sozialpädagogischen Gemeinschaften leben Kinder und Jugendliche, die aufgrund der Situation in ihrer Familie dort nicht aufwachsen können. Da Schulferien sind, ist aber von den Jugendlichen niemand vor Ort. Das Haus und der dazugehörige Garten mit Trampolin, Grillstelle und Pingpong-Tisch wirken auf den ersten Blick sehr einladend. «Die Jugendlichen schätzen es auch sehr, dass von aussen nicht ersichtlich ist, dass hier eine solche Institution zu Hause ist», sagt Bühlmann. Und auch im Inneren erwartet mich ein sehr gepflegtes, grossen und schönes Haus. «Mir gefällt es hier auch sehr gut. Insbesondere die Architektur finde ich schön», so Bühlmann. «Ich könnte mir durchaus vorstellen, in einem solchen Haus zu wohnen.» Das muss der Sozialpädagoge zwischendurch sogar. Die Kinder und Jugendlichen haben rund um die Uhr Ansprechpersonen im Haus. Das bedeutet, dass jede Nacht jemand vom Fachpersonal dort schläft.
Strukturen wichtig, Regeln nicht in Stein gemeisselt
Lötscher erklärt kurz den Aufbau der gesamten Stiftung (siehe Box). Schnell wird klar: Der Begriff «schwererziehbar» ist nicht nur abwertend, sondern auch falsch. «Wir sind kein Kinderheim, in dem man als Strafe für ein Fehlverhalten landet. Die Kinder und Jugendlichen, die bei uns sind, stecken zu Hause in einer Situation, die ihnen keine adäquate Entwicklung ermöglicht. Das kann verschiedene Ursachen haben. Wir sind dafür da, ihnen zu helfen und ihnen Strukturen zu geben, die ihnen eine angemessene Entwicklung erlauben.»
Das Wohl und die Unterstützung der Kinder und Jugendlichen stehen an alleroberster Stelle. Ein wichtiger Punkt sind Strukturen. Der Alltag im Haus ähnelt dem in einer Familie: Aufstehen, Schule, Mittagessen, Hausaufgaben. Eine Lehrperson kommt zweimal wöchentlich, um schulische Probleme gezielt anzugehen. Die Jugendlichen übernehmen Verantwortung, erledigen Aufgaben im Haushalt und planen Einkäufe. Freizeit bleibt dennoch. Es gibt Regeln, die aber nicht mit der Brechstange durchgesetzt werden. Es werden stets die individuellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen abgewogen. So ist der Idealfall, dass die Kinder aus dem Haus Wohlen auch eines der Schulhäuser innerhalb der Gemeinde besuchen. Lötscher: «Jetzt kann es aber sein, dass ein Jugendlicher bereits in der dritten Klasse der Oberstufe ist und die Platzierung bei uns im Januar seines letzten Schuljahres erfolgt. Es kann kontraproduktiv sein, einen Jugendlichen aus seinem gewohnten Umfeld herauszureissen. Insbesondere zu so einem Zeitpunkt, wo er die Schule ohnehin in einem halben Jahr abschliessen würde. Es kann aber auch sein, dass die Probleme stark mit der Schule zusammenhängen. Dann kann eine Veränderung des Umfelds wieder sehr viel Positives bewirken. Das muss immer wieder von Fall zu Fall neu beurteilt werden.» Die Altersstruktur reicht von zehn bis achtzehn Jahren, ist aber ebenso wenig in Stein gemeisselt wie die Dauer des Aufenthaltes. «Um nachhaltige Veränderungen zu bewirken, brauchen wir Zeit. Ein Jahr ist das Minimum, um eine tragfähige Beziehung aufzubauen», sagt Bühlmann. «Nach oben haben wir keine Grenze festgelegt, wie lange jemand bei uns bleiben kann. Es ist nur so, dass die Jugendlichen irgendwann nicht mehr jugendlich sind und dann ein anderer Kostenträger die Verantwortung hat. Grundsätzlich kann jemand aber von der obligatorischen Schule bis zum Ende der Erstausbildung bei uns sein.»
Vor der Aufnahme gibt es ein Erstgespräch mit Kind, Eltern und der zuweisenden Stelle. Das Kind kann einige Tage in einer solchen Gemeinschaft schnuppern. Gleichzeitig wird die Finanzierung abgeklärt. Der Kanton trägt den Grossteil der Kosten, die Eltern zahlen eine Pauschale pro Nacht. Können sie diese nicht aufbringen, springt die Wohngemeinde ein. Sobald alle Abklärungen erledigt sind und sofern Platz vorhanden ist, erfolgt die Platzierung.
Familienähnliche Strukturen sind vorhanden
Den Pädagogen ist klar, dass sie den Kindern und Jugendlichen die Familien nicht ersetzen können. Sie versuchen ihnen aber möglichst familienähnliche Strukturen zu geben. Im Haus haben sie einige Möglichkeiten, ihre Individualität und Hobbys auszuleben. Alle Bewohner haben eigene Zimmer, die sie individuell einrichten können.
Lediglich Badezimmer und Küche müssen geteilt werden. Es existiert auch ein Sportraum, «der gar nicht mal so intensiv genutzt wird», sagt Bühlmann lachend. Ein Musikzimmer ist vorhanden. Im Wohnzimmer steht ein Fernseher mit einer Spielekonsole. Der Unterschied zu herkömmlichen Familien: Die Probleme, die zur Platzierung führten, werden gezielt bearbeitet. Gespräche, Zielvereinbarungen und regelmässige Bewertungen gehören zum Alltag.
In einem Haus, mit so vielen Bewohnern entstehen selbstverständlich auch Reibungen. Bühlmann: «Aber das passiert in jeder Familie. Und wir haben die Möglichkeit, mit den Kindern und Jugendlichen auch gezielt an Lösungsstrategien zu arbeiten und daran, wie mit so Situationen umgegangen werden kann.» Die Erfahrungen von Lötscher und Bühlmann zeigen, dass sich die Bewohner des Hauses eher gegenseitig unterstützen, als dass es zu grösseren Konflikten kommt. «Sie wissen, dass sie alle einen ähnlichen Rucksack tragen», sagt Bühlmann. Die SPG-Häuser sind keine Heime für Schwererziehbare. Sie bieten Kindern und Jugendlichen, die einen schwierigen Start ins Leben hatten, eine Hilfe. «Wir erhalten oft Besuch von ehemaligen Mitbewohnern», sagt Bühlmann. «Die Jugendlichen sind oft sehr dankbar, dass wir sie auf ihrem Weg unterstützen konnten.» Was passiert also an der Rigistrasse 10? Es wird gelebt, gelacht, gearbeitet und gestritten – wie in jeder Familie. Der Unterschied: Die Bewohner des Hauses hatten oft keinen leichten Start ins Leben. Sie ziehen mit einem Rucksack voller Herausforderungen ein. Wenn sie wieder gehen, ist dieser nach Möglichkeit deutlich leerer.
Stiftung ikj
Die Stiftung ikj (Integration von Kindern und Jugendlichen) hat ihren Sitz in Baden, die Geschäftsstelle ist in Bremgarten. Sie feierte letztes Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. Sie umfasst die Sozialpädagogischen Gemeinschaften SPG, Therapiestationen, Notfallplatzierungen und die Aufsuchende Familienarbeit. Das Haus in Wohlen ist eines von drei SPG-Häusern. In Wohlen, Baden und Muri leben jeweils bis zu acht Kinder und Jugendliche, betreut von sozialpädagogischem Fachpersonal. Die Therapiestationen bieten nebst interner Schule auch psychologische und psychiatrische Unterstützung. Die Stiftung bietet Platz für 50 Kinder und Jugendliche. Rund 80 Familien werden jährlich im Rahmen der Aufsuchenden Familienarbeit betreut. Mit 100 Mitarbeitenden und einem Budget von 8,2 Millionen Franken leistet die Stiftung einen wichtigen Beitrag zur Integration junger Menschen. --jl
Die Serie
In der Sommerserie «Auf den Punkt» werfen die Redaktoren dieser Zeitung einen Dartpfeil auf die Karte einer Gemeinde und begeben sich an den getroffenen Ort. Dort wird dann nach spannenden Geschichten gesucht. --red