Auf Umwegen zur Sicherheit
31.01.2023 WohlenTempo 30 im Gebiet Farn – vor 19 Jahren ein emotionaler Kampf, jetzt wird es eingeführt
Vor nicht ganz 20 Jahren wollte die Gemeinde Wohlen die erste Tempo-30-Zone einführen. Und scheiterte am Stimmvolk. Damals gab es heftige Diskussionen. Nun hält ...
Tempo 30 im Gebiet Farn – vor 19 Jahren ein emotionaler Kampf, jetzt wird es eingeführt
Vor nicht ganz 20 Jahren wollte die Gemeinde Wohlen die erste Tempo-30-Zone einführen. Und scheiterte am Stimmvolk. Damals gab es heftige Diskussionen. Nun hält Tempo 30 im umstrittenen Quartier Einzug.
Daniel Marti
Der Gemeinderat wagte den Schritt im Herbst 2004. Die Gschäftsprüfungskommission war mit 5:2 dafür und der Einwohnerrat stimmte zähneknirschend zu (21:13). Alles war vorgespurt, damit im Gebiet Farnbühl die erste Tempo-30-Zone in Wohlen eingeführt werden konnte. Dann trat Einwohnerrat Peter Tanner (SVP) auf die Bremse. 82 000 Franken sind zu viel, sagte er und ergriff das Referendum. Von Ende November 2004 an war Tempo 30 das dominante Thema im Dorf. Tanner sammelte 849 Unterschriften, praktisch im Alleingang. Er gab den Ton an im Abstimmungskampf, der von beiden Seiten heftig geführt wurde. Wohlen lehnte im Juni 2005 an der Urne die erste Tempo-30-Zone mit über 60 Prozent Nein ab. Danach kehrte Ruhe ein. Erst im Jahr 2013 wurde mit dem Kommunalen Gesamtplan Verkehr erstmals Tempo 30 eingeführt – nicht im Farn-, sondern im Aesch-Quartier. Etliche Quartiere folgten, Sicherheit wurde zur Gewohnheit.
Nun lanciert der Gemeinderat die Verkehrsanordnung Tempo 30 im Gebiet Boll und im Quartier Farn. Also dort, wo der Gemeinderat vor bald 19 Jahren einen kapitalen Fehlstart eingefahren hat. Wie war das damals? Wie wurde im November 2004 im Einwohnerrat argumentiert? Damals sassen Lokalpolitiker im Dorfparlament, die danach die Erfolgstreppe emporgingen. Beispielsweise künftige Einwohnerratspräsidenten oder Matthias Jauslin, heute Nationalrat, oder Arsène Perroud, heute Gemeindeammann. Selbst Jean-Pierre Gallati, heute Regierungsrat, spielte damals eine Rolle. Als Präsident der SVP-Ortspartei beförderte er Abstimmungssieger Peter Tanner umgehend zum Kandidaten bei den Gemeinderatswahlen. Das Thema Tempo 30 lief vor 18, 19 Jahren heiss. Grund genug für eine Rückschau.
Premiere wird jetzt nachgeholt
Geplante Einführung «Tempo-30-Zonen» in zwei Quartieren – Gebiet Farn weckt Erinnerungen an die Jahre 2004 und 2005
Der Gemeinderat will in den Ortsteilen Boll und Farn Tempo- 30-Zonen einführen. Solche Verkehrsanordnungen sind mittlerweile nichts Ungewöhnliches. Aber das Gebiet Farn erinnert an eine Besonderheit. Dort sollte nämlich die erste Tempo-30-Zone von Wohlen eingeführt werden – dies scheiterte vor 18 Jahren krachend.
Daniel Marti
Eine Tempo-30-Zone im Gebiet Farnbühl. Dies war vor bald 20 Jahren ein Reizwort, das die gesamte Gemeinde aufwühlte. Eine heftige Debatte im Einwohnerrat zeigte, dass dieses Thema in der grössten Freiämter Gemeinde recht kontrovers betrachtet wurde. Im Dorfparlament ging die beantragte Neuheit noch durch. Aber ein Referendum kam zustande und an der Urne sagten Herr und Frau Wohler Nein zur Tempo-30-Zone im Gebiet Farnbühl.
Nun erfolgt genau in diesem Gebiet wieder ein Anlauf. Eine viel grössere Fläche als damals soll nun verkehrsberuhigt werden. Der Gemeinderat präsentiert die Ausschreibung von zwei Tempo-30-Projekten. Im Gebiet Boll, zwischen den Kantonsstrassen Farnstrasse und Freiämterstrasse, und im Ortsteil Farn soll künftig die Höchstgeschwindigkeit 30km/h betragen. Im Gebiet Farn von der Alten Villmergerstrasse über die Gaswerkstrasse bis zum Rotackerweg sind 17 Strassen betroffen. Die Umwandlung von 50 auf 30 sollte weitgehend problemlos erfolgen – sofern keine Einsprachen erfolgen.
«Fragwürdig und unverhältnismässig»
Aber: Die jetzt geplante Temo-30-Einführung im Gebiet Farn erinnert an das Projekt im Gebiet Farnbühl, das als Tempo-30-Premiere dienen sollte – und das vor allem eine heftige Diskussion auslöste. Tempo 30 scheiterte damals krachend an der Urne. Deshalb ein Blick in die Vergangenheit.
Am 15. November 2004 behandelte der Einwohnerrat den gemeinderätlichen Bericht und Antrag betreffend Baukredit von 82 000 Franken für bauliche und betriebliche Massnahmen zur Einführung der Tempo-30-Zone im Gebiet Farnbühl. Das Protokoll zeigt Interessantes. SVP und FDP wehrten sich dagegen. SVP-Sprecher Martin Wyss kritisierte, dass das Gebiet Farn prioritär mit der Thematik Tempo 30 konfrontiert werde, «dies erscheint uns fragwürdig und unverhältnismässig». Verkehrsberuhigung mit kostengünstigen Massnahmen an der Unteren Farnbühlstrasse, verbunden mit regelmässiger polizeilicher Kontrolle sollte zum Ziel führen, reklamierte die Fraktion SVP Wohlen-Anglikon. Die Volkspartei stellte einen Rückweisungsantrag, der jedoch grossmehrheitlich abgelehnt wurde.
«Wohlen ist doch keine Vorstadt»
Der Widerstand von SVP und FDP blieb. «Wohlen ist und bleibt ein Dorf. Die vom Gemeinderat in Erwägung gezogenen Tempo-30-Zonen weisen allesamt keinen städtischen Charakter aus», sagte beispielsweise Werner Dörig. Oder Matthias Jauslin, heute Nationalrat, warnte vor den Kosten, die mit weiteren Tempo-30-Zonen zu erwarten sind. Hochgerechnet sprach er von einer halben Million Franken. Deshalb sprach Jauslin von einem Flickwerk, «das unseren Wahlbedarf nicht nur um 82 000 Franken, sondern um eine halbe Million einschränkt». Bei einem Ja, dies befürchtete Koni Gfeller, später Einwohnerratspräsident, «haben wir in ein paar Jahren in Wohlen nur noch Tempo-30-Zonen ausser auf den Kantonsstrassen. Wir wissen, dass fünf bis sechs weitere Quartiere auf dem Programm stehen. Wir sind keine Vorstadt.»
Allerdings, die anderen Parteien, Mitte bis links, standen für die erste Tempo-30-Zone ein. «Ein Quartier wird damit für den Durchgangsverkehr unattraktiv, was dazu führen wird, dass diese Quartiere vermehrt umfahren werden», sagte beispielsweise Ruedi Zulauf, Eusi Lüüt und Grüne. Und Doris Becker, Freis Wohle, war froh. «dass der Gemeinderat die Sorgen und Wünsche der betroffenen Anwohner ernst nimmt». Und für Andy Bächer (CVP) war klar, dass er «den schwachen Verkehrsteilnehmer schützen will».
Attraktivität ist Standortmarketing
Auch Arsène Perroud, heute Gemeindeammann, sass damals im Dorfparlament. «Eine Tempo-30-Zone bedeutet mehr Sicherheit und Lebensqualität. Sicherheit im Strassenverkehr ist ein zentrales Anliegen der Eltern. Eine Tempo-30-Zone erhöht die Attraktivität eines Quartiers und der ganzen Gemeinde. Attraktivität ist Standortmarketing und dies müssen wir bekanntlich fördern», sagte Perroud damals.
Und siehe da, der Einwohnerrat stimmte dem Geschäft und dem Baukredit in der Höhe von 82 000 Franken zu. Mit 21 Ja- zu 13 Neinstimmen wurde die Einführung der Tempo-30-Zone im Gebiet Farnbühl angenommen.
Gleichzeitig wurde damals auch eine Prioritätenliste für das Einleiten von Tempo-30-Projekten diskutiert. Obere Halde, Allmend/Wil, Rebberg/ Hochwacht/Steingasse, Turmstrasse, Bahnhof-/Wehrlistrasse, Bifang/Stegmattweg, Boll, Raimatt-/Breitistrasse.
Peter Tanner: Referendum im Alleingang
Damit schien fast alles klar zu sein. Oder eben nicht. Kaum war die Einwohnerratssitzung verdaut, kam Tempo 30 gleich wieder auf die Politagenda. Peter Tanner, Einwohnerrat der SVP, ergriff nämlich, eher überraschend, das Referendum. Und ebenfalls überraschend schloss sich die SVP diesem Ansinnen nicht an. Tanner zog fast allein auf die Strasse, unterstützt von einem anonymen Komitee. Und er schaffte es tatsächlich. Tanner und sein kleines Team sammelten 849 gültige Unterschriften. 779 Unterschriften waren nötig, 70 Unterschriften Reserve. Damit war der Urnengang garantiert.
Es entwickelte sich ein emotionaler Abstimmungskampf mit vielen Leserbriefen inklusive Informationsveranstaltung des Gemeinderates. Und an der Urne feierte Tanner im Juni 2005 tatsächlich einen grossen Erfolg. 60,6 Prozent (2456 Stimmen) sagten Nein zum Kredit und zur ersten Tempo-30-Zone im Dorf. Nur 39,4 Prozent (1595Stimmen) sagten Ja.
Über Nacht zum Gemeinderatskandidaten
Die Vorlage war vom Tisch. Und die Argumente von Peter Tanner kamen beim Stimmvolk an. Er betonte praktisch bei jeder Gelegenheit, dass er selbst eine Lösung betreffend Tempo- 30-Zone präsentieren werde. Und zwar sei diese Lösung besser, günstiger und schneller umsetzbar. Umgesetzt hat er diesen Abstimmungsslogan allerdings nie.
Aber der Erfolg über Gemeinderat und Mitte-Links gehörte dem SVP-Politiker. Und die Geschichte war damit immer noch nicht zu Ende. Noch am Abend des Abstimmungssonntags wurde Tanner als Kandidat für die Gemeinderatswahlen ins Rennen geschickt. Der damalige Präsident der SVP-Ortspartei Jean-Pierre Gallati, heute Regierungsrat, hob den Abstimmungssieger auf den Sockel. «Peter Tanner ist in Wohlen der Repräsentant der Opposition. Solche Leute muss man in die Verantwortung einbinden. Und die Verantwortung kann man nur im Gemeinderat wahrnehmen», so Gallati damals.
Den Sprung in den Gemeinderat schaffte Peter Tanner damals nicht. Und die Einführung der Tempo-30-Zonen konnte auch «nur» hinausgezögert werden.
Kosten: knapp die Hälfte für ein x-fach grösseres Gebiet
Aber das damalige Versprechen, dass günstigere Varianten möglich sind, ist tatsächlich eingetroffen. Bei der Premiere im Gebiet Farnbühl waren Aufpf lästerungen, Signalisationen bei den Eingangspforten, Markierungen auf den Strassen und Standplatzsicherungen mit Pollern bei Strassenquerungen vorgesehen gewesen. Nun reicht das Signal Höchstgeschwindigkeit «30» bei den Zoneneingängen und «Ende 30» bei Zonenausgängen sowie Bodenmarkierungen alle 200 bis 300 Meter.
Damals wurden 82 000 Franken für das kleine Gebiet Farnbühl budgetiert. Heute betragen die Kosten für ein sehr viel grösseres Gebiet nicht einmal die Hälfte. Für das Gebiet Boll sind knapp 14 000 Franken vorgesehen, für das Gebiet Farn rund 24 600 Franken. Man beschränkt sich laut Abteilung Planung, Bau und Umwelt in einem ersten Schritt bei Tempo-30-Zonen immer nur auf ein Minimum an Massnahmen, was schon in etlichen Quartieren in Wohlen so umgesetzt wurde. Auch hier lag Peter Tanner im November 2004 irgendwie richtig. In der damaligen Einwohnerratssitzung betonte er, dass in dieser Sache «nur eine Politik vom knappen Geld eine Zukunft hat».