Der verhängnisvolle März

  20.10.2023 Wohlen

Wie das Leben so spielt

Der Wohler Regisseur Cihan Inan und seine bewegende Geschichte im Portrait

Cihan Inan inszeniert Filme und Theater, das ist sein grosses Talent. Sein eigenes Leben wäre auch ein spannendes Drehbuch.

Stefan Sprenger

Eine letzte Zigarette. Herzinfarkt. Operation. Lebenswandel. Heute – vier Jahre später – joggt Cihan Inan fast täglich über 10 Kilometer und ist so fit wie nie zuvor. Es ist die Kurzfassung von nur einer einschneidenden Lebensepisode des 55-jährigen Wohlers.

Eigentlich ist schon seine Arbeit hochspannend. Inan ist die entscheidende Person, wenn es um die darstellende Kunst geht. «Zone Rouge», «180° – Wenn deine Welt plötzlich kopfsteht» heissen seine Langspielfilme als Regisseur. Er wirkte auch bei der Schweizer Erfolgsserie «Wilder» mit. Als Schauspieldirektor am Theater Bern inszenierter er Kassenschlager wie «Beresina – oder die letzten Tage der Schweiz» und die Welturaufführung von Charlie Chaplins «Der Grosse Diktator». Doch am Theater Bern erlebte er auch ein grosses beruf liches Desaster, oder einen «Skandal», wie er sagt.

Der Wohler Cihan Inan erzählt aus den letzten fünf Jahren seines Lebens, wo unglaublich viele Dinge passierten. Gute und schlechte. Stets geprägt vom Monat März.

Heute geht es bestens und er hat viele Projekte am Laufen. Anfang November wird er zudem «eine kleine Sensation» vorstellen.


Der Wohler Regisseur Cihan Inan erlebte fatale und prägende Jahre

Tod, Intrigen, Herzinfarkt. Der Monat März brachte Cihan Inan zuletzt nur Unglück. Doch in jener Zeit, wenn die Welt aus dem Winterschlaf erwacht, können auch wundervolle Dinge entstehen. Der 54-jährige Wohler erzählt seine Geschichte.

Stefan Sprenger

Er raucht drei Packungen Zigaretten pro Tag. Und er schläft kaum. Cihan Inan ist immer am Arbeiten. Manchmal 20 Stunden am Stück, nur mit kurzer Essenspause, dann schläft er wieder ein paar Stunden – und weiter gehts. Der Druck ist riesig. Inan, der Schauspieldirektor, will es perfekt machen, Ordnung schaffen. Er will Chef sein für die 550 Mitarbeiter am Theater Bern. «Es hat mich fast umgebracht», sagt er heute. Jene Zeit zu Beginn des Jahres 2019 hat sein Leben verändert.

«Ich finde den März scheisse»

«Das ist der März: der drückt und droht. Das ist die Schwangerschaft der Welt. Das ist, vom Frühlingsdunst zerspellt, des Winters röchelnde Sterbensnot.» Das Gedicht lässt Inan aufhorchen – aber nicht an seiner Meinung rütteln. «Ich finde den März scheisse», sagt er trocken. Der Gedichteschreiber hiess Erich Mühsam. Ein deutscher Schriftsteller, Anarchist, Pazifist, der 1934 in einem KZ ermordet wurde. Seine Tätigkeit hat ihn das Leben gekostet. Genau so war es auch fast bei Cihan Inan.

Wieso er den März nicht mag: In jenem Monat des Jahres 2017 starb seine Mutter Saadet. Und dies wenige Jahre, nachdem Vater Hasan gestorben war. Als «deftigen Schicksalsschlag» bezeichnet Inan diese Verluste. Seine Eltern, die beide jahrzehntelang in Wohlen lebten, waren auf einmal weg. Seither besucht er seine Heimat nur noch selten. «Aber dieses Dorf Wohlen, meine Heimat und Vergangenheit, ist nach wie vor präsent», erzählt Inan. Nicht nur privat, sondern auch im Job. «Zone Rouge», sein zweiter Langspielfilm, der 2018 herauskam, basierte auf einer Klassenzusammenkunft an der Kanti Wohlen.

März 2018. Wieder passiert etwas Unerfreuliches. Die Zutaten sind Macht, Liebe und Theater. Eigentlich eine tolle Geschichte für einen Film, wenn es ihn nicht beinahe kaputtgemacht hätte. Inan arbeitet damals als Schauspielchef am Theater in Bern. Die Chefdramaturgin hat eine Liaison mit dem Intendanten. Cihan Inan ist mittendrin, in der Zwickmühle zwischen Chef und Untergebener. Intrigen, Lügen, Zündstoff. Inan bezeichnet die damaligen Machenschaften als «Skandal». Er versucht, loyal zu bleiben. Im März 2018 beginnt diese turbulente Zeit, die sich monatelang hinzog. «Es war ganz schwierig, normal zu arbeiten. Es gab viele Probleme zu lösen.»

Der Herzinfarkt

In einem Unternehmen mit 550 Mitarbeitern versucht er es allen recht zu machen, deshalb ackert er 20 Stunden pro Tag. Bis zum 19. März 2019. Und dann wurde alles anders. Inan erinnert sich: «Es war Abend, dunkel. Ich war auf dem Balkon in meiner Wohnung in Bern und habe eine Zigarette geraucht. Ich dachte noch: ‹Die schmeckt komisch.› Ich habe noch eine geraucht. Wieder komisch. Ich hatte das Gefühl, ich müsse erbrechen. Und dann hatte ich einen Schmerz in der Brust, ein Stechen.» Sein Sohn Finnigan war am Schlafen, seine damalige Freundin schaute sich mit Kopfhörern eine Serie am Laptop an. Inan raucht nochmals eine Zigarette. «Es war die letzte Zigarette meines Lebens.» Er bricht zusammen. Durch den Aufprall seines Körpers erwacht sein Sohn, der seinen Vater regungslos am Boden findet. Die Freundin alarmiert den Notruf. 22 Uhr. Die Ambulanz rückt an. Er wird ins Berner Inselspital gebracht und sofort operiert. Seine Herzgefässe sind verkalkt, zu, geschlossen. Vier Stents werden implantiert. Um 1 Uhr ist die OP vorbei. «Alles ging sehr schnell. Alles verlief angesichts der Umstände gut. Ich hatte Glück», sagt er.

«Retour» – Blatt des Lebens wendet sich

Der März ein Jahr später. 2020. Die Coronapandemie geht los. Für einen Kunstschaffenden wie Inan eine einschneidende Zeit. «Die Iden des März» ist eine Metapher für bevorstehendes Unheil, die auf die Ermordung von Julius Caesar am 15. März (im Jahr 44 vor Christus) Bezug nimmt. Im Fall von Inan war es so, dass er mehrere Jahre nacheinander im März ebenfalls Unheil auf sich zukommen sah.

Das Leben hinterlässt Krater. Es geht manchmal bergab. Doch das Leben ist eben auch Resonanz. Und es geht wieder aufwärts. 2021 beendete er seine Tätigkeit beim Theater in Bern endgültig. «Er prägte das Haus besonders auf menschlicher Ebene: Cihan Inan verlässt das Theater Bern nach vier turbulenten Jahren. Eine Zeit, in der mitunter die Kunst litt. Und er selber», schreibt die Zeitung «Der Bund» zu seinem Abgang.

Im März 2022 kontaktiert ihn diese Zeitung – zufälligerweise. Er antwortet: «Ich bin in der Toskana und drehe gerade einen Psychothriller.» Sein Drehbuch, seine Regie – und er ist auch mit einer Schauspielrolle vertreten. «Retour» heisst der Film. Inan ist happy. Das Blatt des Lebens hat sich gewendet. Zum Guten.

«Retour» ist sein dritter Langspielfilm. In ein paar Monaten soll er Weltpremiere feiern. Das Budget niedrig, die Leidenschaft gross. «Ich würde ihn mir ansehen», sagt er. Seine beiden ersten Filme «180° – Wenn deine Welt Kopf steht» und «Zone Rouge» waren beide sehenswert. Keine gigantischen Erfolge. Aber für einen «kleinen» Schweizer Regisseur, der jeweils ein schmales Budget hat, durchaus gut, mit spannender Storyline und markanten Charakteren. «Es ist auch immer eine Frage des Geldes, des Marketings und des Zeitpunkts, die darüber entscheidet, wie gut oder schlecht ein Film läuft», weiss er. Was ganz bestimmt ein Riesenerfolg war: «Beresina oder Die letzten Tage der Schweiz». Dieses Theaterstück inszenierte Inan auf Basis des gleichnamigen Films – der 1999 erschien – am Theater in Bern. Inans Bühnenversion wurde zum Blockbuster.

Dokfilm über beste Freundin an Kanti Wohlen

2023. Cihan Inan unterrichtet an der Filmschauspielschule in Zürich, gibt Kurse für Manager in Auftrittskompetenz, arbeitet am Film «Retour» oder an «Leopard», der vom Leben des Fluchthelfers und Lebemanns Hans Ulrich Lenzlinger handelt. Und er ist – ganz aktuell – an den Dreharbeiten für einen Dokfilm namens «Behind the white wall» über eine frühere Klassenkameradin (und beste Freundin) an der Kanti in Wohlen. «Das wird eine ultraspannende Sache», sagt er – und möchte noch nicht mehr verraten.

Inan ist glücklich. Er lebt mit seiner Frau Emily und seinem Sohn Finnigan in Volketswil. Die leibliche Mutter seines Sohnes lebt seit 2018 in Berlin. «Er ist jetzt 15 Jahre alt. Und er ist mit mir schon 14 Mal umgezogen», sagt Inan, der lange Zeit alleinerziehender Vater war. Das Leben als Kunstschaffender ist nicht an Orte gebunden. Und wie heisst es so schön: «Heimat ist kein Ort. Heimat ist ein Gefühl.» Bei ihm stimmt das, doch Cihan Inan muss trotzdem sagen: «Wenn es einen Ort gibt, der für mich zu Hause ist, dann ist es Wohlen.» Und dort war er vor wenigen Wochen zu Besuch. Auf dem Friedhof bei Mutter Saadet und Vater Hasan.

«500 Prozent besser»

Er selbst hatte grosses Glück, konnte bei seinem Herzinfarkt dem Tod nochmals von der Schippe springen. «Mein Arzt sagt, mir geht es gesundheitlich 500 Prozent besser als vor dem Herzinfarkt», so der 55-Jährige. Alkohol trinkt er seit über 10 Jahren nicht mehr. Dazu geht er fast jeden Tag rund 10 Kilometer joggen. In seinen jungen Jahren war er Kunstturner beim TV Wohlen. Damals habe er sich eine «starke Grundkonstitution» antrainiert. Seit er 20 Jahre jung war, hat er aber keinerlei Sport mehr gemacht. Bis zu seinem Herzinfarkt. «Dieser Tag hat vieles zum Positiven gewendet. Ich war damals 105 kg schwer, heute sind es 20 kg weniger. Ich jogge jeden Tag. Und ich habe seit dem 19. März 2019 keine einzige Zigarette mehr geraucht.»

Aus seinem Bart blitzen seine Zähne hervor, dazu ein fröhliches Lachen. «Mir geht es gut.» Inan darf noch nicht viel verraten, aber bald wird er eine neue Produktion ankündigen. «Es wird eine kleine Sensation.» Wetten, dass die Weltpremiere seines neusten Werkes im März sein wird?


Über Cihan Inan

Cihan Inan ist in der Schweiz als drittes von fünf Kindern türkischer Gastarbeiter zur Welt gekommen und in Wohlen aufgewachsen. Nach seiner Schulzeit ging er an die Kanti Wohlen und startete eine Karriere in der Film- und Theaterwelt. Sein jüngerer Bruder Kaya arbeitet ebenfalls in der Filmbranche. Cihan Inan ist heute 55 Jahre alt, zum zweiten Mal verheiratet und Vater eines Sohnes. Er lebt in Volketswil.

Während des Studiums der Philosophie und Germanistik an der Universität Bern jobbte er als Kinovorführer in Berner Kinos und ebenso als Film- und Theaterkritiker. Nach zwei Jahren als Regieassistent führte er 1999 zum ersten Mal Regie am Theater Freiburg, wo er (ab 2000) für zwei Jahre Hausregisseur wurde. 2003 verfilmte er den Roman von Nick Cave «Und die Eselin sah den Engel» auf eigene Kosten und mit vielen privaten Mitteln in der Türkei. Im selben Jahr wurde das gedrehte Filmmaterial gestohlen (als er an einem Bahnhof einschlief) und blieb bis heute verschwunden.

Sein zweites Drehbuch «180° – Wenn deine Welt plötzlich Kopf steht» drehte er 2009 mit der Produktionsfirma C-Films. Der Film kam 2010 in die Schweizer Kinos. Er war danach als Chefdramaturg am Theater Neumarkt oder für die Solothurner Filmtage tätig. Seit 2012 arbeitete er immer wieder als Consultant in der Filmbranche, wirkte dabei als 2. Regisseur bei namhaften Produktionen mit (zum Beispiel «Tatort») oder half bei einigen Theaterproduktionen mit. Er unterstützte Castings (beispielsweise bei der Schweizer Erfolgsserie «Wilder») oder half in der dramaturgischen Beratung bei Filmen mit. Als Gastdozent für den Bereich Regie war (und ist) er an der freien Uni Dortmund und an der Zürcher Hochschule der Künste tätig.

Ab 2016 war er 5 Jahre lang Schauspieldirektor am Konzert Theater Bern, inszenierte dabei erfolgreiche Projekte wie beispielsweise «Beresina oder Die letzten Tage der Schweiz» und die Welturaufführung von Charlie Chaplins «Der grosse Diktator». Im Jahr 2018 kam sein zweiter Film «Zone Rouge» (basierend auf einer Klassenzusammenkunft der Kanti Wohlen) in die Schweizer Kinos. Weitere Projekte sind in den Startlöchern. --spr


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