Auf Spurensuche
28.02.2025 WohlenInspiration in Berlin
Die Wohler Künstlerin Esther Amrein hat vom Aargauer Kuratorium einen Atelieraufenthalt in Berlin zugesprochen erhalten. Dort will sie sich für ihre Textilkunst inspirieren lassen. Für Amrein sind solche Aufenthalte auch deshalb ...
Inspiration in Berlin
Die Wohler Künstlerin Esther Amrein hat vom Aargauer Kuratorium einen Atelieraufenthalt in Berlin zugesprochen erhalten. Dort will sie sich für ihre Textilkunst inspirieren lassen. Für Amrein sind solche Aufenthalte auch deshalb wertvoll, weil sie sich so für eine Weile ganz ihrer Kunst hingeben kann. Dafür nimmt sie auch gerne unbezahlten Urlaub – denn von der Kunst leben kann die 57-Jährige, wie die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen, nicht. Im Zentrum von Amreins Arbeiten stehen Linien respektive deren Veränderung. So lässt sie etwa aus Spinnweben Landschaften entstehen. Ein konkretes Projekt will sie in Berlin nicht anpacken. Vielmehr sind es eine Spurensuche und ein tiefes Eintauchen in die Thematik, die sie als Künstlerin letztlich weiterbringen. Die Vorfreude ist riesig. --red
Die Wohler Künstlerin Esther Amrein erhält einen Atelieraufenthalt in Berlin
Das Aargauer Kuratorium hat 36 Kunstschaffenden aus diversen Sparten Atelieraufenthalte sowie Werk- und Förderbeiträge zugesprochen. Darunter auch an Esther Amrein. Die heute in Baden lebende Künstlerin will die Zeit in Berlin nutzen, um noch mehr in ihr Lieblingsthema einzutauchen.
Chregi Hansen
Die Gepäckfrage bereitet ihr noch etwas Kopfschmerzen. Anfang März reist Esther Amrein für vier Monate nach Berlin. Mit der Bahn. «Ich muss mir genau überlegen, was ich einpacke», lacht sie. Denn neben Kleidern und dem üblichen Kram will sie auch noch Material zum Arbeiten mitnehmen. Auf einem Tisch in ihrem Atelier hat sie eine kleine Auswahl bereitgelegt. Stickrahmen, Fäden, Nadeln, Farben, Papier. «Das muss reichen», findet sie. Notfalls muss sie Fehlendes eben vor Ort einkaufen. «Ich bin ja nicht irgendwo fernab in der Provinz, sondern mitten in einer Grossstadt.»
Und von dieser Stadt will sie sich inspirieren lassen. Dies ganz im Sinne des Aargauer Kuratoriums, welches ihr den Atelieraufenthalt ermöglicht. «Esther Amrein beschäftigt sich seit Langem mit einer avancierten Textilkunst und erforscht mit ihren aktuellen Arbeiten die unterschiedlichen Techniken von Textilien und Stickereien der asiatischen, arabischen und abendländischen Kulturen. Dabei sucht sie nach identitätsstiftenden Mustern und Ornamenten als verbindende Grundformen über alle Kulturen hinweg. Ausgewählte Berliner Museen weisen entsprechende textile Originale aus verschiedenen Ländern vor, die ihr erlauben würden, ihre künstlerische Forschung weiter zu vertiefen», schreibt die Jury in ihrem Bericht.
Seit über 30 Jahren Künstlerin
Es ist der zweite Atelieraufenthalt für die in Wohlen aufgewachsene Künstlerin. Im Herbst 2022 schickte sie die Kulturförderung der Stadt Baden für zwei Monate nach Genua. Für die 57-Jährige sind solche Aufenthalte in der Fremde noch etwas Neues, obwohl sie schon seit über 30 Jahren als bildende Künstlerin tätig ist. Als Mutter einer inzwischen erwachsenen Tochter und mit einem 60-Prozent-Pensum im Bereich der Arbeitsintegration waren solche Auszeiten früher nicht möglich. «Es ist schön, mich für eine so lange Zeit ausklinken und voll und ganz meinen Projekten widmen zu können», sagt sie darum. Ohne Kompromisse geht es immer noch nicht. Für die Zeit in Berlin muss sie unbezahlten Urlaub nehmen.
«In der Schweiz ist es eben fast unmöglich, von der Kunst zu leben», erklärt sie. Amrein sagt das ganz ohne Bitterkeit – es ist eben so. Es gebe zu viele gute Künstler und zu wenige Möglichkeiten, sich zu präsentieren. Und zu wenig Geld. Doch aufgeben kam für sie nie infrage. Die Zeit im Atelier, sie ist ihr wichtig, hier arbeitet sie an zwei Tagen pro Woche an ihren Werken. «Es braucht einfach eine gewisse Struktur, um vorwärtszukommen», so ihre Erfahrung.
Vom Fenster ihres Ateliers hat sie einen wunderbaren Blick auf die Limmat. Seit fast 30 Jahren kann sie im Oederlin-Areal ihrer Leidenschaft nachgehen. Sie mag den alten und verwinkelten Fabrikkomplex mit seinen vielen verschiedenen Nutzern. Wobei es früher noch lebendiger war, wie sie gesteht. «Da gab es hier eine Unzahl kleiner Handwerker. Da bekam man immer Hilfe bei einem Problem, man kannte sich und half sich gegenseitig aus», so Amrein. Heute haben sich hier viele kleinere und grössere Firmen und Büros einquartiert.
Grosses Interesse für Muster
Hier in Obersiggenthal entstehen ihre Werke. Im Zentrum ihrer Arbeiten stehen Linien respektive deren Veränderung. Sie interessiert sich nicht für das Abbild der Realität, sondern für deren Verwandlung. Sie lässt aus Spinnweben Landschaften entstehen, nutzt Fäden und Drähte für ihre Bilder, experimentiert mit Haaren, Algen und Tonbändern, spielt mit ganz verschiedenen Materialien. «Mir geht es um das Austesten von Grenzen, ich will Neues probieren», macht die Wohlerin deutlich. Daraus entstehen oft sehr filigrane Bilder voller geheimnisvoller und unwirklicher Welten, in denen vieles bloss angedeutet wird und der Rest der Fantasie des Betrachters überlassen wird.
Schon immer hat sie sich auch für Muster interessiert. Während ihres Aufenthalts in Genua hat sie sich mit der Geschichte der ligurischen Spitzen beschäftigt. Die höchst dekorativen Textilelemente gibt es überall auf der Welt, weisen aber teilweise sehr regionale Prägungen auf. «In Genua als Hafenstadt kamen ganz unterschiedliche Strömungen zusammen. Da wurden verschiedene Kulturen vermischt», berichtet die Künstlerin. Muster und Spitzen interessieren sie schon seit vielen Jahren. 2007 hatte Amrein eine Ausstellung im Gemeindehaus Wohlen und im Strohmuseum, welches sich damals noch im Bankweg befand. Für diese Ausstellung hatte sich Amrein mit den alten Spitzen der Wohler Strohindustrie beschäftigt.
Nun will sie in Berlin forschen, inwieweit diese Einflüsse auch im Norden Europas zu finden sind, wo die Gemeinsamkeiten liegen und wo die Unterschiede. Dazu will sie verschiedene Museen, Bibliotheken und Läden besuchen und sich auf Spurensuche begeben. «Ich war auch schon in Berlin. Das Schöne an einem solchen Atelieraufenthalt ist die viele Zeit. Ich kann tief eintauchen in die Thematik und ein Museum allenfalls fünfmal besuchen.» Auch Abstecher nach Leipzig oder Dresden stehen auf dem Programm. Sowie ein Besuch der Fabrik der Fäden in Plauen. Sie habe aber kein fixes Programm, gesteht sie. Sie will sich Zeit nehmen und auch die vielen kleinen Läden im Ostberliner Stadtteil Friedrichshain, aber auch in Kreuzberg durchkämmen. Bewusst reist sie schon einen Monat früher an und hat sich für diese Zeit eine eigene Wohnung gemietet. Ab April bezieht sie dann ein 50 Quadratmeter kleines Atelier, in dem sie während dreier Monate lebt und arbeitet. Dazu erhält sie einen Grundbetrag für das Leben in der Stadt. «Es ist toll, dass der Kanton so etwas möglich macht», sagt sie. Noch schöner sei es, dass die Wahl dieses Jahr auf sie gefallen ist. «Man hofft ja immer, dass es reicht. Aber man weiss nie, ob man es schafft.»
Berlin wird sie weiterbringen
Esther Amrein ist überzeugt, dass der Aufenthalt in der deutschen Grossstadt sie künstlerisch weiterbringt. Wie sich das in ihren Arbeiten auswirkt, kann sie jedoch nicht sagen: «Ich gehe nicht mit der Absicht nach Berlin, dort ein konkretes Projekt zu realisieren. Natürlich werde ich da gewisse Ideen verwirklichen, aber drei Monate sind schnell vorbei. Die eigentliche Arbeit beginnt erst nach meiner Rückkehr», sagt sie. Wobei sie meist an mehreren Projekten gleichzeitig arbeitet. Wichtig ist ihr dabei auch die Kollaboration mit der Zeichnerin Rosângela de Andrade. Seit 2018 verwirklichen die beiden Künstlerinnen gemeinsam verschiedene Projekte. Dabei schicken sie sich Arbeiten hin und her, auf welche das Gegenüber reagiert und sie erweitert, ändert oder umformt. «Es ist ein permanenter Austausch, eine Vermischung verschiedener Ideen, die schliesslich zu einem eigenständigen Werk führen.»
Doch jetzt ruft erst einmal Berlin. Wobei sie im Juni temporär für ein Wochenende ins Freiamt zurückkehrt. Am 14. Juni wird in Sins das neue Kulturgebäude Küngsmatt eingeweiht. In diesem Gebäude durfte die Wohlerin ein künstlerisches Projekt umsetzen. An den Wänden in den Gängen und im Treppenhaus hat sie auf den Sichtbetonwänden mit Blattgold die sehr vereinfachten Strukturen der verschiedenen Sinser Weiler nachgestellt. «Wer dort wohnt, wird die Orte wohl wiedererkennen und findet vielleicht sogar das Haus, in dem er lebt», sagt sie. Das Werk soll die Gemeinschaft der grossen und zerstreuten Siedlung fördern. Dieser Auftrag hat sie sehr gefreut. Auch wenn sie schon vor rund 30 Jahren nach Baden gezogen ist, bleibt sie mit dem Freiamt eng verbunden. Sie ist zwar nach dem Tod ihrer Eltern nur noch selten in Wohlen anzutreffen, aber in letzter Zeit durfte sie immer mal wieder in der Region ausstellen. «Ich habe immer noch gute Beziehungen ins Freiamt», sagt sie darum.
Vorerst geht es aber für sie jetzt nach Berlin. Sie freut sich extrem. Und das Gepäckproblem wird sie auch noch lösen. «Jetzt muss es nur noch mit der Deutschen Bahn klappen», meint sie schmunzelnd.