Über sich hinausgewachsen
22.05.2024 WohlenTouri-Trip mal anders
Von Wohlen nach Lecce: Die besondere Maturarbeit von Pascale Lörtscher und Clara Holloway
Für einen Dokumentarfilm radelten Pascale Lörtscher und Clara Holloway 1500 Kilometer durch ganz Italien.
...Touri-Trip mal anders
Von Wohlen nach Lecce: Die besondere Maturarbeit von Pascale Lörtscher und Clara Holloway
Für einen Dokumentarfilm radelten Pascale Lörtscher und Clara Holloway 1500 Kilometer durch ganz Italien.
Celeste Blanc
Dass die besten Entscheidungen im Leben manchmal aus einer Schnapsidee heraus entstehen, das können die Kantischülerinnen Clara Holloway und Pascale Lörtscher wohl unterschreiben. «Lass uns mit dem Velo deine Gastfamilie in Lecce besuchen», meinte Lörtscher eines Tages im Jux zu ihrer Freundin. Und für diese war sofort klar: «Wieso auch nicht, das machen wir!» So wurde nicht nur der Grundstein für eine aussergewöhnliche Maturarbeit gelegt – auch bestritten die beiden damit ihr wohl grösstes Abenteuer: Mit voll bepackten Sacochen und reiner Muskelkraft radeln die Freiämterinnen von der Kantonsschule in Wohlen aus innert 15 Tagen nach Lecce.
Freud und Leid
Ständiger Begleiter auf dem Weg waren dabei ihre Kameras, mit denen sie ihr Abenteuer dokumentierten. Von Stadt zu Stadt, von Pass zu Pass kamen die Schülerinnen aber nicht nur physisch, sondern manchmal auch psychisch an ihre Grenzen. Freude, Elan, Tränen und das eigene Limit in einem Umfeld ausloten, das man so nicht kennt: All dies ist Gegenstand des Dokumentarfilms, der Ende Oktober fertiggestellt und präsentiert werden soll.
Mit den Aufnahmen ihrer Reise durch Italien geben Pascale Lörtscher und Clara Holloway Einblick in ihr Abenteuer
Die Kantischülerinnen Pascale Lörtscher und Clara Holloway sind mit ihren Rennvelos bis ganz in den Süden Italiens geradelt. Ihr Erlebtes haben sie gefilmt. Daraus entsteht nun eine Dokumentation.
Celeste Blanc
«Wir haben nur noch geflucht.» Kaum zu glauben, wenn Clara Holloway und Pascale Lörtscher einem gegenübersitzen. Die zwei jungen Frauen sind aufgestellt. Haben immer ein Lachen im Gesicht. Und wirken dabei fast wie der Inbegriff von Unbeschwertheit. Die beiden und fluchen? Tatsächlich unvorstellbar.
Es ist ein lauer Frühlingsabend vor der Kantonsschule in Wohlen. Hier, am Ausgangspunkt ihres grossen persönlichen Abenteuers, erzählen sie von einer Reise, die weit mehr als «nur» eine Maturarbeit darstellt. Über sich hinauswachsen, mit Grenzen umgehen, Akzeptanz für eine Situation gewinnen – auf insgesamt 1500 Kilometern innert 15 Tagen lernt man so einiges über sich, meinen die beiden. Und dabei eben auch, dass man manchmal einfach nicht anders kann, als lauthals «Gopferdeckel» in die italienischen Apenninen hinauszubrüllen.
Aus Schnapsidee wird Realität
Dass bisweilen die besten Ideen im Leben aus einem Spass heraus entstehen, das würden Holloway und Lörtscher mittlerweile sofort unterschreiben. Denn bei der Frage Anfang Jahr, in welche Richtung die Maturarbeit gehen solle, waren sie «eigentlich ziemlich planlos». Bis die Hägglingerin Lörtscher aus Jux zu ihrer Freundin meinte: «Komm, lass uns mit dem Velo nach Lecce fahren und deine ehemalige Gastfamilie besuchen.» Und ihre Schulfreundin aus Buttwil meinte nur: «Ja, warum denn eigentlich nicht?»
Bereits wenige Wochen später ging es mit schwer bepackten Sacochen an den Rennvelos in Richtung Süden. Bis auf den Gotthardpass, der zu Beginn der Reise Anfang April wegen des Schnees noch gesperrt war, haben die beiden die 1500 Kilometer aus eigener Muskelkraft zurückgelegt. Dabei radelten sie im Schnitt 120 Kilometer pro Tag und passierten insgesamt 17 000 Höhenmeter bei der Überquerung der Schweizer Berge und dem italienischen Apennin-Gebirgszug. «Einfach geradeaus und an der Ostküste Italiens runterzufahren, wäre uns zu langweilig gewesen», meint Holloway lachend. Denn wenn man schon in Italien unterwegs ist, dann sollte man zumindest auch die bekannten Ortschaften besuchen. Ein «Touri-Trip mal anders» sozusagen, weshalb ihre Route über Oberitalien unter anderem durch Parma in die Toskana nach Florenz, über den Apennin nach Rom – und nochmals über den Apennin in Richtung Ostküste zum eigentlichen Ziel Lecce führte. «Ein riesiges Abenteuer», so Lörtscher.
Und eine wahre Herausforderung für die zwei 18-Jährigen. Nicht nur in physischer, sondern auch in emotionaler Hinsicht. «Da haben wir für uns definitiv eine kleine innere ‹Evolution› durchgemacht.»
Man ist voneinander abhängig
Wenn Lörtscher und Holloway über ihre «Bike-Packer»-Reise erzählen, vergisst man manchmal, dass zwei 18-jährige Maturandinnen vis-à-vis sitzen. Vor allem reiflich sei man gewachsen, halten die beiden fest. «Das mussten wir vermutlich, nachdem wir auf die Welt gekommen sind», so Holloway. Denn es sei alles andere als eine Fahrt ins Blaue gewesen – der Zeitdruck habe einen immer verfolgt. «Wir wussten, wir müssen über 100 Kilometer am Tag fahren. Das brachte uns psychisch an die Grenzen», so Holloway. Es sei «schon Hardcore» gewesen, acht bis zehn Stunden pro Tag Velo zu fahren. Kam hinzu, dass der Weg nicht immer durch die Zivilisation geführt habe, geschweige denn, bei einer Panne oder mit Hunger im Bauch eine Anfahrtsstation gefunden wurde. «In diesen Momenten merkt man schon, wie abhängig man voneinander ist», so Lörtscher.
Ausserhalb der «eigenen Normalität» sei man deshalb «mental» gereift: Etwa dann Kraft aufzubringen, auch wenn man meint, dass es eigentlich nicht mehr geht. Das gemeinsame Abenteuer, es hat die Freundinnen zusammengeschweisst. Man habe gelernt, die Grenzen der anderen zu respektieren. Dabei erzählt Clara Holloway erfrischend selbstreflektiert: «Pascale ist sehr taff im Kopf. Sie ist einfach gefahren, hat gebissen. Bei mir hingegen gab es schon zwei, drei Momente, wo ich emotional am Boden war. Und mich benommen habe wie ein ‹täubelndes Kind›. Dennoch habe der Kopf nicht zugelassen aufzugeben. Besonders wegen der vorgängigen Kommentare: «Unsere Freunde meinten teilweise, wir verkrachen uns oder machten sich Sorgen. Wir würden das nie schaffen, meinten sie. Und auch unser Lehrer äusserte seine Bedenken.»
Lektionen fürs Leben
Viele Emotionen – viele private Momente. All dies mit der Kamera festzuhalten, sei anfänglich eine Herausforderung gewesen. Den Schülerinnen sei es wichtig gewesen, authentisch und ehrlich zu sein. «Und dazu zählen eben nicht nur die schönen Momente.»
Vor laufender Kamera zu lachen, die schöne Landschaft zu zeigen, die Momente mit einzigartigen Begegnungen festzuhalten – das sei «das Einfachste der Welt» gewesen. Sich hingegen bei Wut, Verzweiflung und auch Tränen filmen zu lassen, das brauchte Überwindung. «In den ersten Tagen war das sehr komisch gewesen», blickt Lörtscher zurück. «Doch mit der Zeit sind wir in diese ‹Rollen› hineingewachsen und sahen die Kamera mehr als dritte Person, die uns begleitet.»
Rund 40 Stunden Filmmaterial haben die jungen Frauen zusammengetragen. Besonders stolz sind sie dabei auf jene Szenen, in denen man mit anderen «Bike-Packern» ins Gespräch gekommen ist. Denn auch die zwischenmenschliche Ebene mit Fremden sei ein wichtiger Teil der Reise gewesen, erklären sie. «Wenn nicht sogar der beeindruckendste», so Lörtscher. «Alle Menschen, denen wir begegnet sind, waren hilfsbereit, offen und beeindruckt von unserem Vorhaben.»
Viele schöne Bekanntschaften haben sich ergeben, darunter auch Abendessen im Kreise von Fremden, die später zu Freunden wurden. Während Holloway Italienisch spricht, konnte Lörtscher kein Wort verstehen. «Und dennoch gelang es Pascale, sich mit allen zu verständigen und zu kommunizieren», so ihre Freundin. Das sei eine schöne Lektion fürs Leben gewesen: «Egal von wo man kommt oder ob man die gleiche Sprache spricht: Wenn Menschen sich als Menschen begegnen, kann so viel Positives entstehen.»
Film soll nicht als Maturarbeit verschwinden
Der Abenteuerteil der Maturarbeit liegt nun bereits wieder einen Monat zurück. Nun fängt das Schneiden des Films an. Bis Oktober haben sie Zeit, um sich im Schneiden mit professionellen Programmen zu üben. Denn eines ist klar: Die Aufnahmen sollen nach der Matur nicht einfach verschwinden. «Zuerst müssen wir schauen, ob wir einen Film oder eine Mini-Serie produzieren, das müssen wir nach dem Sortieren des Materials entscheiden», so Holloway. «Danach ist es aber schon ein Ziel, die Produktion zu zeigen. Richtig toll wäre das Open-Air-Kino der Kanti oder eine Plattform, die für alle zugänglich ist. Wir hoffen, dass man aus diesem Film etwas für sich mitnehmen kann», so Pascale Lörtscher.
Pascale Lörtscher und Clara Holloway haben ein Crowd-Funding-Projekt gestartet, um ihre Arbeit zu finanzieren. Infos: www.gofundme.com/f/unsere-maturaarbeit-1500km-mit-dem-velo.