Martin Rüfenacht, Jurist und Krimiautor, Aristau.
Schreibstau
Als Pendler ist man sich an eine äusserst zuverlässige SBB gewöhnt. Eine Minute Verspätung wird mit Stirnrunzeln, Seufzern ...
Martin Rüfenacht, Jurist und Krimiautor, Aristau.
Schreibstau
Als Pendler ist man sich an eine äusserst zuverlässige SBB gewöhnt. Eine Minute Verspätung wird mit Stirnrunzeln, Seufzern oder genervtem Kopfschütteln quittiert. Die Staatsbahn als Opfer des eigenen Erfolgs.
Denn schliesslich will jede Minute im Zug genützt werden, um zu tratschen, Mails zu verfassen oder zu lesen, soziale Medien zu konsultieren oder einfach nur müde vor sich hin zu starren. Äusserst selten sieht man noch jemand mit einer Zeitung oder gar einem Buch. Die Digitalisierung ist – zumindest an einem Ort, nämlich dem morgendlichen Pendlerverkehr – bereits vollständig eingeführt und umgesetzt.
Aber was, wenn die so lieb gewonnene Routine einmal unterbrochen wird? Was, wenn der Zug auf offener Strecke für eine unbestimmte Zeit stehen bleibt? Keine Möglichkeit auszusteigen. Der Anschlusszug ist längst verpasst. Eine nicht gerade verheissungsvolle, krächzende Stimme aus dem knisternden Lautsprecher zerstört jäh die Hoffnung auf ein rasches Weiterkommen.
Natürlich wird zunächst das Handy gezückt: den Fahrplan prüfen, alternative Verbindungen heraussuchen. Schnell die Arbeitskollegin informieren, die Familie updaten, den Chef briefen. Aber dann?
Viele heben zum ersten Mal auf dieser Fahrt den Kopf und schauen sich im Abteil um. Erste zaghafte Annäherungsversuche. Vielleicht ein kurzer Spruch, ein zaghaftes Lächeln und das Eis ist gebrochen. Plötzlich finden Gespräche über den Gang statt. Man geht aufeinander zu, tauscht sich aus. Gleicher Kleidungsstil? Ähnlicher Sticker auf dem Laptopdeckel? Gingen wir nicht auf die gleiche Schule? Sind Sie nicht der Vater eines Freundes? Haben Sie das Spiel gestern Abend auch gesehen? Erstaunlich und durchaus schade, dass es eine Unterbrechung im gewohnten Ablauf braucht, um wieder analoger Mensch zu sein.
Rollt der Zug wieder an, versinkt man wieder im Tunnel der Bildschirmbeschallung. Es wird ruhig im Abteil. Vielleicht bis auf die nervtötende Beschallung durch zu laut eingestellte In-Ear-Kopfhörer. Es lebe die Pünktlichkeit!