Der Russland-Experte
29.04.2022 WohlenVortrag zu Putin im Kantiforum
Vor über 20 Jahren war er erstmals in Russland. Und er kehrte für verschiedene Medienhäuser ins Land von Wladimir Putin zurück. Dadurch ist David Nauer zu einem Russland-Experten geworden. Er beobachtete dabei den Werdegang und die ...
Vortrag zu Putin im Kantiforum
Vor über 20 Jahren war er erstmals in Russland. Und er kehrte für verschiedene Medienhäuser ins Land von Wladimir Putin zurück. Dadurch ist David Nauer zu einem Russland-Experten geworden. Er beobachtete dabei den Werdegang und die Veränderung von Putin. Im Kantiforum in Wohlen referierte Nauer zu Putin und Russland. Durch den Ukraine-Krieg ein hochaktuelles Thema. Der Starke schlägt den Schwachen. So sei Putin in St. Petersburg aufgewachsen, sagt Nauer. --dm
«Er ist nicht komplett verrückt»
Kantiforum: Vortrag «Einmal Putin – immer Putin» von Russland-Experte David Nauer vor ausverkauftem Haus
Das schreckliche Thema beherrscht die Welt. Auch in Wohlen ist die Wissenslust über den Ukraine-Krieg riesig. Deshalb stiess der Vortrag von Russland-Experte David Nauer auf grosses Interesse. «Russlands Machthaber Wladimir Putin lebt in einer Welt, die er sich selber ausgedacht hat», sagt Nauer.
Daniel Marti
Russland. Der Krieg in der Ukraine. Und vor allem der russische Herrscher Wladimir Putin sind in aller Munde. Der Diktator beherrscht so ziemlich alle Schlagzeilen. Und David Nauer, Russland- und Putin-Kenner, kommt genau zu diesem Zeitpunkt ins Kantiforum. Vorweggenommen: Sein Referat war glänzend, die Kanti-Aula war restlos ausverkauft. Das Interesse an seinen Einschätzungen war enorm.
Und Putin, so das Urteil des SRF-Korrespondenten, «ist nicht komplett verrückt. Er leidet unter einem Realitätsverlust, aber er ist nicht wahnsinnig geworden.» Bei solchen Sätzen war es in der Kanti-Aula ganz still. Alle Besucherinnen und Besucher, deutlich über 200, hingen ihm an den Lippen.
Ohne Selbstvertrauen zum Wohlstand
Und was Nauer zu erzählen hatte, war beeindruckend. Bereits in den Jahren 1999 und 2000, als Putin an die Macht kam, weilte er in Russland. Zudem studierte er an der Universität Zürich Geschichte, russische Literatur sowie russische Linguistik. Von 2006 bis 2009 wirkte er als Moskau-Korrespondent beim «Tages Anzeiger». Und im Herbst 2015 trat er die Radio-Korrespondentenstelle in Moskau als Nachfolger von Peter Gysling an.
Rückblende. Als Nauer erstmals in Russland weilte, «da hatte das Land kein Selbstvertrauen». Viele Städte lagen am Boden, Lebensmittelgeschäfte waren kaum auffindbar. Die Enttäuschung, dass die Russen den Kalten Krieg verloren hatten, war überall spürbar. Dann kam Putin. «Russland schwankte und Putin versuchte, das Land zu stabilisieren. Und er stärkte vor allem seine Macht», blickt Nauer zurück. Der Staat übernahm die Kontrolle über die Fernsehstationen, Polit-Satire wurde abgeschaltet, die Opposition unterdrückt. «Und Russland wurde rasch reich.» Vor allem dank dem schnell steigenden Öl-Preis.
Laut Nauer schloss Putin mit dem Volk einen stillschweigenden und entscheidenden Pakt: «Ich sorge für Stabilität und Wohlstand und ihr mischt euch nicht in die Politik ein.»
Der Goldrausch sorgte für eine Täuschung
Als David Nauer 2006 ins östliche Reich zurückkehrte, fand er eine ganz andere Nation vor: «Ein Land im Goldrausch.» Reiche Russen, plötzlich Shopping-Hallen, aufgehübschte Provinzstädte. «Der grosse Teil der Bevölkerung konnte sich etwas leisten. Es war ein neues, schönes Russland entstanden, und das verbinden die Menschen mit Putin, und zwar heute noch», so Nauer.
«Die Zeit war goldig, und es ist Putins Zeit.» Das bedeutet aber auch, dass die Opposition niedergeknüppelt wurde. Auch David Nauer liess sich täuschen. Er hatte das Gefühl, «Russland ist auf dem Weg zu uns. Die wollen sich in Europa eingliedern.» Die interessanten Geschichten seien erzählt. Und er konnte sich deshalb verabschieden aus diesem Land. Um dann 2015 zurückzukehren. Denn die speziellen Geschichten kamen erst jetzt.
Nauer betitelt die Phase von 2014 bis 2021 als die «Wiedergeburt des Imperiums». Die Demonstrationen in Kiew und die Annexion der Krim 2014 «waren der Anfang der jetzigen Krise». Mit der Annexion der Krim wurde aufgezeigt, «dass Russland wieder Grossmacht sein will».
Und von da an habe sich auch das politische Klima stets verschlechtert. «Nun geht es sogar steil runter und es fällt ins Bodenlose», urteilt Nauer. In den letzten Jahren habe eine totale Militarisierung stattgefunden. Die Feier für den 9. Mai, an diesem Tag wird des Siegs im Zweiten Weltkrieg gedacht, werde immer intensiver. «Je weiter weg dieser Sieg ist, desto pompöser wird er gefeiert.» Dies alles dient dem Personenkult.
«Schön, aber noch nie so schrecklich»
In gewissen Schichten ist Putin auf dem Level von Diktator Stalin, der im Zweiten Weltkrieg Nazi-Deutschland in die Knie gezwungen hat. In diesem Vergleich spielt ein Motto eine wesentliche Rolle: «Wenn es Putin gibt, dann gibt es Russland.» David Nauer hat dagegen eine andere Folgerung: «Russland war noch nie so schön wie jetzt, aber es war noch nie so schrecklich wie jetzt.»
Wie konnte nur dieser Krieg gegen die Ukraine passieren, dieser Überfall auf das Nachbarland? Nauer weiss es nicht, «denn ich weiss nicht, wie Putin denkt». Der Journalist kann nur Vermutungen anstellen. «Alle um ihn herum sagen ihm seit zwanzig Jahren, wie grossartig er ist. All diese Menschen finden ihn super, sie fürchten sich aber gleichzeitig vor dem Diktator.» Niemand sage ihm, dass es eine schlechte Idee war, in die Ukraine einzumarschieren.
Weiter vermutete Nauer, dass Putin in einer Isolation lebt, dass er nur Geheimdienst, Militär und ein paar Minister um sich duldet. «Man bekommt den Eindruck, dass sich Putin als historische Figur sieht. Er lebt in einer Welt, die er sich selber ausgedacht hat.» Dies alleine sei nicht weiter schlimm. Aber er hat eine grosse Armee um sich und rund 5000 Atomsprengköpfe, das mache die Situation so gefährlich. Und nun droht die Ukraine zum Westen überzulaufen, das wolle der Diktator nicht dulden – und mit einer Reaktion auch nicht Jahre zuwarten. «Aber das rechtfertigt den brutalen Angriffskrieg natürlich nicht.»
Furchtbare Tragödie – für beide Länder
Auch für die Russen geht es laut Nauer in diesem Krieg um sehr viel. Um Ansehen, Reputation, um viel Geld und um eine Armee, die viele Verluste hinnehmen muss. «Dieser Krieg ist nicht nur für die Ukraine eine Tragödie, er ist auch für Russland eine Tragödie. Das Land ist auch zu sich selber grausam.»
Und wie geht es weiter mit dem Konflikt? Auch hier gibt es von Nauer – logischerweise – keine stichhaltige Prognose. Was passiert, wenn Putin seine Ziele im Osten der Ukraine gar nicht erreicht? Greift er zu Chemieund Atomwaffen? «Da gibt es keine Hinweise, dass die Russen dies planen. Aber die Drohung ist vorhanden.»
Grundsätzlich ist David Nauer erschüttert wegen der gesamten Situation. «Und ich bin in grosser Sorge, denn dieser Krieg ist eine furchtbare Tragödie. Für 40 Millionen Ukrainer ist dieser schreckliche Krieg jede Minute da. Immer.»