Integra nahm Flüchtlinge auf
29.03.2022 WohlenDie Solidarität in der Schweiz mit den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine ist nach wie vor riesig. Deren Dankbarkeit ist denn auch gross. «Es ist unglaublich, was für eine Solidarität und Unterstützung wir hier erfahren», sagt beispielsweise Dmytro Zharyi. Der ...
Die Solidarität in der Schweiz mit den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine ist nach wie vor riesig. Deren Dankbarkeit ist denn auch gross. «Es ist unglaublich, was für eine Solidarität und Unterstützung wir hier erfahren», sagt beispielsweise Dmytro Zharyi. Der 37-Jährige ist auf den Rollstuhl und auf Pflege angewiesen, die Flucht besonders schwierig. Hilfe fand er in der Integra in Wohlen.
Mit dem Rollstuhl auf der Flucht
Integra bot einer ukrainischen Familie unkompliziert Unterkunft und Arbeit an
Wer aus seinem Land fliehen muss, trägt ein sehr schweres Schicksal mit sich. Wer dies aber wie Dmytro Zharyi zusätzlich im Rollstuhl tun muss, der stösst auf viele weitere Probleme. Die Integra bot ihm und seinen Eltern Hilfe in der Not an. Und will auch in Zukunft Plätze bereithalten.
Chregi Hansen
Trotz den schlimmen Nachrichten, die er regelmässig aus seiner Heimat erhält, hat Dmytro Zharyi seinen Optimismus und seine Hoffnung noch nicht verloren. «Wir werden diesen Krieg gewinnen», ist er überzeugt. «Die Frage ist nur, wie lange es noch dauert. Und welchen Preis wir letztlich dafür bezahlen müssen.» So oder so, er ist zu hoch.
Während Russland weiterhin seine Landsleute in Angst und Schrecken versetzt und Bomben regnen lässt, hat der 37-Jährige zusammen mit seinen Eltern einen sicheren Platz gefunden. Dmytro Zharyi wohnt in einer betreuten Wohngruppe, seine Eltern ganz in der Nähe in einer externen Wohnung der Integra. Die Situation ist ungewöhnlich. «Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben von meinen Eltern getrennt», schmunzelt der Ukrainer. Beklagen möchte er sich nicht. «Es ist unglaublich, was für eine Solidarität und Unterstützung wir hier erfahren. Wir sind unglaublich dankbar.»
Rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen
Dabei ist die Integra eigentlich gar nicht der richtige Ort für ihn. Denn hier leben und arbeiten in erster Linie kognitiv beeinträchtigte Menschen. Dmytro Zharyi hingegen ist blitzgescheit – ein studierter Anwalt, der zuletzt für eine internationale Organisation gearbeitet hat. Aber wegen einer spinalen Muskelatrophie ist er seit seinem 13. Lebensjahr auf den Rollstuhl und eine umfassende Betreuung angewiesen. «Die können wir ihm in der Wohngruppe anbieten, Nachtdienst inklusive», erklärt Abteilungsleiter Remo Bättig, der die Unterbringung organisiert hat. Zharyi ist froh um die gefundene Lösung. «Bisher haben mich meine Eltern gepflegt. Aber sie werden immer älter und ich immer schwerer und dicker», lacht er.
Seit etwas mehr als zwei Wochen lebt die Familie Zharyi in Wohlen. Sie fühlt sich gut aufgehoben. Und ihr ist es wichtig, nicht einfach Hilfeempfänger zu sein, sondern sie will auch etwas zurückgeben. «Wir haben nach Einsatzmöglichkeiten gesucht. Mutter Nataliia arbeitet beim Mittagstisch mit, Vater Yurii in der Werkstatt», berichtet Bättig. Auch Dmytro Zharyi übernimmt verschiedene Aufgaben, etwa in der Logistik. Im Gegensatz zu seinen Eltern spricht er fliessend Englisch, kann sich daher gut verständigen. «Für uns ist es wichtig, etwas zu tun zu haben, sonst würden wir vermutlich durchdrehen», sagt der Ukrainer, der fast minütlich sein Handy auf Nachrichten aus der Heimat kontrolliert.
Zu wissen, was dort passiert, belastet ihn sehr. Als Mitarbeiter einer Menschenrechtsorganisation kennt er viele Erzählungen von Kriegsflüchtlingen, kennt das Vorgehen des russischen Militärs genau. «Das ist kein Invasionskrieg, das ist ein Genozid», macht er deutlich. Seine Familie lebt schon seit vielen Generationen in der Gegend von Dnipro, der viertgrössten Stadt des Landes. «Als ich gesehen habe, wie die russische Armee vorrückt, war mir sofort klar, was sie vorhat. Sie will die Gegend umzingeln, sie abriegeln und so die einzige Verbindung nach Kiew kappen», berichtet er. Das war für ihn der Moment, in dem er seine Eltern überzeugen konnte, zu fliehen. Doch damit begannen die Probleme erst.
Warten auf eine Transportmöglichkeit
Nicht, dass es dem Anwalt an Unterstützung gefehlt hat, im Gegenteil. Ein Freund in Deutschland bot ihm Unterkunft an. Seine in Norwegen beheimatete Firma unterstützte ihn finanziell. «Doch es gab für mich, der auf einen Rollstuhl und Betreuung angewiesen ist, einfach keine Reisemöglichkeit. Tagelang sass ich zu Hause und telefonierte allen mir bekannten Behörden und Organisationen, aber umsonst.» Als die Explosionen immer näher kommen, wird der Familie bewusst, dass sie handeln muss. Die drei Personen packen zusammen zwei Koffer und machen sich auf den Weg zum Bahnhof. «Ich hatte die grosse Hoffnung, dass sich eher eine Möglichkeit ergibt, wenn ich direkt am Gleis sitze», so Zharyi.
Der Plan ging auf, extra für Dmytro Zharyi und seine Eltern wird nachts ein Zug gestoppt. Die Familie kommt nach Polen. Dort folgt der nächste Schock. «An der Grenze wollten sie mich erst zurückschicken, weil ich im wehrfähigen Alter bin. Sie hielten es für möglich, dass ich meine Behinderung nur vortäusche. Und in der ganzen Aufregung fand ich die nötigen Dokumente nicht.» Mehr als eine Stunde dauerten die Gespräche und Abklärungen, bis er zusammen mit seiner Familie passieren durfte.
Innert 24 Stunden einen Platz bereitgestellt
Eine Hilfsorganisation ermöglichte der Familie die Reise in die Schweiz. Zharyi hofft, dass er hier dank seinen Englischkenntnissen und seinen bisherigen beruf lichen Erfahrungen eine Stelle bei einer internationalen Organisation erhält. Doch vorerst ging es darum, schnell eine geeignete Unterkunft zu finden. «Wir erhielten eine Anfrage über eine Freundin bei der Pro Infirmis. Ob wir die Möglichkeit hätten, einen barrierefreien Platz anzubieten», erinnert sich Bättig. «Wir haben dann unsere Teams kontaktiert und schnell nach Lösungen gesucht. Uns war allen klar, in dieser Situation müssen wir unkompliziert Hand bieten», berichtet der Leiter Wohnen weiter.
An einem Mittwoch kam die Anfrage, keine 24 Stunden später konnte der ukrainische Gast in der Wohngruppe 4 einziehen. «Die Flexibilität und Hilfsbereitschaft unter den Mitarbeitenden ist riesig», freut sich Bättig. Auch Dmytro Zharyi ist gerührt über den Empfang, der ihm bereitet wurde. So erhielt er beim Einzug einen Laptop geschenkt, damit er hier seine Bewerbungen schreiben kann. «Es ist einfach wunderbar. Die Integra ist wie eine grosse Familie für uns», sagt er gerührt. «Ich bin beeindruckt, was getan wird, damit es uns gut geht», sagt der Jurist. Auch mit den Klienten versteht er sich bestens. «Sie sind besorgt über die Schlagzeilen, auch wenn sie nicht alles erfassen können. Aber die Situation ermöglicht es uns, mit ihnen über die Geschehnisse in der Welt zu sprechen», sagt Bättig. Man wolle nichts beschönigen, auch die Bewohner und Bewohnerinnen der Integra hätten ein Recht auf die Wahrheit.
Weitere Angebote schaffen
Inzwischen wurde für Dmytro Zharyi ein neuer Platz gefunden. Ende Woche zieht er in eine Institution in Zürich, seine Eltern in eine nahe gelegene Wohnung. Die Suche nach einer Arbeitsstelle geht hingegen weiter. «Jahrelang haben meine Eltern für mich gesorgt, jetzt soll es umgekehrt sein. Ich will für uns genügend Geld verdienen», sagt er. Die Zeit in Wohlen wird er aber nie vergessen. «Ich habe hier so viele eindrückliche Menschen getroffen», schwärmt Zharyi. Etwa Präsident Walter Küng. Geschäftsleiter Peter Truttmann. Remo Bättig, mit dem er nicht nur beruflich verbunden ist. Aber auch Kanti-Rektor Matthias Angst, der den Flüchtling spontan in die Schule eingeladen hat, um hier Vorträge zu halten und mit den Schülern und Schülerinnen zu diskutieren. «Das war eine neue und sehr spannende Erfahrung.»
Die Integra will auch nach dem Auszug der Familie Plätze anbieten für Flüchtlinge mit Beeinträchtigungen. «Diese gehen oft etwas unter. Sie haben ganz andere Bedürfnisse, auf die man eingehen muss», so Bättig. «Wir haben die entsprechenden Stellen informiert, dass wir schnell und unbürokratisch Plätze schaffen können und dafür auch eng mit der Gemeinde zusammenarbeiten.» Schliesslich befinde man sich in einer Notsituation, da müssten alle ihren Teil leisten, auch Institutionen wie die Integra. «Das ist doch selbstverständlich», findet Bättig.
Zerbombte Träume
«Solche Institutionen kennen wir in unserem Land nicht. Es ist fantastisch, was hier geleistet wird», bedankt sich Dmytro Zharyi bei allen Beteiligten. Bei der Frage, ob er nach dem Ende des Krieges in seine Heimat zurückkehrt, wird er nachdenklich. «Alle unsere Träume und Ziele sind zerstört. Wir waren eben daran, das Haus meiner Grossmutter zu renovieren, als wir Hals über Kopf fliehen mussten. Wir wissen nicht, wie es in Zukunft sein wird.» Doch er trägt sein Schicksal mit Fassung. «Ich wollte nie behindert sein und musste es akzeptieren. Und ich wollte nie zum Flüchtling werden, auch damit muss ich mich nun arrangieren.» Das Leben hat ihn gelehrt zu kämpfen. Der Krieg hat dies noch verstärkt. Und er weiss dank seiner Zeit in Wohlen, dass er nicht alleine ist.