Frühlingserwachen mit der Stadtmusik
29.03.2022 BremgartenIn der Stadtpfarrkirche präsentierte sich eine 60-köpfige perfekte Orchesterformation
So alle 15 Jahre gibt die schon immer hervorragend aufgestellte Stadtmusik die «Rhapsody in Blue» von George Gershwin zum Besten. Diesmal war sie eingebettet in ein ...
In der Stadtpfarrkirche präsentierte sich eine 60-köpfige perfekte Orchesterformation
So alle 15 Jahre gibt die schon immer hervorragend aufgestellte Stadtmusik die «Rhapsody in Blue» von George Gershwin zum Besten. Diesmal war sie eingebettet in ein überraschendes Konzept.
In der sonnendurchf luteten Stadtpfarrkirche ist am frühen Sonntagabend ein grosses Orchester aufmarschiert, auffallend der erfreulich tiefe Altersdurchschnitt. «Wir wollen Ihnen einen farbig-bunten Frühlingsblumenstrauss präsentieren», sagte Präsidentin Karin Feller gut gelaunt. Folgerichtig hiess die erste Darbietung «Frühlingsfest», ein herrliches Werk von Alfred Reed (1921–2005).
Da wurde schon in den ersten Takten das ganze weite Spektrum der «Bremgarter» dargelegt: liebevoll leichte Melodien, dezentes Schlagwerk und überraschendes Xylofon, tragende Hörner, Bässe und Posaunen. Und wenn sie laut werden dürfen, dann tun sie das mit sichtlicher Spielfreude. Dynamisches Pianissimo können sie aber auch.
Unvergleichliche «Rhapsody in Blue»
Den engagierten begeisternden Dirigenten Niki Wüthrich und die virtuose Pianistin Patricia Ulrich verbindet freundschaftlich die Studienzeit in Luzern, noch heute gehen sie hin und wieder miteinander joggen. Beide sind sie begnadete Musiker.
Die «Rhapsody in Blue», die bekannteste Komposition des US-amerikanischen Broadwaykomponisten George Gershwin, erstmals am 12. Februar 1924 in New York aufgeführt – mit Gershwin am Flügel –, verbindet beide. So wurde dieser lange Vortrag zum musikalischen Erlebnis erster Güte.
Den prägenden Klarinettenpart spielte einfühlsam Silvan Fischbacher. Patricia Ulrichs präzise und sorgfältige Interpretation der endlosen Läufe hinterliess ein Publikum, das nicht zu atmen wagte. Das aufmerksame Orchester übernahm die unsterblichen Melodienfolgen in ruhigster Sorgfalt, die hintergründigen Musiker erweiterten den herrlichen Klavierpart in die Titelmelodien und hoben sie auf musikalische Stärken. Langanhaltender Applaus war verdienter Lohn. Was genau die Stadtmusik Bremgarten auf die Idee brachte, diese grosse sinfonische Dichtung des 1973 geborenen deutschen Klarinettisten, Komponisten und Arrangeurs im Bereich Blasmusik, Guido Rennert, Stabsfeldwebel und erster Klarinettist im Musikkorps der Deutschen Bundeswehr, der beim Grossen Zapfenstreich zur Verabschiedung von Bundeskanzlerin Angela Merkel deren Musikwünsche erfüllte, bleibt unbekannt, ist aber eine hervorragende Idee.
Da ist in dreizehn einzelnen Stationen unglaublich verrückte und vielseitige lustvoll zu spielende, aber herausfordernde Musik. Der historische Bogen reicht von der weltweiten Hanse bis in die Gegenwart, der die bewegende Geschichte dieser faszinierenden Stadt musikalisch erzählt. Die feinen Zwischenspiele führte auf seinem Akkordeon der dreizehnjährige Damian Spielmann.
So etwas Gewaltiges hat man noch nie gehört. Ein Überflug über die weltoffene Stadt eröffnet das Werk und führt ins wilde Treiben im Mittelalter mit der Hinrichtung Störtebekers. Hamburg wurde in neuerer Geschichte aber auch Schauplatz schrecklicher Ereignisse. An die grausame Bombardierung im Sommer 1943, der Zehntausende Menschen zum Opfer fielen, erinnern zwölf Glockenschläge vom Hamburger «Michel» aus – ehrfürchtige Hühnerhautmomente. Die gewaltige Sturmflut von 1962 wird musikalisch sehr drastisch – ja ohrenbetäubend – aufgezeigt. Da wird ein unglaubliches musikalisches Feuerwerk voller Brillanz und Präzision und Kraft entzündet. Dennoch mit besinnlichen Zwischentönen und feinen Überraschungen.
Die seltensten Instrumente und Geräusche kommen zu freudigem Solo-Einsatz. Und auch mal ein aufmunterndes Seemannslied, ein klingelnder Boogie. In St. Pauli herrscht ohnehin pure Lebenslust. Das monumentale Meisterwerk – derart dargeboten – lädt ein, Hamburg bald zu besuchen, und nicht nur wegen der Elbphilharmonie.
Beglückt in den Frühling
Selbstverständlich lassen sich die Bremgarter zu einer Zugabe locken. «Traditionellerweise wäre es ja der aargauische Feuerwehrmarsch, doch ‹hindersi› gespielt», scherzt Niki Wüthrich. Aber es wird sehr schräge Marschmusik, eine Verrücktheit von John McClay – bombastisch erfrischend vibrierend mutige Musik, die sie mit grosser Freude, ja mit etwas Übermut rocken.
Zum Schluss wird es nachdenklich. Niki Wüthrich weist darauf hin, «dass im Osten Krieg herrscht». Da sei es ihm und den Musikern ein Herzensanliegen, ein Zeichen zu setzen. Er zitiert Leonard Bernstein, sinngemäss: «Die einzige Antwort auf Gewalt ist innig gespielte Musik.» Das Publikum singt im Kanon das «Dona nobis pacem». Und geht beglückt hinaus in den Frühling. --hr