Die Schweiz blickt nach Wohlen
31.12.2021 WohlenBesondere Momente im Redaktionsalltag: Demo gegen die Coronamassnahmen (20.Februar 2021)
Chregi Hansen
Im Februar erreichte die Kritik an den Coronamassnahmen in der Schweiz einen ersten Höhepunkt. Die Demo in Wohlen war so etwas wie ...
Besondere Momente im Redaktionsalltag: Demo gegen die Coronamassnahmen (20.Februar 2021)
Chregi Hansen
Im Februar erreichte die Kritik an den Coronamassnahmen in der Schweiz einen ersten Höhepunkt. Die Demo in Wohlen war so etwas wie ein lautloser Aufschrei. Und sie deutete bereits an, was heute leider Realität ist: das Entstehen einer gespaltenen Gesellschaft. Eine Minderheit beklagte sich über die Zustände, eine Mehrheit reagierte mit Unverständnis. Auf beiden Seiten gab es nur wenig Bemühungen um Ausgleich. Dafür wurde der Ton aggressiver. Und die Medien schürten den Konflikt immer weiter an.
Die Corona-Demo in Wohlen sorgte im Vorfeld für Diskussionen. Zur Erinnerung: Damals galten in der Schweiz strengere Massnahmen als heute. Restaurants und Bars waren geschlossen, die meisten Läden ebenso, Veranstaltungen mit Publikum gab es keine, im Privaten galt eine Obergrenze von fünf Personen, Sporttreiben war fast unmöglich. Geimpft waren zu dieser Zeit nur wenige und nur Senioren. Und in dieser Zeit demonstrierte Samstag für Samstag eine immer grössere Gruppe in der Schweiz gegen diese Massnahmen. Erst waren es bloss 50Personen, wenig später in St. Gallen bereits 150, kurz vor dem Anlass in Wohlen kamen 800 Menschen an den Protestmarsch in Zug. Und nun also luden die Organisatoren nach Wohlen ein.
Viele Kantone hatten zu der Zeit Demonstrationen verboten. Diese Massnahme war umstritten, denn der Bundesrat hat Demonstrationen explizit erlaubt. Die Gemeinde Wohlen erteilte den Organisatoren denn auch die Bewilligung «unter Einhaltung der üblichen Auflagen». Geplant war ein Marsch durchs Zentrum auf den Trottoirs, denn der Verkehr sollte nicht behindert werden, gerechnet wurde mit rund 300 Teilnehmern. Es kam bekanntlich anders.
Die Demonstration war in Wohlen ein Gesprächsthema. Auch auf der Redaktion. Wie gehen wir damit um? Soll die schon damals umstrittene Bewegung eine Plattform erhalten? Und überhaupt, wer geht da hin und wagt sich unter die vielen Menschen? Die zudem den Medien gegenüber eher feindselig eingestellt sind. Letztlich übernahm ich die Aufgabe. Ich hatte und habe ein entspanntes Verhältnis zum Thema Corona. Habe mich nie vor einer Ansteckung gefürchtet. Und war einfach gespannt, was an diesem Tag passieren würde. Es ging unserer Zeitung nicht um Schlagzeilen. Offen sein für alles, sich überraschen lassen und berichten, was passiert, das war schon immer unser Credo.
Natürlich war es schon ungewohnt, plötzlich wieder auf so viele Menschen zu treffen – statt der erwarteten 300 kamen gegen 2000Personen aus der ganzen Schweiz. Ich war unter ihnen, als sie sich am frühen Nachmittag besammelten, und habe anschliessend an verschiedenen Orten den Umzug verfolgt. Das Wetter war bestens, die Sonne strahlte, umso krasser war der Gegensatz zu diesem bedrückenden und lautlosen Marsch, der wegen des Grossaufmarschs auf die Strasse verlegt wurde und den Verkehr lahmlegte. Von Demos ist man sich das Skandieren von Parolen gewohnt, das stumme Vorbeiziehen der vielen in Weiss gekleideten Menschen hatte eine besondere Wirkung. Besonders waren auch die anschliessenden Ansprachen. Von berührend über witzig und intelligent bis zu fragwürdig und dumm.
All dies habe ich notiert und versucht, in einem sachlichen Artikel unterzubringen. Dies im Gegensatz zu vielen anderen Medien. Aus der ganzen Schweiz sind sie nach Wohlen gereist und haben teilweise live gesendet, sich dabei aber hauptsächlich mit der nicht eingehaltenen Maskenpflicht und der Passivität der Polizei beschäftigt. Die Gemeinde und die Polizei wurden hart kritisiert, während genau diese von mir Lob bekamen. In einem Kommentar habe ich zudem dazu aufgefordert, die Kritiker ernst zu nehmen. Man müsse die Haltung nicht teilen, aber die Menschrieb ich – die Boulevardmedien hatten zuvor gerade den Begriff «Covidioten» salonfähig gemacht.
Es kam, wie wir heute wissen, anders. Die Kluft zwischen den Befürwortern der Massnahmen und ihren Kritikern wurde immer grösser – und gipfelte in gleich zwei Abstimmungen zum Covid-Gesetz. Zuletzt haben im November 62 Prozent Ja gesagt zum Gesetz. Das ist viel. Bedeutet aber umgekehrt auch, dass mehr als ein Drittel mit den Massnahmen nicht einverstanden ist – bei der Demo in Wohlen war es noch eine kleine Minderheit. Lange hat man einfach über die Ungeimpften geschimpft und sie als Sündenbock genutzt. Seit die Zahlen auch in Ländern mit hoher Impfquote nach oben schiessen und jetzt auch die Geimpften wieder Einschränkungen erleben, kippt die Stimmung erneut. Das Thema Corona wird uns wohl noch lange begleiten. Und mit ihm auch die vielen Schlagzeilen in den Medien. Leider sorgen diese mehr für Verwirrung als für Beruhigung. Da können in ein und derselben Zeitung zwei Artikel nebeneinander stehen. In dem einen werden härtere Massnahmen gefordert, um eine weitere Ausbreitung mit Omikron zu verhindern. Im anderen wird eine Studie zitiert, dass Omikron nur durch eine Durchseuchung besiegt werden kann. Zur Beruhigung trägt dies nicht bei.
Auf meinen Bericht und meinen Kommentar habe ich viele Reaktionen erhalten. Positive und negative. Am meisten gefreut hat mich ein Anruf eines mir unbekannten Lesers, der ebenfalls vor Ort war und sich bedankt hat, dass ich das Geschehen objektiv beleuchtet und nicht wie andere einfach die Schlagzeilen gesucht habe. So, wie es sein soll: Offen sein für alles, sich überraschen lassen und berichten, was passiert. Und das werde ich für mich auch in Zukunft beherzigen.