Auf der Flucht geboren

  30.07.2021 Wohlen

Serie «Zwei Welten» mit Sareth Nou

Sareth Nou wurde in einem Flüchtlingslager in Thailand geboren. Danach findet die ganze Familie in der Schweiz einen sicheren Hafen.

Er sieht aus wie ein Kambodschaner, er spricht wie ein Kambodschaner und er mag asiatisches Essen. Viel mehr hat Sareth Nou nicht mehr mit seiner Herkunft am Hut. «Ich bin ein Schweizer, sogar ein wenig ein Bünzli», sagt er. Der Wohler blickt auf eine schwierige Vergangenheit zurück, wo er Gewalt und Diskriminierung erlebte. In der Serie «Zwei Welten» erzählt er seine Geschichte. --red


Von der Vergangenheit geprügelt

Serie «Zwei Welten»: Sareth Nou aus Wohlen ist Schweizer mit Wurzeln in Kambodscha

Seine Geschichte schockiert und berührt gleichzeitig: Sareth Nou wurde in einem Flüchtlingslager in Thailand geboren, erlebte eine schwierige Kindheit und hat mittlerweile mit seiner gewaltreichen Vergangenheit Frieden geschlossen.

Stefan Sprenger

Es war Massenmord am eigenen Volk, wie es ihn zuvor nie gegeben hatte. Der Genozid in Kambodscha durch die Roten Khmer Ende der 70er-Jahre ist ein schreckliches Kapitel der Weltgeschichte. «Meine Eltern haben nur sehr wenig davon erzählt. Ich glaube, sie waren traumatisiert. Ich habe aber viel darüber gelesen», erzählt Sareth Nou mit ruhiger Stimme. Der blutige Herrscher Pol Pot liess politische Säuberungen in Kambodscha durchführen.

Mindestens 1,67 Millionen Opfer

Die Menschen wurden geschunden, erschlagen, zerstückelt. Die Opferzahlen waren enorm, jeder vierte Kambodschaner starb. Sicher sind 1,67 Millionen Opfer, wahrscheinlich waren es zwei Millionen, möglicherweise auch drei. Zurück blieb ein verzweifeltes und gebrochenes Volk. Die Überlebenden mussten Zwangsarbeit verrichten. Alle Kambodschaner, die nicht politisch verfolgt werden, müssen unter strengster Bewachung auf den Reis- und Baumwollfeldern unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Dabei verhungern und verdursten viele, sterben an Krankheiten oder werden von den Aufsehern getötet.

Unter den Zwangsarbeitern sind auch die Eltern von Sareth Nou. «Sie hatten nichts. Meine Eltern lebten nur, um zu überleben.» Anfang der 80er-Jahre flüchten sie. Am 27. Februar 1983 wird Sareth Nou in einem Flüchtlingslager in Thailand geboren. Wenig später werden seine Familie und viele Verwandte in die Schweiz geflogen. «Ich weiss nicht mehr genau, wie viele wir waren. Aber unsere ganze Verwandtschaft mütterlicher Seite fand hier in der Schweiz ein neues und sicheres Zuhause», erklärt der heute 38-Jährige. In Eggenwil in einem Wohnblock verbrachte man die ersten Monate, ehe sich die Verwandtschaft mehrheitlich im Kanton Aargau verstreute. Sareth Nou, seine Eltern und seine Schwester zügelten 1983 oder 1984 nach Wohlen.

«Eingesteckt und ausgeteilt»

Wir spulen 37 Jahre in der Zeit nach vorne. Im Restaurant «Marco Polo» sitzt ein aufgestellter Mann. Sareth Nou lächelt und erzählt, dass er bald seinen 10-jährigen Hochzeitstag mit seiner Frau Maly feiert. Die beiden haben eine 14-jährige Tochter namens Destiny. «Schicksal», auf Deutsch. Der Polygraf, der bei der Richnerstutz AG in Villmergen arbeitet, ist glücklich und zufrieden. «Mein Leben, wie es jetzt ist, passt mir bestens.»

Doch das war nicht immer so. In seiner Kindheit erlebt er Gewalt. Ihm wurde gesagt, dass er geschlagen wird, damit er es einmal besser hat. Sareth Nou sagt dazu: «Meine Eltern haben mir nie richtig Liebe gegeben. Sie haben selbst ebenfalls nie Liebe erfahren. Schon nur der Gedanke, meine Eltern zu umarmen, war für mich befremdlich. Es ist krass und traurig für mich. Aber: Sie haben mir gezeigt, wie es nicht sein darf.» Als 15-Jähriger erlebte er zuletzt Gewalt, dann begann er sich zur Wehr zu setzen. Bereits im Kindergarten erlebt er viele – nennen wir es – Herausforderungen. «Mohrenkopf» wurde er genannt. Nou, als einer von wenigen Ausländern an der Bezirksschule Halde, entwickelt einen Schutzmechanismus, setzt sich verbal zur Wehr. «Ich habe eingesteckt und ausgeteilt», sagt er. Seit er erwachsen ist, erlebt er kaum noch Rassismus. Er sieht das Ganze locker, findet auch, dass die Dubler-Mohrenköpfe weiterhin so heissen sollen.

Mittlerweile hat er sich distanziert von seiner Vergangenheit. Den Kontakt zu den Eltern hat er abgebrochen und eine Therapie gemacht, um die Vorfälle zu verarbeiten. Heute sagt er: «Ich habe Frieden geschlossen mit meiner Vergangenheit.» Dafür musste er sich nicht nur von seinen Eltern, sondern auch von Kambodscha distanzieren. Die Sprache, das Aussehen und vor allem sein Temperament sind das Einzige, was ihn an seine Herkunft erinnert. «Innerlich bin ich ein Schweizer, sogar ein wenig ein Bünzli», sagt er – natürlich in perfektem Schweizerdeutsch.

Nach der Einbürgerung ins Militär

Sareth Nou hat sich als Erster seiner Familie einbürgern lassen. Als 18-Jähriger, aus Eigeninitiative. Sein Testergebnis: hervorragend. Und – was nicht nur die Einbürgerungskommission in Wohlen erstaunte, sondern auch seinen Freundeskreis: Sareth Nou wollte unbedingt die Rekrutenschule machen. Er kam nach der ersten Woche Militär weinend nach Hause, doch er biss durch. «Es war eine tolle Erfahrung. Das Militär hat aus mir einen anderen, besseren Menschen gemacht. Ich bin sehr stolz, dass ich das geschafft habe», erzählt er. So stolz, dass er seine Erkennungsmarke zeigt, als er diese Worte spricht und lachend hinzufügt: «Hier, mein ‹Grabstein›.»

Seine Eltern waren froh, hier in der Schweiz ein neues Leben aufzubauen. In Sicherheit, in Frieden. «Sie hätten es aber nie so gesagt.» Er ist da anders: «Ich liebe die Schweiz und bin dankbar, dass ich hier aufgewachsen bin. Ich bin Schweizer und stolz darauf.» Sareth Nou war noch nie in Kambodscha «Und ich werde wohl auch nie hingehen. Wieso sollte ich?» Ein Besuch seines Herkunftslandes würde vieles aufwühlen. «Ich will mich nicht mit dem Völkermord befassen. Was damals passierte mit den Kambodschanern, war schrecklich, doch für mich soll es ruhen. Ich konzentriere mich auf meine Zukunft hier in der Schweiz, hier in meiner Heimat.» In «seinem Wohlen», wie er es nennt. Denn hier wohnt er nach wie vor, seit bald 37 Jahren. Und er will auch nicht weggehen. «Ich werde vermutlich irgendwann hier sterben. Und das ist gut so.»


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