Die dritte Welle
23.02.2021 WohlenWas hat Corona gemeinsam mit der Spanischen Grippe? Einiges. Die dritte Welle der Spanischen Grippe wird auf die Monate Januar, Februar und März 1919 datiert. Also Winter- und Fasnachtszeit. Wie ging man damals mit der dritten Welle um? Ein Blick ins Archiv zeigt Erstaunliches.
Was hat Corona gemeinsam mit der Spanischen Grippe? Einiges. Die dritte Welle der Spanischen Grippe wird auf die Monate Januar, Februar und März 1919 datiert. Also Winter- und Fasnachtszeit. Wie ging man damals mit der dritten Welle um? Ein Blick ins Archiv zeigt Erstaunliches.
Tanzbelustigung strikte verboten
Die dritte Welle der Spanischen Grippe im Januar bis März 1919 – wie der «Wohler Anzeiger» berichtete
Es war Winter und Fasnachtszeit, als die dritte Welle der Spanischen Grippe die Region erreichte. Ähnlich wie in diesen Wochen. Die Menschen liessen sich damals das kulturelle Leben jedoch nicht nehmen. Und Verbote gab es vor 102 Jahren nur ganz wenige.
Daniel Marti
In Coronazeiten wird immer wieder der Vergleich mit der Spanischen Grippe getätigt. Diese erfasste die Schweiz im Juli und August 1918. Die zweite Welle folgte im Oktober und November 1918, die dritte Welle von Januar bis März 1919. Die Spanische Grippe verursachte in der Schweiz unzählige Opfer. Bei einer Bevölkerungszahl von damals vier Millionen Einwohnern wurden 744 000 Inizierte registriert und 24 500 Tote. Weltweit, so die Schätzung, gab es 50 bis 100 Millionen Todesopfer.
Vor 102 Jahren war hierzulande die dritte Welle aktiv. Die Zeiten waren ähnlich wie heute: Winter, Schnee, Fasnacht, viele Kranke. Wie lebten die Freiämter vor 102 Jahren mit der Epidemie? Wie war diese Region betroffen? Und wie berichtete diese Zeitung darüber? Ein Blick ins Archiv des «Wohler Anzeigers» gibt Aufschluss.
Singen wieder erlaubt, Tanzbelustigungen nicht
In der Ausgabe vom Samstag, 25. Januar 1919, meldet diese Zeitung eine spezielle Veränderung des Lebens. Das Verbot des gemeinschaftlichen Gesangs sei von der Regierung aufgehoben worden, und zwar «in dem Sinne, dass die Gemeinderäte verpflichtet werden, je nach Stand der Grippeepidemie in ihrer Gemeinde das Verbot weiter bestehen zu lassen oder von sich aus zu erlassen.» Einen wichtigen Zusatz betonte die Regierung: «Das Verbot der Abhaltung von Tanzbelustigungen bleibt bestehen.»
Trotzdem, das gesellschaftliche Leben ging zu Beginn des Jahres 1919 einigermassen weiter. Etliche Veranstaltungen wurden durchgeführt. So erzielte das in Fischbach-Göslikon aufgeführte Stück «Heimatlos» einen anerkennenswerten Erfolg. In Nesselnbach war der Saal für die Besucher viel zu klein, als die örtliche Mu-
sikgesellschaft das «Ave Maria» spielte. Und das Konzert von Fräulein Philippi und Professor Emil Fren, das im letzten Oktober durch das damalige Versammlungsverbot verunmöglicht wurde, fand nun laut Zeitung Ende Januar 1919 statt.
Auch die turnerisch-theatralische Aufführung des Turnvereins Boswil wurde am Sonntag, 26. Januar, aufgeführt. Der Cäcilien-Verein Waltenschwil gab ein Konzert in der «Sonne» in Büelisacker am 2. Februar.
FC Wohlen spielte munter im Cup
Und der «Wohler Anzeiger» meldete in der Ausgabe vom Samstag, 1. Februar, Erfreuliches: «Die Grippe geht bei uns im Aargau stark zurück. Die Krankheitsfälle sind in der letzten Berichtsperiode von 549 auf 474 zurückgegangen.» Der Bezirk Bremgarten meldet derweil acht Krankheitsund null Todesfälle. Der Bezirk Muri meldet neun Krankheitsfälle und einen Todesfall. In der gleichen Ausgabe wurde aber auch gemeldet, dass «es der Tod in Wohlen wieder besonders eilig hatte». Eine junge Frau starb krankheitshalber im Alter von 18 Jahren.
Nicht nur die Kultur wurde während der dritten Welle am Leben gelassen, auch der Sport ging problemlos weiter. Der «WA» veröffentlichte eine kurze Vorschau zum FCW: «Der FC Wohlen spielt am Sonntag, 2. Februar, ein Cupspiel auf dem Sportplatz bei der Villmergerstrasse. Gegner ist der FC Sirius Züri.» Wohlen, so steht es geschrieben, «verfügt gegenwärtig über eine der stärksten B-Mannschaften. Das Treffen dürfte deshalb äusserst interessant werden.» Der FCW spielte damals in der nationalen Serie B. Das Resultat fand allerdings in der nächsten Ausgabe keine Aufnahme, dafür der Hinweis, dass die Generalversammlung des Samaritervereins Wohlen ordnungsgemäss im «Sternen» abgehalten werde.
Fasnacht ja, Tanzverbot bleibt
Dann erfolgte eine Trendwende. Hin zum Negativen. In der Ausgabe vom Samstag, 8. Februar 1919, steht geschrieben: «Die Grippe ist in unserem Kanton wieder am Zunehmen begriffen. In der Woche vom 26. Januar bis 1. Februar ist die Zahl der Erkrankungen von 482 auf 562 angestiegen.» Die heimtückische Krankheit habe sich in den Bezirken Kulm, Aarau und Zofingen «wieder ausgebreitet». Der Bezirk Bremgarten meldet sechs neue Fälle, der Bezirk Muri einen neuen Fall.
Weiter wird vermeldet, dass die Grippe in Island «in unheimlicher Weise wütet», mit 600 Toten. Auch in Australien sei die Epidemie ausgebrochen. Und im oberaargauischen Madiswil «liegt das halbe Dorf darnieder». Die Einschleppung sei durch eine Magd erfolgt.
In der Ausgabe vom Samstag, 15. Februar, meldet sich dann auch der Wohler Gemeinderat zu Wort mit einer klaren Massnahme: Laut Entscheid «der Justizdirektion gilt das Tanzverbot auch für die kommende Fasnacht».
Wohlen hatte 4400 Franken Epidemie-Auslagen
Die Auslagen der Gemeinde Wohlen für die Grippeepidemie betragen 4400 Franken. Die Summe werde zur Ausrichtung des Bundesbeitrages angemeldet, so der Gemeinderat. Derweil wurden Mitte Februar die kulturellen Anlässe weiterhin abgehalten: Theater und Konzerte in Bünzen, Boswil, Niederwil, Wohlen, Muri und Sarmenstorf. In Wohlen wurde in dieser Zeit sogar ein Privattanzkurs ausgeschrieben.
Der «Meitlisonndig» in Fahrwangen samt Operette mit 60 Mitwirkenden ging am 23. Februar und 2. März über die Bühne. Wie auch die «Gmeind» in Wohlen in der Pfarrkirche am Samstag, 1. März, 11 Uhr.
Alpaufzug durchs Dorf und originelle Göttigesellschaft
Dann kam die Fasnacht. Die Judengesellschaft Wohlen lud zum grossen kostümierten «Alpaufzug». Die Marschroute führte von der Jurastrasse über die Zentralstrasse ins Oberdorf und zurück zum Sternenplatz. Die Kammergesellschaft lud am gleichen Montagabend ein zum gemütlichen Unterhaltungsabend im Casino.
Am Samstag, 8. März, organisierte die Göttigesellschaft den letzten Event der Fasnacht im Casino. Und im Veranstaltungsinserat wurde sie poetisch. Die Götti meinten: «Hurra, Wohlen ist frei von Grippe. So tönt es von Sippe zu Sippe. Darum laden wir zum altbewährten Feste … Ja, freu di Herz, denn nach so vielen schweren Tagen wollen wir wirklich wieder einmal wagen, lustig und fröhlich sein, wie wir es von jeher finden … So komm und lass dich ein Franken fünfzig nicht reuen, das hoffen die Götti, die Alten, die Treuen.»
Eine Woche nach der Fasnacht wird in Wohlen für die Zeitspanne vom 9. bis 15. März noch ein Grippefall verzeichnet. In der Ausgabe vom Samstag, 22. März, gibt es die Zahlen aus den Bezirken. Bezirk Bremgarten: 25 Fälle. Bezirk Muri: ein Fall. Im Aargau noch 373 Kranke und 10 Todesfälle. «Die Grippe flieht», meldet der Kanton Aargau.