Der Schein kann manchmal trügen
26.02.2021 Wohlen10 höchst subjektive Erkenntnisse der grossen Kundgebung vom Samstag
Wohlen hat am Wochenende für Schlagzeilen gesorgt. Die Bilder der Kundgebung gegen die Coronamassnahmen wurden in allen Medien verbreitet. Und intensiv diskutiert. Was bleibt, sind zehn ...
10 höchst subjektive Erkenntnisse der grossen Kundgebung vom Samstag
Wohlen hat am Wochenende für Schlagzeilen gesorgt. Die Bilder der Kundgebung gegen die Coronamassnahmen wurden in allen Medien verbreitet. Und intensiv diskutiert. Was bleibt, sind zehn interessante und rein persönliche Erkenntnisse.
Chregi Hansen
Inzwischen haben sich die Gemüter wieder beruhigt. Die mehrheitlich auswärtigen Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Kundgebung sind wieder zu Hause, der Sturm in den sozialen Medien ist abgeflaut, Wohlen ist wieder eine Gemeinde unter vielen in der Schweiz. Das Thema Corona bleibt der Schweiz aber erhalten. Der Bundesrat hat am Mittwoch die neuen Massnahmen verkündet, der Ärger darüber ist gross, es wird geflucht und gejammert.
Die Kundgebung vom Samstag sowie die Reaktionen darauf lassen aber interessante Einsichten und Erkenntnisse zu. Vor allem dann, wenn man vier Stunden vor Ort verbracht hat. Nachfolgend eine Auswahl.
1. Menschenmassen zählen ist schwierig
Wie viele Personen nahmen denn teil? Die in den Medien herumgebotenen Zahlen unterscheiden sich massiv, da ist mal die Rede von 1000, mal von 3500. Gezählt hat sie niemand richtig. Ein Redaktionskollege hat es anhand eines Fotos versucht, diese Methode ist äusserst fehleranfällig – aber doch genauer als manche Pimal-Daumen-Schätzung. Die hängen vom subjektiven Blickwinkel ab – die einen haben es gerne etwas grösser, die anderen lieber kleiner. Tatsache ist, dass der Umzug selber imposant lang war und sich auf rund einen Kilometer erstreckte. Tatsache ist aber auch, dass man auf dem Merkur-Areal selber nicht das Gefühl hatte, in einer grossen Menschenmasse zu sein. Und damit sind wir bei Punkt 2 angelangt.
2. Bilder können täuschen
Von der Kundgebung gibt es sehr viele Bilder und Videos. Sie lassen einen gewissen Eindruck zu, wie die Situation vor Ort war. Aber: Bilder sind immer beeinflusst von ihrer Perspektive. Auf einem grossen Bild von oben sieht es aus, als wären die Menschen dicht gedrängt gestanden. Als einer, der vor Ort war, kann ich diesen Eindruck nicht bestätigen. Vorne standen die Menschen Schulter an Schulter, hinten aber nur noch regelkonform in kleineren Gruppen. Das Gleiche gilt für die Diskussion um die Masken. Je nachdem, welche Bilder man wählt, hat es viele Leute mit oder ohne Masken drauf. Vor Ort gab es jedenfalls beides. Und damit kommen wir bereits zu Punkt 3.
3. Einzelne Eindrücke können das Gesamtbild überstrahlen
Was der Mensch sieht, hat auch damit zu tun, was er sehen will. Wer die Bewegung in eine rechtsex treme oder antisemitische Ecke schieben will, der wurde fündig. Es gab tatsächlich ein oder vielleicht zwei entsprechende Plakate. Es gab sicher 200 andere Plakate mit mehr oder weniger originellen, kritischen oder seltsamen Botschaften. Sie alle werden jetzt überstrahlt von dem einen Plakat mit der «Impfen macht frei»-Aussage. Eine Botschaft, die zu verurteilen ist. Aber an der man nicht die ganze Kundgebung aufhängen sollte. Aber da spielt eben Punkt 4 hinein.
4. Der Mensch sieht gerne seine Vorurteile bestätigt
Die Kundgebung hat schon im Vorfeld für Diskussionen gesorgt. Viele hatten ein klares Bild, was für Menschen sich in dieser Bewegung engagieren. Und der Mensch sieht sich eben gerne bestätigt. Darum achtet er vor allem darauf. Da reicht dann ein Plakat, um eine ganze Bewegung in ein schiefes Licht zu bringen. Oder man sieht nur die Menschen ohne Masken. Umgekehrt haben die Teilnehmer der Kundgebung jede Ansprache frenetisch beklatscht, obwohl da zum Teil sehr komische Dinge erzählt wurden. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema war auf beiden Seiten Fehlanzeige. Aber das hat auch mit Punkt 5 zu tun.
5. Wir leben in einem Zeitalter der Empörung
Natürlich: Empört haben sich die Menschen schon früher über das Verhalten anderer. Wer sich anders verhält als man selber, der wird oft als Gefahr gesehen. Früher ist man dann zu Hause oder am Stammtisch über andere hergezogen. Heute kann man seine Empörung über die sozialen Medien weit verbreiten. Und kann sich sicher sein, dass man auf jemanden trifft, der einen in seinen Ansichten bestätigt. Man darf über andere herziehen – und erhält sogar Applaus. Für viele ist das zu einem Lebensinhalt geworden. Gerade auch in Zeiten, in denen der Stammtisch wegen geschlossener Beizen fehlt. Und von der Empörung ist es nicht mehr weit zu Punkt 6, zur Provokation.
6. Provokationen sorgen für die nötige Aufmerksamkeit
Die Politik macht es seit Jahren vor. Mit Provozieren kommt man weiter als mit sachlicher Diskussion. Und das färbt ab. Auch darum läuft man mit einem «Impfen macht frei»-Plakat herum. Auch darum ruft man demonstrativ zum Umarmen auf. Oder stürmt ohne Masken die Läden. Da schadet sich die Bewegung selber. Aber auch die Gegenseite ist nicht zimperlich. Die Kritiker der Coronamassnahmen werden pauschal als hirnlose Wesen betitelt, lausbubenhaft werden Unterlagen geklaut und dies noch gefeiert. Beide Seiten sehen sich im Recht. Und keine macht einen Schritt auf die andere zu. In solchen Situationen das Richtige tun, ist nicht immer einfach. Auch nicht für Lehrer. Und damit zu Punkt 7.
7. Lehrer sind keine normalen Menschen
Ganz stark in die Kritik geriet Markus Häni. Der Wohler Kantilehrer engagiert sich schon länger gegen die Massnahmen. Nun wird er dafür frontal angegriffen. Darf ein Lehrer sich öffentlich kritisch zum Staat äussern? Ist so ein Lehrer tragbar? Dabei stellt sich doch die Frage: Warum sollte sich ein Lehrer nicht öffentlich äussern dürfen? Ist er kein Staatsbürger mehr? Es gibt viele Lehrer, die sich politisch engagieren, und das ist richtig so. Auch ein Bauer darf seine Meinung sagen, obwohl er den Grossteil seines Lohnes vom Staat erhält. Solange Markus Häni in seinen Lektionen gute Arbeit leistet – und davon ist auszugehen –, sollte ihm niemand den Mund verbieten. Und warum darf ein Wohler Kantilehrer nicht, was ein Walliser Regierungsrat darf? Damit wären wir bei Punkt 8.
8. Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht immer das Gleiche
Häni hat sich am Samstag sehr kritisch zu den Coronamassnahmen geäussert und den Bundesrat, allen voran Alain Berset, angegangen. Der Walliser Regierungsrat Christophe Darbellay hat das am gleichen Tag auch getan, er nannte die Schweiz sogar eine «Bananenrepublik» und kündigte öffentlich an, sich über die Anweisungen aus Bern hinwegzusetzen. Eine Bundesratspartei bezeichnet Bundesrat Berset gar als «Diktator». Man darf also die Politik und auch die Massnahmen kritisieren – aber nicht, wenn man Kantilehrer ist. Dann hat man zu schweigen. Genau wie die Polizisten. Und damit sind wir schon bei Punkt 9.
9. Die Polizei kann es nie allen recht machen
Nicht nur Häni wurde am Samstag kritisiert, auch die Polizei bekam ihr Fett weg. Dass sie die Maskenpflicht nicht durchgesetzt habe, das sei das Allerletzte. Ein Skandal. Lieber stoppe man den Verkehr und verteile Bussen. Dabei hat die Polizei genau das getan, was sie eigentlich immer tut in solchen Situationen. Abwägen, die Lage einschätzen, die Verhältnismässigkeit wahren, Konfrontation vermeiden, mit Augenmass vorgehen. Und dafür sorgen, dass möglichst nichts passiert. Und sie hat das bei aller Kritik gut getan. Diese hat viele Polizisten stark geärgert. Nur darüber reden dürfen die Polizisten nicht. Auch nicht darüber, wie undiszipliniert sich teilweise Autofahrer verhalten. Und damit wären wir beim letzten Punkt.
10. Das Wohler Zentrum gehört den Autos
Diese Erkenntnis ist nicht neu und hat auch nichts mit der Kundgebung zu tun, wurde durch sie aber nochmals offensichtlicher. Der Marsch durch das Zentrum war nur für die Autofahrer ein Problem. Zuschauer gab es hingegen fast keine, denn im Zentrum waren kaum Passanten zu Fuss unterwegs. Die Trottoirs leer, die Strassen voll, so präsentiert sich das Wohler Zentrum an einem Samstagnachmittag. Das ist weder attraktiv noch lebenswert. Aber auch diese Erkenntnis ist wie die neun vorhergehenden nicht ganz neu. Die Kundgebung ist Geschichte. Die Zentrumsplanung wird uns hingegen noch länger beschäftigen.