«Ein historisches Ereignis»
29.01.2021 WohlenAndreas Zünd – ein Freiämter an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewählt
Von Niederwil und Wohlen aus startete er seine Karriere. Nun ist Andreas Zünd der höchste und mächtigste Schweizer ...
Andreas Zünd – ein Freiämter an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewählt
Von Niederwil und Wohlen aus startete er seine Karriere. Nun ist Andreas Zünd der höchste und mächtigste Schweizer Richter.
Daniel Marti
Vom Freiamt aus über das Bundesgericht in Lausanne ins höchste Richteramt in Europa. Dies ist der steile und spezielle Weg von Andreas Zünd. Der Bundesrichter mit Freiämter Wurzeln wurde am vergangenen Dienstagabend als Schweizer Richter an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gewählt. «Ein historisches Ereignis», findet der Wohler Alt-Oberrichter Ruedi Bürgi, der die Bedeutung dieser Berufung sehr gut einordnen kann. Jeder der 47 Mitgliedstaaten kann nur einen Richter stellen.
Andreas Zünd hat im Freiamt etliche Spuren hinterlassen. Er ist in Niederwil aufgewachsen. Sein Vater war jahrzehntelang Lehrer in Niederwil. Heute wohnt Andreas Zünd in Oberwil-Lieli. Bestens bekannt ist Zünd in Wohlen, in der grössten Freiämter Gemeinde besuchte er die Bezirksschule. Im Alter von 28 Jahren schaffte der Jurist für die SP Wohlen den Sprung in den Einwohnerrat. Vom letzten Listenplatz 12 aus wurde er gewählt. In der Verwaltung der Genossenschaft Dorf kern Wohlen war er viereinhalb Jahre lang engagiert und setzte sich vor allem für alte Bauten ein. Der historische «Sternen», damals vom Abbruch bedroht, lag ihm besonders am Herzen. Wenn heute Zünd am «Sternen» vorbeifährt, denkt er immer gerne an seine aufregende Zeit in Wohlen. «Wohlen ist für mich mit Erinnerungen aus der Schulzeit verbunden, mit meinen ersten juristischen Tätigkeiten in einem Wohler Anwaltsbüro, und dem Engagement in der Wohler Gemeindepolitik», sagt der wohl mächtigste Schweizer Richter, der im Februar 64 Jahre alt wird.
Der Höhepunkt der Karriere
Bundesrichter Andreas Zünd: Mit Freiämter Wurzeln an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg
Er ist in Niederwil aufgewachsen, ging in Wohlen in die Bezirksschule und hat dann im Einwohnerrat Wohlen in der Politik mitgewirkt. Nun ist Andreas Zünd ins prestigeträchtigste Richteramt gewählt worden. Mit Freiämter Wurzeln führte sein Weg über das Bundesgericht bis nach Strassburg.
Daniel Marti
Das Freiamt war so etwas wie eine Startrampe für Andreas Zünd. Hier erlebte er seine Schulzeit. Erst in Niederwil, dann an der Bez in Wohlen. Und im Einwohnerrat schaffte er den Einstieg in die Politik. Der berufliche Werdegang verdrängte dann rasch eine mögliche Polit-Karriere. Obergericht in Aarau, Bundesgericht in Lausanne und nun Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg – so lautete der Steigerungslauf.
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates wählte Bundesrichter Andreas Zünd als Schweizer Richter für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. Bundesrichter Zünd tritt damit die Nachfolge der Schweizer Richterin Helen Keller an. Seine Zahl: Die Entscheidung des Europarates fiel mit 167 Stimmen (absolutes Mehr bei 140) recht deutlich aus.
«Das ist schon ein Höhepunkt»
Ein Topereignis – auch aus Freiämter Sicht. Wird doch die Wahl an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oft als der Höhepunkt einer Richterlaufbahn deklariert. Ist das tatsächlich so? «Ich habe während meiner Tätigkeit in der Schweizer Justiz für zentral erachtet, dass die Menschen in ihren Rechten ernst genommen werden», erklärt Andreas Zünd auf Anfrage. «Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist dazu da, dies den Menschen in ganz Europa zu garantieren. Daran mitwirken zu dürfen, ist für mich schon ein Höhepunkt.»
In Presseberichten ist sogar vom «mächtigsten Richter des Landes» die Rede. «Für die Schweiz sind Bundesrichterinnen und Bundesrichter mächtiger, denn sie setzen das gesamte schweizerische Recht um», relativiert er. Allerdings könne der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Urteile des Bundesgerichts «darauf überprüfen, ob sie menschenrechtliche Garantien verletzen. Ist dies der Fall, so muss das Bundesgericht sein Urteil revidieren.» Das ist selten der Fall – im Jahr 2019 laut Zünd in rund zwei Prozent der vor den Gerichtshof für Menschenrechte gebrachten Fälle.
Auch deshalb ist seine Zielsetzung für sein Wirken in Strassburg klar. Er verfolge keine anderen Ziele, «als den menschenrechtlichen Garantien in jedem einzelnen Fall zum Durchbruch zu verhelfen», betont er. «In einigen Ländern bestehen diesbezüglich grössere strukturelle Probleme. Es geht aber auch für Länder wie die Schweiz darum, jedem einzelnen Fall gerecht zu werden.»
Kämpferherz auf «rechter» Seite, ziemlich stark links
In jungen Jahren war Wohlen für Andreas Zünd zentral. Damals war die grösste Freiämter Gemeinde auch Fixpunkt seiner Wegbegleiter. Zwei dieser Weggefährten stammen aus juristischen Kreisen: Jugendanwalt Hans Melliger und der ehemalige Oberrichter Ruedi Bürgi.
Ruedi Bürgi spricht bei der Wahl von Zünd sogar von einem «historischen Ereignis mit grosser Bedeutung für das Freiamt» (siehe Gastbeitrag unten). Er habe Andreas Zünd aus früheren Zeiten, nämlich aus Studiumsund Gerichtsschreiber-Zeiten, noch in Erinnerung, sagt Hans Melliger, Leiter Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau. «Mich faszinierte und beeindruckte schon damals seine bescheidene, zurückhaltende und gescheite Art. Er stellte sein enormes Fachwissen dabei immer konsequent unter seinen eigenen Scheffel. Natürlich trug er sein menschen- und umweltfreundliches sozialdemokratisches Kämpferherz auf der ‹rechten› Seite, also ziemlich stark links.»
Hans Melliger, wohnhaft in Sarmenstorf, ist sich sicher, «dass diese besonderen Eindrücke heute immer noch Bestand haben». Trotzdem habe er sich fest vorgenommen, die Richtigkeit demnächst persönlich bei Andreas Zünd zu überprüfen – «am besten vor Ort in Strassburg».
Je ein Richter aus 47 Mitgliedstaaten
Bundesrichter Andreas Zünd ist nach Antoine Favre erst der zweite Bundesrichter, der in dieses Amt am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewählt wurde. Favre war als erster Schweizer Richter am (EGMR) tätig, und zwar von 1963 bis 1974. Die weiteren Mitglieder waren ausschliesslich Professorinnen oder Professoren.
Bundesrichter Zünd ist die sechste Richterperson für die Schweiz am EGMR. Zünd trat sein Amt als Bundesrichter 2004 an. Er gehörte zunächst fünf Jahre der Strafrechtlichen Abteilung an. Seit 2009 ist er Mitglied der Zweiten öffentlich-rechtlichen Abteilung, die er von 2010 bis 2016 präsidierte.
Der EGMR überwacht die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die Mitgliedstaaten und entscheidet über Beschwerden wegen Verletzungen der Konvention. Er setzt sich aus je einer Richterin oder einem Richter aus jedem der 47 Mitgliedstaaten zusammen. Die Amtszeit der Richter beträgt neun Jahre ohne die Möglichkeit einer Wiederwahl. Sie endet auf jeden Fall nach Vollendung des 70. Altersjahrs – Zünd wird im Februar 64 Jahre alt. – Zur Person Andreas Zünd: 1984 Aargauisches Fürsprecherpatent. Doktorat 1986. Von 1986 bis 1987 Gerichtsschreiber am Obergericht des Kantons Aargau. Von 1987 bis 1996 Gerichtssekretär und Gerichtsschreiber am Bundesgericht. Von 1989 bis 2002 Ersatzrichter am Obergericht des Kantons Aargau. Ab 1996 nebenamtlicher Bundesrichter. Ab 2002 Oberrichter des Kantons Aargau. Wahl zum Bundesrichter am 17. Dezember 2003. Nun die Wahl an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. --dm
Einer von uns als Hüter über die Menschenrechte
Gastbeitrag von Ruedi Bürgi, Alt-Oberrichter, zur Richterwahl von Andreas Zünd
Die Wahl von Andreas Zünd an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wie alle 47 Mitgliedstaaten, welche die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben haben, darf auch die Schweiz jeweils ein Mitglied des Gerichts stellen. Diese riesige Ehre und Verantwortung kommt nun unserem Freiämter Andreas Zünd zu, der die Nachfolge der Zürcher Rechtsprofessorin Helen Keller antritt.
Menschenrechte sind Grundwerte des Lebens, die jedem Menschen in gleicher Weise zustehen. Dazu gehören unter vielen andern das Recht auf Leben, die Meinungsäusserungsfreiheit, die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, das Recht auf ein faires Verfahren, das Folterverbot oder das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Strafen. Ihre Gewährleistung und die durch den Wandel der Lebensumstände und der Gesellschaft dauernd notwendige Weiterentwicklung stellt die ebenso vornehme wie äusserst anforderungsreiche Aufgabe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dar.
Jeder der 830 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der 47 Mitgliedstaaten sowie die Staaten selbst haben Gelegenheit, den Europäischen Gerichtshof zur Prüfung, ob die Menschenrechte verletzt wurden, anzurufen. Ist dies der Fall, haben die Staaten diese Urteile zu vollziehen und sind je nachdem auch angehalten, ihre Gesetze zu ändern. Der Einfluss des Gerichts zur Wahrung der Menschenrechte ist also enorm.
Andreas Zünd ist einer von uns
Im Freiamt aufgewachsen, politisch schon früh unter anderem im Wohler Einwohnerrat aktiv, Handballer im TV Niederwil, verheiratet mit einer Wohlerin, ist ihm von Wohlen aus nach seiner Ausbildung inklusive Erlangung der Doktorwürde und des Anwaltspatents seit Mitte der Achtzigerjahre Schritt für Schritt eine juristische Bilderbuchkarriere mit Tätigkeiten in der aargauischen Verwaltung (Adjunkt des Staatsschreibers) und Advokatur, am Obergericht des Kantons Aargau und am Bundesgericht als Gerichtsschreiber, als Oberrichter in unserem Kanton (2002–2004) und seit 2004 als Bundesrichter geglückt.
Andreas Zünd sucht in der Bearbeitung der Fälle und den Beratungen jederzeit nach dem Kern des Problems und klärt danach die sachverhaltlichen und juristischen Fragen vorbehaltlos ohne Ansehen der Personen und in strikter Anwendung von Recht und Gesetz, ohne dabei den Blick auf die Menschlichkeit und die Gerechtigkeit zu verlieren. Diese so vorbildliche offene Auseinandersetzung machte ihn zu einem Richter mit äusserst hoher Kompetenz und allseitiger uneingeschränkter Anerkennung. Dies war in der gemeinsamen Zeit am Obergericht so und ist es heute noch.
Historisches Ereignis für das Freiamt
Die Wahl in den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist von grosser Bedeutung für die Schweiz und für das Freiamt als seine Herkunft ein historisches Ereignis. Noch mehr ist es jedoch eine eindrückliche Bestätigung für Andreas Zünd als Mensch und Jurist, der mit seiner strengen analytischen Denkweise, seinen intellektuellen Fähigkeiten, seiner über Jahrzehnte gesammelten riesigen Erfahrung als Richter und seiner immer menschlich und natürlich gebliebenen Art diese einzigartige Ernennung hoch verdient hat und sich auch an seiner neuen Arbeitsstätte in Strassburg einen Namen als hervorragender Richter und als umgänglicher und auf dem Boden gebliebener Mensch machen wird. Eben einer von uns.
Ruedi Bürgi, Oberrichter im Ruhestand, Wohlen