«Würde einiges anders machen»
29.12.2020 Region BremgartenDas Coronavirus fordert die Freiämterin Yvonne Hummel als Kantonsärztin ganz speziell
Seit Februar ist Yvonne Hummel Kantonsärztin im Aargau. Seit März beschäftigt sie sich quasi nur noch mit dem Coronavirus. Sie spricht von einer herausfordernden ...
Das Coronavirus fordert die Freiämterin Yvonne Hummel als Kantonsärztin ganz speziell
Seit Februar ist Yvonne Hummel Kantonsärztin im Aargau. Seit März beschäftigt sie sich quasi nur noch mit dem Coronavirus. Sie spricht von einer herausfordernden Zeit, zieht aber trotzdem eine positive erste Bilanz.
Annemarie Keusch
Sich auf die Coronakrise vorbereiten war schwierig, vor allem in der ersten Welle. Und erst recht, weil Yvonne Hummel gar keine Vorlaufzeit hatte. Im Februar startete sie als Aargauer Kantonsärztin. «Ich hege schon lange eine Leidenschaft für organisatorische und gesundheitspolitische Themen.» Als Ärztin – unter anderem in der Gruppenpraxis in Sins – habe sie in der Praxis viel mit Kranken- und Unfallversicherungen zu tun gehabt. Das weckte ihr Interesse. «Ich habe deshalb eine Weiterbildung in Versicherungsmedizin absolviert.» Nach über fünf Jahren bei einer Krankenversicherung als Leiterin des vertrauensärztlichen Dienstes bewarb sie sich als Kantonsärztin.
Struber hätte ihr Einstand nicht sein können. Schon viele unangenehme und schwierige Entscheide hatte Hummel – unter anderem auch mit dem Wohler Regierungsrat und Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati – zu fällen. «Vor solchen Entscheiden scheue ich nicht zurück», sagt sie selbstbewusst.
Nachvollziehbarer Weg
Und trotzdem sagt die 51-Jährige: «Ja, ich würde einiges anders machen.» Sie würde etwa versuchen, mehr Zeit für Vorbereitungsarbeiten aufzuwenden. «Aber das ist einfacher gesagt, als getan.» Sobald sich die Lage etwas lockert, richte sich der Fokus sofort auf andere Themen. Zudem müssen liegengebliebene Dossiers aufgearbeitet werden. Anders entscheiden, was die Massnahmen im Aargau betrifft, würde sie hingegen nicht. «Ich bin der Meinung, dass wir bisher einen Weg beschritten haben, der nachvollziehbar ist», sagt sie. Erst im Nachgang werde sich zeigen, ob diese Entscheide richtig waren.
«Müssen uns sozial einschränken»
Das Jahr 2020 wird als Coronajahr in Erinnerung bleiben – auch bei Kantonsärztin Yvonne Hummel aus Sins
Seit Februar ist Yvonne Hummel Aargauer Kantonsärztin. Sie hat intensive Wochen und Monate hinter sich. Das Coronavirus und seine Folgen beschäftigen sie und ihr Team tagtäglich. Und die kantonalen Entscheide lösen immer wieder Diskussionen und Kritik aus. «Gefällte Entscheide sind immer überlegt und abgewogen», sagt sie.
Annemarie Keusch
Wie gehen Sie damit um, dass jeder Entscheid nicht nur Wohlwollen, sondern auch teils massive Kritik auslöst?
Yvonne Hummel: Wer eine Behördenfunktion innehat, muss in seinem Zuständigkeitsbereich Entscheide fällen. Dabei versuche ich, alle Aspekte zu berücksichtigen und in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Die Entscheide fälle ich nach bestem Wissen und Gewissen. Dass mit den Entscheiden nicht alle einverstanden sind, ist selbstverständlich. Man kann es nicht allen recht machen. Das ist schlicht unmöglich. Grundsätzlich wünsche ich mir eine faire und differenzierte Beurteilung. In der ersten wie auch in der zweiten Welle gab und gibt es Phasen mit aufgeheizter Stimmung. Ich kann gut nachvollziehen, dass die Leute Angst haben – vor der Krankheit und vor den wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Dass das zu emotionalen Äusserungen führt, ist verständlich.
Was macht das mit Ihnen?
Die Kritik nehme ich ernst. Diese ist hilfreich, um zukünftig alle Aspekte noch besser abzuwägen. Gefällte Entscheide sind überlegt und abgewogen. Es ist wichtig, auch schwierige Entscheide fällen zu können. Dabei nehme ich Kritik in Kauf.
Als ehemalige Vertrauensärztin kennen Sie es, zwischen zwei Parteien zu stehen, die völlig unterschiedliche Ansichten haben.
Genau. In einem Spannungsfeld mit diversen Interessen zu stehen, ist für mich eine bekannte Rolle. Dabei zu versuchen, faire Lösungen zu finden, aber auch einmal harte Entscheide zu fällen, gehört dazu. Schwierige Situationen gab es auch in meiner Funktion als Vertrauensärztin. Eine häufige Aufgabe war zu entscheiden, ob die Krankenversicherung die Kosten für sehr teure Therapien, etwa für eine Krebsbehandlung, übernehmen soll. Dabei ist wichtig, dass die Beurteilungskriterien klar sind und man nicht aus dem Bauch heraus entscheidet.
Inwiefern helfen Ihnen diese Erfahrungen im jetzigen Alltag?
Erfahrung im klinischen Bereich ist eine wichtige Voraussetzung, um eine gute Zusammenarbeit mit den ärztlichen Kolleginnen und Kollegen sicherzustellen. Im Rahmen der Tätigkeit als Leiterin des vertrauensärzt lichen Dienstes einer Krankenversicherung konnte ich Führungserfahrung sammeln. Neben den medizinischen Aspekten standen vor allem organisatorische und prozessuale Themen im Vordergrund. In der aktuellen Coronakrise konnte ich auf diese Erfahrung zurückgreifen.
Wie sähe es ohne die Pandemie aus?
Das kann ich nicht genau abschätzen. Seit Beginn meiner Tätigkeit steht die Pandemie im Zentrum meiner Aufgaben. Wahrscheinlich wäre mein Alltag deutlich ruhiger.
Überhaupt, ohne Pandemie sähe Ihr Beruf ganz anders aus und nicht fast jeder Aargauer würde Ihren Namen kennen.
Das stimmt. Die Bewältigung der Pandemie ist eine grosse Herausforderung. Ich fühle mich dabei aber privilegiert, in dieser Situation einen persönlichen Beitrag zur Krisenbewältigung zu leisten. Das Rampenlicht habe ich nicht gesucht. In der aktuellen Situation ist eine mediale Präsenz jedoch oft notwendig.
Wie sieht Ihr Alltag aktuell aus?
Mein Tag startet spätestens um 7 Uhr morgens. Es finden täglich Abspracherapporte oder Telefonkonferenzen, etwa im Corona-Stab innerhalb des Departements oder des Koordinations- und Steuerungsausschusses des Regierungsrates statt. In regelmässigen Telefonkonferenzen mit dem BAG besprechen wir die aktuellen Entwicklungen und stimmen das Vorgehen ab. Auch das Contact-Tracing-Center beschäftigt mich täglich. Dort sind immer wieder Anpassungen notwendig.
Sie sprechen die Zusammenarbeit mit dem Bund an. Wie schätzen Sie diese ein?
Ein- bis zweimal wöchentlich finden zwischen den Kantonsärztinnen und Kantonsärzten Telefonkonferenzen mit dem Bundesamt für Gesundheit statt. Der Austausch ist sehr gut. Die Zusammenarbeit wurde im Vergleich zur ersten Welle verbessert. Die Aufgaben zwischen BAG und Kantonsärzten wurden besser aufgeteilt, so dass die Zusammenarbeit nun effizienter ist.
Wie erleben Sie die Zusammenarbeit auf kantonaler Basis?
Aus den Erfahrungen der ersten Welle haben wir entsprechende Lehren gezogen. Wichtig ist der Einbezug aller Departemente wie auch der Gemeinden. Dazu wurden entsprechende Gremien geschaffen. So kann der Informationsfluss zu den Gemeinden und anderen Departementen verbessert werden. Die Koordination innerhalb des Departements wird im Corona-Stab sichergestellt. Zudem wurde ein Koordinations- und Steuerungsausschuss des Regierungsrates gebildet, damit ein schneller interdepartementaler Austausch bei dringenden Themen möglich ist.
Gerade während der zweiten Welle hat der Aargau lange damit zugewartet, die Massnahmen zu verschärfen. War das im Nachhinein der richtige Entscheid?
Ergriffene Massnahmen haben immer Auswirkungen auf die Bevölkerung. Diese Auswirkungen können sehr einschneidend sein. Massnahmen müssen diverse Interessen ausgewogen berücksichtigen, verhältnismässig und risiko- und nutzenbasiert sein. Bei tiefen Fallzahlen sind einschneidende Massnahmen kaum rechtfertigbar. Nur dort, wo ein hohes Ansteckungsrisiko bestand, konnten Massnahmen wirksam sein. Wo ein hohes Ansteckungsrisiko identiiziert werden konnte, haben wir Massnahmen ergriffen. Ebenso werden Schutzkonzept- und vor Ort-Prüfungen an Arbeitsplätzen durchgeführt, an den es zu vielen Ansteckungen gekommen ist. Damit konnten weitere Ansteckungen verhindert werden. Für eine Beurteilung der getroffenen Entscheide und deren Auswirkungen ist es noch zu früh. Entscheide werden auf Grundlage der zum jeweiligen Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Informationen getroffen. Entsprechende Interessen werden jeweils gut gegeneinander abgewogen. Im Nachgang wird sich zeigen, ob die Entscheide richtig waren.
Warum kam der Sinneswandel und der Entscheid, härtere Massnahmen einzuführen, als dies der Bundesrat tat?
Von Mitte November bis zum 7. Dezember konnten im Kanton Aargau stabile Fallzahlen beobachtet werden. Die Lage schien sich einzupendeln. Die Lage im Gesundheitswesen war zwar angespannt, aber gemäss Rückmeldungen bezüglich der Kapazitäten drohte unmittelbar keine Überlastung, aber es stellte sich schon damals die Frage der Durchhaltefähigkeit der Spitäler. Seither begannen die Fallzahlen im Aargau wieder zu steigen, und die Situation in den Spitälern verschärfte sich zusätzlich durch personelle Ausfälle infolge Erkrankung oder Ermüdung. Die steigenden Fallzahlen, die Zunahme der schwer erkrankten Patienten auf den Intensivpflegestationen sowie die fehlenden Personalressourcen beim Gesundheitspersonal stellten eine neue Ausgangslage dar.
Was heisst das zum Beispiel?
Es hätte dazu führen können, dass nicht mehr alle Patienten medizinisch versorgt werden können. Möglicherweise wäre für Patienten mit einem Autounfall oder Herzinfarkt kein freies Intensivpflegebett mehr vorhanden gewesen. Um die drohende Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern, mussten einschneidende Massnahmen ergriffen werden. Der Bundesrat hat am 18. Dezember nur einen Teil der aus unserer Sicht notwendigen Massnahmen entschieden. Deshalb hat der Regierungsrat gleichentags zur Verhinderung der Überlastung des Gesundheitswesens mit der Schliessung der Einkaufsläden und Märkte weiterführende Massnahmen ergriffen.
Wie stufen Sie die aktuelle Lage im Kanton Aargau ein?
Die Situation der drohenden Überlastung im Gesundheitswesen besteht weiterhin. Wir müssen nun die Wirkung der Massnahmen abwarten. Eine Verbesserung der Fallzahlen und dann um ein bis zwei Wochen verzögert eine Reduktion der Hospitalisationen ist frühestens Anfang Januar zu erwarten. Wir müssen den Verlauf abwarten und je nach Situation das weitere Vorgehen definieren.
Wer entscheidet überhaupt, welche Massnahmen im Aargau getroffen werden?
Aufgrund der gesetzlichen Vorgaben liegt die Zuständigkeit formal beim mir als Kantonsärztin. Aber natürlich werden alle Entscheide mit Auswirkungen auf einen grossen Teil der Bevölkerung innerhalb der Gremien des Krisenmanagements besprochen und entschieden. Dazu gehören unter anderem der Corona-Stab des Departementes für Gesundheit und Soziales, der Koordinations- und Steuerungsausschuss des Regierungsrats sowie auch der Gesamtregierungsrat. Zudem pflegen wir einen regelmässigen Austausch mit unseren Partnern. Aus Zeitgründen können aber nicht immer alle vor jedem Entscheid angehört werden.
Wie schätzen Sie die Zusammenarbeit mit dem Regierungsrat ein?
Die Zusammenarbeit mit dem Regierungsrat funktioniert sehr gut. Es findet ein regelmässiger Austausch statt. Die Lage und die möglichen Massnahmen werden diskutiert. Dabei werden immer Lösungen zum Wohl der Aargauer Bevölkerung gesucht, auch wenn das einmal Einschränkungen bedeutet. Zudem funktioniert die Konkordanz. Ist ein Entscheid gefällt, stehen alle hinter ihm. Das ist wichtig für die Akzeptanz.
Wagen Sie eine Prognose, wie es mit der Pandemie weitergeht?
Eine Prognose ist schwierig. In erster Linie gilt es nun die Fallzahlen zu senken. Dazu müssen wir uns sozial einschränken. Weiter konzentriert sich der Kanton darauf, die Impfung für die Bevölkerung rasch und sicher zugänglich zu machen. Wir gehen davon aus, dass die Impfung, schwere Verläufe bei einer Infektion mit dem Coronavirus verhindern kann und somit weniger Todesfälle eintreten. Ob die Impfung auch vor Ansteckung schützen wird, wissen wir noch nicht.
Was heisst das?
Vorerst bleiben alle bisherigen Massnahmen weiterhin zwingend notwendig – Abstands- und Hygieneregeln, Isolations- und Quarantänemassnahmen müssen weiterhin eingehalten werden. Es ist möglich, dass es auch weiterhin Wellenbewegungen gibt, etwa eine dritte Welle. Wir müssen den weiteren Verlauf beobachten. Je nach Ergebnis sowie neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen können die weiteren Schritte geplant werden.
Das heisst, Schutzmassnahmen werden uns noch längere Zeit begleiten.
Ja. Hygiene- und Abstandsregeln werden uns noch lange begleiten. Ebenso werden Quarantäne- und Isolationsmassnahmen vorerst notwendig bleiben.
Optimistisch tönt das nicht, dass irgendeinmal alles wieder so sein wird, wie es vor der Pandemie war.
Welche Veränderungen aufgrund dieser Pandemie bestehen bleiben, weiss ich nicht. Einschneidende Ereignisse hinterlassen meistens Spuren. Ob und wann unbeschwerte Umarmungen zur Begrüssung wieder möglich sind, weiss niemand.
Grossveranstaltungen sind also voraussichtlich noch länger kein Thema?
Ja, es wird wohl Frühling werden, bevor Grossveranstaltungen wieder Thema sind. Aber auch hier sind Prognosen schwierig. Mit Schutzkonzepten und Schnelltest ergeben sich vielleicht neue Möglichkeiten.
Welches Fazit ziehen Sie nach gut neun Monaten als Kantonsärztin?
Der Job als Kantonsärztin gefällt mir sehr gut. Ich ziehe bisher trotz der Herausforderungen der Coronakrise ein positives Fazit. Nicht zuletzt dank der engagierten Mitarbeitenden und Unterstützern, die überall kräftig anpacken – in den Spitälern, in den Arztpraxen, in den Heimen, im Bevölkerungsschutz, im Contact Tracing oder in der Verwaltung, um nur einige zu nennen.
Persönlich
Yvonne Hummel ist in Dulliken aufgewachsen. Nach der Kantonsschule in Olten studierte sie in Basel Medizin und absolvierte die Ausbildung als Fachärztin Innere Medizin und Medizinische Onkologie. Ihre Ausbildung startete sie im Spital Muri, dadurch lernte sie das Freiamt kennen. Mehrheitlich war sie beruflich dann aber im Kanton Zürich tätig, bevor sie nach Sins kam und dort die Gruppenpraxis mitbetrieb. Nach einer Weiterbildung wechselte sie als Vertrauensärztin zu einer Krankenversicherung, wo sie den vertrauensärztlichen Dienst leitete. Seit Februar ist Yvonne Hummel Aargauer Kantonsärztin.
Seit 2009 lebt sie mit ihrem Mann und vier Katzen in Sins. In der Freizeit bewegt sie sich gerne im Freiamt, ob auf dem Velo oder wandernd. --ake