Offenheit und Akzeptanz für Neues
28.04.2020 HägglingenMit einer halbherzigen Zusage für ein Praktikum und einem Plan B reiste Aline Geissmann los. Sie wollte ihr Arabisch verbessern, die Kultur im Land kennenlernen und «einfach etwas Neues machen». Ihre Reise führte sie nach Israel, Palästina und Jordanien. Fast ...
Mit einer halbherzigen Zusage für ein Praktikum und einem Plan B reiste Aline Geissmann los. Sie wollte ihr Arabisch verbessern, die Kultur im Land kennenlernen und «einfach etwas Neues machen». Ihre Reise führte sie nach Israel, Palästina und Jordanien. Fast fünf Monate absolvierte sie zwei Praktika in Jordanien. Aber ist das nicht gefährlich, als junge Frau in einem patriarchalischen Land zu reisen? Absolut nicht, versichert die Hägglingerin. Man merkt zwar schon, dass es mehr Männer auf den Strassen gibt. Aber als Touristin passiert einem nichts, solange man die Kultur respektiert.
Offenheit und Akzeptanz für Neues
Aline Geissmann tauscht die grüne Heimat gegen sandige Weiten
Ein halbes Jahr verbrachte die 23-jährige Aline Geissmann im Nahen Osten, wo sie sich während ihrer Dienste für verschiedene Hilfsorganisationen in die arabische Sprache und die dortige Kultur vertiefte. Mit einem Rucksack voll Erfahrungen blickt sie auf ihr Abenteuer zurück.
Celeste Blanc
«Unsere grüne und farbenfrohe Natur sah ich immer als Ideal an. Doch seit ich die Weiten der jordanischen Wüste kenne, hat sich das verändert», lacht Aline Geissmann. Die atemberaubende sandige Landschaft berührte sie: «Dort habe ich Frieden gefunden.»
Wenn die Studentin aus Hägglingen über ihre Reise spricht, gerät sie ins Schwärmen. Anfang Juli 2019 bereiste sie zuerst Israel, Palästina und Jordanien, von Mitte August bis Ende Dezember arbeitete sie in zwei Praktika in Jordanien. Doch sie spricht auch besonnen, denn ihr ist es wichtig, den negativen Vorurteilen vorzubeugen. «Bei uns herrscht das Bild, dass der Nahe Osten gefährlich ist. Das ist aber nicht meine Erfahrung», so Geissmann. Der Austausch mit offenen und gastfreundlichen Menschen lehrte auch sie selbst, noch offener für andere Ansichten zu sein und diese anzunehmen: «Es ist einfach eine ganz andere und eigene Kultur, die aber sicher nicht minderwertiger ist als unsere.»
Sprachen öffnen neue Türen
Geissmann steht kurz vor ihrem Studienabschluss an der Zürcher Fachhochschule für Angewandte Wissenschaften. Sie ist polyglott – seit drei Jahren studiert sie Spanisch, Englisch und Deutsch. Und als wäre das nicht genug, hat sie im ersten Jahr als zusätzliches Fach Arabisch gewählt. «Ich wollte einfach mal etwas Neues machen», so die Studentin. Ihrer Meinung nach eröffnen Sprachen neue Türen: «Und man weiss nie, wohin diese Wege führen können.» Ein Praktikum im Rahmen ihres Studiums führte sie dann für ein halbes Jahr in den Nahen Osten.
Reise ins Ungewisse
Von Anfang an war klar, dass sie dieses in einem arabischsprachigen Land absolvieren möchte. «Sofern ich es zu diesem Zeitpunkt beurteilen konnte, gefiel mir der levantinische Dialekt am besten», lacht Geissmann. Das Levantinische ist einer von vielen arabischen Dialekten, der an der östlichen Mittelmeerküste gesprochen wird. Da sie wenig über das Königreich Jordanien wusste, sollte dies ihr Ziel werden.
Die Organisation war aber alles andere als einfach und vor Reiseantritt hatte sie nur eine halbherzige Zusage vom Roten Kreuz. Mit einem Plan B, falls es mit dem Praktikum beim RK vor Ort nicht klappen sollte, trat sie die Reise ins Ungewisse an. Bedenken oder Angst hatte die junge Frau nie: «Jordanien ist schon lange politisch stabil und ich war gut informiert.»
In ärmeren Regionen aufklären
Zwei Monate war Geissmann für das Rote Kreuz tätig. Nebst Aufgaben im Büro war sie auch für Kampagnen unterwegs. «Wir reisten in ärmere Regionen und klärten vor allem Schüler über Hygiene und gesunde Ernährung auf.»
Danach arbeitete sie zweieinhalb Monate für die kanadische NGO «PeaceGeeks». Die Organisation unterstützt lokale Künstler, die mit ihrem Schaffen Friedensbotschaften vermitteln. Für sie ein Glücksgriff, denn bei dieser NGO arbeiteten nur junge jordanische Mitarbeiter. So kam sie eng in Kontakt mit der lokalen Bevölkerung: «Ich schloss grossartige Freundschaften und lernte starke Persönlichkeiten und deren Lebensgeschichten kennen.»
Akzeptanz für andere Ansichten
Geissmann tauschte sich viel aus – auch über die jeweilige Kultur. Anfangs war das für die junge Frau nicht ganz einfach: «Bei uns ist der Individualismus stark im Denken verankert. Selbstverwirklichung und Freiheit sind ein wichtiger Grundsatz in unserer Kultur.» Anders leben die Menschen im Nahen Osten – dort lebt man vor allem für die Gemeinschaft und die Familie. «Anfangs konnte ich nicht verstehen, wieso viele von ihnen nicht auch individuelle Freiheit anstrebten», erinnert sie sich zurück. Im Gegenzug waren auch ihre Ansichten und Werte den Jordaniern fremd. Doch Geissmann gewöhnte sich ein und lernte, die kulturellen Unterschiede zu verstehen. Offenheit und Toleranz gegenüber anderen Werten ist eine wertvolle Erfahrung, die sie mitnahm und heute ihren Mitmenschen vermitteln möchte.
Auf fremden Sofas übernachten
Nach dem Praktikum beschloss sie, einen Monat lang alleine durch die Region zu reisen. «Ich war ja schon fünf Monate dort und mit meinem Arabisch konnte ich mich problemlos verständigen», erklärt die Hägglingerin. Sie reiste durch Jordanien, Palästina und Ägypten. Übernachtet hat sie auf den Sofas fremder Menschen. «Das Couchsurfing war eine sehr coole Erfahrung», lacht sie, «alle waren gastfreundlich und haben sich mit Tipps für meine Weiterreise übertroffen.»
Geissmanns Reise war geprägt von vielen Gesprächen. Vor allem in Palästina hatten die Menschen das Bedürfnis, über ihr Leben zu berichten. «Die politischen Spannungen sind in Palästina allgegenwärtig. Die Menschen können sich nicht einfach bewegen oder reisen, wie sie wollen. Sie schätzten es sehr, sich mitteilen zu können.»
Keine Einschränkungen
Unwohl fühlte sich die junge Frau während ihrer Reise nie. Dass die Länder stark patriarchalisch sind, spürte sie aber schon. «So trifft man beispielsweise überall viel mehr Männer als Frauen an», so Geissmann, «und es ist auch so, dass jordanische Frauen oft weniger Möglichkeiten als die Männer haben.»
Als europäische Frau sei sie aber nie davon betroffen gewesen. Ihre Reise konnte sie so gestalten, wie sie es wollte – diesbezüglich war sie nicht eingeschränkt. Für sie galt, was beim Reisen generell zu beachten ist: «Mit angepasster Kleidung und gesundem Menschenverstand kann man sehr vielen Problemen aus dem Weg gehen.»
Schätzen, was man hat
Was für uns Schweizer selbstverständlich ist, funktioniert im Nahen Osten einfach anders. So zählt die Wasserknappheit zum Alltag. Während ihres Aufenthaltes in Jordanien ging ihr einmal das Wasser aus. So war der Wassertank, der auf den Häusern des Daches wöchentlich aufgefüllt wird, plötzlich leer. In solchen Fällen kann man dann entweder bei privaten Anbietern überteuertes Wasser kaufen. «Oder man besitzt noch einen unterirdischen Reservetank. Davon konnten wir zum Glück Wasser hochpumpen. Das dauerte eine Weile, aber es funktionierte.»
Schon vor dem Aufenthalt hatte sie einen bewussten Umgang mit Wasser. «Seit dieser Erfahrung hat sich der aber nochmals gefestigt.» Auch die Meinungsfreiheit ist keine Selbstverständlichkeit: «Zu Beginn war mir das gar nicht so klar, bis ich merkte, dass man nicht frei seine Meinung über den König und die Regierung äussern kann – da müssen sie vorsichtig sein.» Durch diese Erfahrungen schätzt Geissmann die Freiheiten ihrer Heimat noch mehr: «Wir müssen dankbar sein, dass wir tun und lassen können, was und wie wir wollen.»
Für sie war ihre Reise in vielerlei Hinsicht prägend. Seit Ende Januar ist sie wieder in der Heimat. Für die Zeit nach dem Studium hat sie einen Wunsch: «Ich möchte einen Job, wo ich in Kontakt mit dem Nahen Osten komme.»