«Wir sind keine Cowboys mit Waffen»
15.04.2020 Region UnterfreiamtDer Villmerger Florian Willisegger leitet das Zentralgefängnis in Lenzburg – eine erste Bilanz
Seit bald einem Jahr leitet Florian Willisegger das Zentralgefängnis in Lenzburg. In der Coronazeit sieht er sich mit einer Herausforderung konfrontiert, die er so nicht erwartet hätte. Aber das Gefängnis hat einen Pandemieplan.
Chantal Gisler
Der ehemalige Bobfahrer hat eine beeindruckende Karriere hingelegt. Als Banker beschäftigte er sich mit grossen Zahlen. Im Militär hat er es bis zum Offizier gebracht. Eigentlich suchte er damals keine neue Stelle. Er interessierte sich aber schon immer für die Sicherheit und die Aufrechterhaltung der Stabilität. Viele, die über seinen Wechsel von der Bank ins Gefängnis informiert wurden, meinten: der passt.
Mittlerweile hat er sich an seinem neuen Arbeitsplatz eingelebt. Willisegger, kurzes braunes Haar, blaue Augen, freundliches Lächeln, sitzt im Anzug in seinem Büro. Die Wand neben ihm leuchtet im gleichen Grün wie seine Krawatte. Darauf angesprochen erzählt er, dass er die Wand vor einiger Zeit hat streichen lassen, damit das Büro nicht ganz so kahl ist. Tatsächlich wirkt sein Büro angenehmer und moderner als der Rest des Gefängnisses.
Gar nicht einengend
Willisegger ist in Villmergen aufgewachsen. Vor drei Jahren ist er weggezogen. «Ich sehe mich nach wie vor als Villmerger.» An der Fasnacht ist er regelmässig zu sehen. Seit Jahren ist er der musikalische Leiter der Fasnachtsgesellschaft Heid-Heid.
Freundlich, aber korrekt beantwortet er alle Fragen. Grüsst jeden Mitarbeiter, der an seinem Büro vorbei geht. Ist das Gefängnis für ihn nicht einengend? «Absolut nicht», sagt er. Der Job ist vielfältig. Ihm unterstellt sind folgende Abteilungen: die Administration, die Loge, die Untersuchungshaft, die Kurzhaft, die Altersabteilung und die Sicherheitsabteilung. Organisation und Führung liegen ihm. «Als Banker hatte ich unregelmässigere Arbeitszeiten und viel mehr mit Zahlen zu tun», erinnert er sich. Im Gefängnis steht der Mensch mehr im Mittelpunkt. Obwohl die Menschen, mit denen er es hier zu tun hat, selten Gutes wollen. Wenn ein Gefangener Willisegger kennenlernt, bedeutet das oft nichts Gutes. «Ich führe mit Gefangenen Gespräche, die Mühe haben, sich an unsere Hausordnung zu halten.» Zu Hause hat Willisegger zwei Kinder. Wie kann er ihnen das Gute der Welt vermitteln, wenn er täglich mit Kriminellen konfrontiert wird? «Man lernt, das Schöne mehr zu schätzen», bilanziert er sein bisheriges Jahr. «Mit meiner Arbeit trage ich dazu bei, dass die Welt sicherer wird.»
«Wir sind keine Cowboys mit Waffe»
Villmerger Florian Willisegger zeigt, wie sich die Coronakrise auf den Gefängnisalltag auswirkt
Das Lenzburger Gefängnis hat einen Pandemieplan und es hat besondere Massnahmen getroffen, um die Gefangenen zu schützen. Florian Willisegger, Leiter des Zentralgefängnisses, zeigt, wie diese umgesetzt werden.
Chantal Gisler
Seit bald einem Jahr ist er Leiter des Zentralgefängnisses in Lenzburg. Eigentlich suchte der Villmerger keinen neuen Job. Die Arbeit als Banker gefiel ihm. Aber die neue Herausforderung reizte ihn. «Ich habe mir zu Beginn keine grossen Chancen ausgerechnet, dass ich den Job erhalte», verrät Willisegger.
Auch heute noch gehen die Tage wie im Fluge vorbei. Sein Job ist alles andere als langweilig. Er kann sich sehr gut abgrenzen: «Sobald ich diese Mauern verlasse, konzentriere ich mich ganz auf meine Familie.»
Das Freiamt trägt der Villmerger im Herzen. Er war in verschiedenen Vereinen dabei und ist heute noch musikalischer Leiter der Fasnachtsgesellschaft Heid-Heid.
Im Gefängnis ist der Alltag strukturiert und geordnet. Trotzdem steht der Mensch im Mittelpunkt. Er sieht die Schicksale hinter den Tätern und ihren Taten. Willisegger muss nicht immer einfache Entscheidungen treffen, um Sicherheit und Ordnung innerhalb der Mauern aufrechterhalten zu können.
Soziale Kontakte müssen sein
Das Zentralgefängnis besteht aus zwei Häusern. Insgesamt gibt es 167 Plätze für Männer, Frauen und Jugendliche im Bereich Kurzstrafen und Untersuchungshaft. Dazu kommt die Altersabteilung «60 plus» mit 12 Plätzen und die Sicherheitsabteilung 2 mit 12 Plätzen.
Die Untersuchungshaft ist für die Gefangenen am härtesten. «Viele kommen damit nicht klar», sagt Willisegger. «Man wird plötzlich aus dem vertrauten Umfeld herausgerissen und 23 Stunden am Tag isoliert.» Eine Stunde dürfen die Gefangenen in Untersuchungshaft spazieren. Aber auch hier sind sie zu Beginn alleine. So wird verhindert, dass sie sich mit anderen Gefangenen oder Komplizen absprechen.
Die einzigen physischen Kontakte sind Anwalt und Polizei. «Und die Vollzugsangestellten», ergänzt Willisegger. Das ist ihm wichtig. Die Angestellten des Zentralgefängnisses haben eine hohe Sozialkompetenz. Sie sind wichtige Bezugspersonen für die Gefangenen. «Bei den täglichen Kontakten erkundigt sich der Angestellte auch nach dem aktuellen Befinden», erklärt Willisegger. Dadurch sind sie nahe beim Gefangenen und können vieles verhindern oder nötige Massnahmen in die Wege leiten. «In unserem Gefängnis behandeln wir alle gleich. Egal, wen wir vor uns haben. Wir unterscheiden zwischen Tat und Tätern. Das ist Voraussetzung um den Job professionell ausführen zu können.»
Worte und Schlüssel als Waffen
Das setzt Willisegger bei seinen Angestellten voraus. Es erfordert ein hohes Mass an Sozialkompetenz. Darauf werden die Angestellten geschult. Sie dürfen sich nicht von den Gefangenen provozieren lassen. «Wir sind keine Cowboys mit Waffen», sagt Willisegger bestimmt. Keiner der Angestellten trägt hier eine Waffe. «Unsere Waffen sind Worte und Schlüssel.»
Das funktioniert in einem Gefängnis? Willisegger ist davon überzeugt. «Viele haben ein falsches Bild vom Gefängnis. Es ist bei uns nicht wie in den amerikanischen Filmen. Wir müssen nicht schwer bewaffnet sein. Im Gegenteil. Mit Waffen vermitteln wir eine falsche Sicherheit. Und genau das soll nicht passieren. Resozialisieren, damit sie nach ihrer Haft wieder zurück in die Gesellschaft können. Das ist unser gesetzlicher Auftrag.»
In Lenzburg akzeptiert
Das Zentralgefängnis wurde 2011 in Betrieb genommen. Sechs Jahre später wurde es mit dem Haus B erweitert. Zusammen mit der Strafanstalt, knapp 300 Meter entfernt, bildet das Zentralgefängnis die JVA Lenzburg. Das Gefängnis befindet sich direkt neben einem Wohnquartier. Gibt es keine Probleme mit den Nachbarn? Fürchten sie sich vor den Gefangenen? «Nein, Probleme gibt es keine», beschwichtigt Willisegger. «Im Gegenteil: Unser 5-Sterne-Lädeli ist bei den Anwohnern beliebt. Vor allem die Wähen, die sind oft am schnellsten weg.» Mehrmals pro Jahr tauscht sich die Gefängnisleitung mit dem Lenzburger Stadtrat aus. «Es zeigt uns jeweils deutlich, dass wir in Lenzburg sehr gut verankert und akzeptiert sind.»
Weniger Beschäftigungen
Insgesamt 17 Gewerbe gibt es in der Justizvollzugsanstalt. Darunter zum Beispiel eine Schreinerei, eine Schlosserei und Rebbau. Zusätzlich gibt es Englisch- und Deutschkurse. Jeder soll mithelfen und sich beschäftigen können. Besonders im Langzeitvollzug kommt der täglichen Arbeit eine wichtige Rolle zu. «Es geht darum, die Gefangenen zu beschäftigen. Sonst beschäftigen sie uns.»
«Beschäftigung ist wichtig, um dem Haftalltag eine Struktur zu geben und den Gefangenen sinnvolle Arbeiten und Tätigkeiten zu ermöglichen, die sie nach ihrer Entlassung brauchen und anwenden können.» Hier trifft die Coronakrise die Gefangenen am härtesten. Einige Gewerbe mussten geschlossen werden, um die Empfehlungen und Verordnungen des Bundes einhalten zu können. «Zwei Meter Abstand halten ist leider nicht überall möglich.»
In anderen Gewerben, wie etwa der Hauswirtschaft, ist die Arbeit weiterhin möglich. «Wir mussten verschiedene Anpassungen für die Sicherheit der Gefangenen und der Vollzugsangestellten vornehmen.» Zudem gibt es Gewerbe, die nur noch mit ganz wenigen Gefangenen gewisse Aufträge zu Ende führen. «Natürlich unter strikter Einhaltung der Bundesvorgaben.»
Für den Fall gewappnet
Aktuell gibt es im Gefängnis keinen positiven Coronafall. Vor Ort gibt es einen Gesundheitsdienst, der sich um die medizinischen Anliegen kümmert. Neu eintretende Gefangene müssen sich während zehn Tagen in Quarantäne begeben. Zeigt die Person Symptome, wird sie auf das Virus getestet. Für den Fall eines positiven Tests wurde eine Isoliertenabteilung geschaffen.
«Das Zentralgefängnis ist ein 24-Stunden-Betrieb», erklärt Willisegger. Pro Jahr werden etwa 1200 Ein- und Austritte registriert. Auch hier macht sich die Krise bemerkbar: «Wir verzeichnen derzeit etwas weniger Bewegungen.»
Kaum Kontakt zur Aussenwelt
Im Zentralgefängnis gibt es auch die sogenannte «60-plus-Abteilung». Gefangene, die durch ihr Alter in die Risikogruppe gehören. Diese werden besonders geschützt.
«Wir spüren eine gewisse Unsicherheit bei den Gefangenen wegen der Coronakrise. Aber die legt sich schnell wieder, wenn sie sehen, welche Vorsichtsmassnahmen wir getroffen haben.» Dazu gehören einige Einschränkungen, die nicht allen Gefangenen gefallen. «Durch die Coronakrise haben wir die externen Kontakte vor allem im Normalvollzug stark reduziert. Dafür dürfen sie neu einen Telefonanruf pro Woche mehr tätigen.»
Wie reagieren die Gefangenen auf diese Massnahmen? «Die meisten verstehen es und sind froh, dass wir Vorkehrungen treffen. Bisher hatten wir keine besonderen Vorkommnisse. Unser Personal macht einen sehr guten Job, ich bin sehr froh, auf belastbare und gut ausgebildete Mitarbeiter zählen zu dürfen.»