Geschichte(n) aus erster Hand
31.03.2020 WohlenSpannendes «Oral History»-Projekt einer Bez-Klasse aus Wohlen
«Es gibt keine Wahrheit, nur Geschichten»: Getreu diesem Zitat von Jim Harrison machten sich die Schüler und Schülerinnen auf Spurensuche.
Chregi ...
Spannendes «Oral History»-Projekt einer Bez-Klasse aus Wohlen
«Es gibt keine Wahrheit, nur Geschichten»: Getreu diesem Zitat von Jim Harrison machten sich die Schüler und Schülerinnen auf Spurensuche.
Chregi Hansen
Der Höhepunkt des Projektjahres sollte gestern Abend stattfinden. Das «Schlössli» war bereits reserviert für die Buchvernissage, das Programm aufgegleist samt Ansprachen und musikalischem Intermezzo, die Interviewpartner eingeladen. «Und alle, die im Buch zu Wort kommen, wollten dabei sein und freuten sich auf den Anlass», berichtet Lehrer Daniel Güntert. Doch das Coronavirus lässt eine solche Feier nicht zu. «Das ist natürlich schade nach der vielen Arbeit, welche die Schüler und Schülerinnen in das Projekt investiert haben», so Güntert. «Vielleicht holen wir die Feier später nach.»
Zumindest aber das Buch haben alle Beteiligten nun in ihren Händen. «988 Jahre Lebenserfahrung» nennt es sich und umfasst Gespräche mit 12 älteren Menschen aus der Region. Ulrich Kuhnen ist mit seinen 73 Jahren der Jüngste, die leider verstorbene Mela Abt mit 98 Jahren die Älteste. Zu erzählen wussten alle ganz viel.
Erinnerungen sind immer subjektiv
«Ziel war es, über das direkte Gespräch mit Zeitzeugen die Geschichte zugänglich zu machen», erklärt der Wohler Bez-Lehrer. Gleichzeitig machten die Jugendlichen die Erfahrung, dass Erinnerungen immer subjektiv sind. Obwohl ungefähr in der gleichen Zeit aufgewachsen, beschreiben die zwölf Interviewten ihre Kindheit durchaus verschieden. Die Schüler und Schülerinnen ziehen am Schluss des Projekts durchwegs eine positive Bilanz. «Es ist etwas ganz anderes, etwas von einer Person, die das selbst erlebt hat, erzählt zu bekommen, als es von einem Lehrer zu erfahren», sagt beispielsweise Mike Loepthien. Und steht mit dieser Meinung sicher nicht alleine da.
In fremde Leben eingetaucht
Die Klasse Bez 3d hat für ein Buchprojekt zwölf ältere Menschen interviewt
Geschichtsbücher konzentrieren sich meist auf die grossen Ereignisse vergangener Jahre. Wer wissen will, wie das alltägliche Leben damals tatsächlich war, der muss mit Zeitzeugen reden. Genau das haben die Schüler und Schülerinnen von Daniel Güntert getan.
Chregi Hansen
Extra für diese Zeitung haben alle Schüler und Schülerinnen ein kleines Fazit verfasst. Und ein Wort zieht sich durch fast alle Beiträge. «Spannend» sei dieses Projekt gewesen, so lautet unisono die Bilanz. Spannend, etwas über das Leben dieser Menschen zu erfahren. Spannend aber auch das Vorbereiten der Interviews, die (mehrmaligen) Treffen selber, das Umsetzen in Buchform. Und das Fazit ist klar. «Die Schüler meinten, ich solle das unbedingt auch mit anderen Klassen machen», lacht Daniel Güntert, Lehrer für Deutsch und Geschichte an der Bez Wohlen.
Bei diesem Projekt konnte er die beiden Fächer ideal kombinieren. «Meist mache ich mit meinen Abschlussklassen ein Theaterstück. Die jetzigen Schüler wollten das nicht», erzählt er. Aber auch sie hatten Lust, an einem Projekt abseits des normalen Stundenplans zu arbeiten. Und waren bereit, dafür zwei zusätzliche Stunden pro Woche zu leisten. «Weil ich selber mal Geschichten von älteren Wohlern gesammelt habe und weiss, wie spannend diese sind, habe ich dieses Thema vorgeschlagen. Und war überrascht, wie gross die Motivation war», so Güntert weiter.
Mehrfache Kontakte
Zuerst galt es, passende Interviewpartner zu suchen. «Manche haben selber jemanden gefunden, anderen Gruppen habe ich passende Personen vermittelt», erklärt der Lehrer. Dann wurden mögliche Gesprächsthemen und Fragen aufgelistet und ein erster Besuch zum Kennenlernen vereinbart. Diese ersten Kontakte werden ebenfalls im Buch aufgezeichnet und zeugen von einem grossen gegenseitigen Respekt und Interesse. Die eigentlichen Interviews waren dann viel mehr als das blosse Abarbeiten eines Fragekatalogs. «Wir hatten sogar politische Diskussionen, bei denen wir nicht ganz dieselben Ansichten hatten», berichtet etwa Robin Brun. Und Noélia Aschwanden fand es schön, dass Yvonne Amsler nicht nur von sich erzählte, sondern sich auch für das Leben und die Zukunftspläne der Schülerinnen interessierte. «Nach dem Interview sind wir nicht gleich gegangen, sondern wir plauderten dann noch, bis es dunkel geworden war.»
Verständnis schaffen
Nach den Interviews galt es, das Gehörte in Worte zu fassen. «Die Schüler haben zum Teil sehr lange an ihren Texten gefeilt und sie auch untereinander verglichen», berichtet der Lehrer. Die fertigen Artikel wurden dann den Interviewpartnern vorgelegt, die noch die eine oder andere Stelle korrigierten. «Die zwölf Personen, die in diesem Buch vorgestellt werden, haben sich sehr über das Interesse an ihnen gefreut. Ich bin sicher, dass ein solches Projekt viel zum Verständnis hilft über die Generationengrenzen hinweg», sagt Güntert. An der Buchvernissage im «Schlössli», die für gestern Abend geplant war, wollten Alt und Jung den Abschluss des Projekts feiern. «Alle hatten sich angemeldet. Viele Gäste wollten noch etwas aus ihrer Kindheit mitnehmen und präsentieren. Schade, dass der Abend nicht stattfinden kann», so Güntert. Und mit dieser Meinung steht er nicht allein. «Wir haben einen spannenden Nachmittag mit Herrn Montanarini erleben dürfen, und nun ärgert es uns sehr, dass die Vernissage abgesagt wurde», schreibt etwa Michael Weber.
Immerhin: Das Buch ist inzwischen gedruckt. Und alle freuen sich auf die Lektüre. «Es hat Spass gemacht, Leute zu interviewen, und ich würde so ein Projekt gerne nochmals machen», sagt etwa Joëlle Bucher. «Ich bin sehr gespannt auf das fertige Buch», ergänzt Laura Barraco. Für alle Schüler und Schülerinnen war es etwas völlig Neues und gleichzeitig eine Arbeit, von der sie viel profitiert haben. Und auch gelernt. «Uns hat vor allem die Veränderung des Lebens und des Dorfes gefallen. Wir fanden es auch spannend, wie man hier in Wohlen mit der Situation im zweiten Weltkrieg umgegangen ist», erklären Till Eser und Yannic Parvex. Und Natalie Fasching zeigt sich beeindruckt über die vielen Parallelen zur heutigen Zeit. Und nicht zuletzt gab es auch etliche berührende Momente. «Es zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht, wenn man sieht, wie die älteren Leute mit grossem Stolz von ihren früheren Erlebnissen erzählen konnten», schreibt etwa Mike Loepthien.
Mit vielen Herausforderungen konfrontiert
Auch Daniel Güntert ist stolz auf die Leistung seiner Klasse. «Für die Schülerinnen und Schüler der Klasse 3d hat sich im letzten halben Jahr manche Tür geöffnet, zu Wohnungen von Menschen, zu Erlebtem und zu Erinnerungen. Durch das Befragen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen durften die Jugendlichen unmittelbare, direkte Erfahrungen mit Menschen und deren Geschichte gewinnen», schreibt er in seinem Vorwort. Das Zusammenstellen der Informationen und Eindrücke zu einem Gesamtbild ermögliche den Beteiligten einen vertieften Umgang mit Geschichte. «Die in unserem Buch zusammengestellten Interviews zeigen, dass es auf die Frage, wie es damals war, höchst unterschiedliche Antworten geben kann», so Güntert.
Und noch etwas hat der Lehrer festgestellt. «So manches, was diese älteren Menschen aus ihrem Leben erzählt haben, ist den Schülern eingefahren und sie haben gestaunt, mit welchen Herausforderungen die Menschen damals zum Teil konfrontiert waren», berichtet er. Einer der Gesprächspartner kam als Verdingkind in die Westschweiz, eine andere musste im Welschlandjahr in der Küche schlafen. Die Schüler und Schülerinnen erfuhren, wie sehr die Kinder früher mit anpacken mussten zu Hause oder wie es war, im Krieg mit Rabattmärkli einzukaufen. «Wir waren nicht sehr wohlhabend und mussten manchmal sogar Kleider gegen Essen tauschen», erzählt einer der Zeitzeugen von damals.
Und trotzdem: Fast alle der zwölf Befragten sind zufrieden mit ihrem Leben. Und das ist doch tröstlich in einer Zeit, in der die Jungen von heute erstmals mit einer wirklichen Ausnahmesituation konfrontiert sind, die ihnen sogar den Höhepunkt des Jahres, die Vernissage, raubt. «Jetzt werde ich die Bücher eben verschicken. Aber ich hoffe schon, dass wir vor dem Ende des Schuljahres noch einmal zusammenkommen können», meint Daniel Güntert zum Schluss.
Das Buch «988 Jahre Lebenserfahrung» mit Interviews mit 12 Personen kann bestellt werden bei daniel.guentert@ schulewohlen.ch.
Die Porträts
Folgende Personen haben sich für die Treffen und Interviews zur Verfügung gestellt: Yvonne Amsler, Wolfgang Jimmy Vonlanthen, Maria Werder-Nietlisbach, Elisabeth Leuppi-Fischer und Rudolf Leuppi, Kurt Baldegger, Ulrich Kuhnen, Jakob Mäder, Hansruedi Meier, Luca Montanarini, Louise Aschwanden und Mela Abt-Meyer.