Die grösste Maschine der Welt
28.02.2020 WohlenEuropatag der Kanti: Workshop zum Thema Stromversorgung Schweiz–EU
Eine stabile Stromversorgung ist für einen erfolgreichen Wirtschaftsstandort essenziell. Das Schweizer Energienetz gehört zu den besten der Welt. Doch es ist Teil des europäischen ...
Europatag der Kanti: Workshop zum Thema Stromversorgung Schweiz–EU
Eine stabile Stromversorgung ist für einen erfolgreichen Wirtschaftsstandort essenziell. Das Schweizer Energienetz gehört zu den besten der Welt. Doch es ist Teil des europäischen Energienetzes und somit nicht eigenständig.
Joël Gattlen
Kein Strom für die Schweiz ohne Europa? Oder verhält es sich genau andersherum? Diesen Fragen ging Jörg Spicker, Senior Strategic Advisor bei Swissgrid, im Rahmen eines Workshops am Europatag der Kantonsschule Wohlen nach.
«In Kontinentaleuropa wird die grösste menschgebaute Maschine der Welt betrieben. Kein System ist gigantischer», betont Spicker. «Es ist ein einziges grosses Übertragungsnetz, das eine stabile Stromversorgung der Schweiz und der anderen europäischen Staaten sicherstellt. Weder die Russen noch die Amerikaner haben sich je getraut, ein solches System zu bauen, da es sehr komplex zu betreiben ist. Vielmehr beschränken sie sich darauf, mehrere kleinere Übertragungsnetze zu betreiben», erklärt Spicker.
Strombedarf wird um 60 bis 70 Prozent zunehmen
Mitten in diesem europäischen Grossübertragungsnetz befindet sich die Schweiz. Sie ist ein wichtiger Drehund Angelpunkt. «Die Schweiz ist zurzeit über 41 Leitungen mit dem Ausland verbunden und umgekehrt.» Die Schweiz exportiert und importiert Strom nach/aus Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien, wobei Italien fast nur Strom aus der Schweiz importiert und Österreich fast nur Strom in die Schweiz exportiert. Bei Frankreich und auch bei Deutschland besteht ein rund doppelt so hoher Exportüberschuss an Strom in die Schweiz.
Gerade im Winter ist die Schweiz auf die Stromimporte aus dem Ausland dringend angewiesen. «Schon jetzt ist die Stromversorgung im Winter teils äusserst knapp», bestätigt Spicker. Dieser Umstand wird sich noch verschärfen, da immer mehr Kernkraftwerke abgeschaltet werden und zurzeit auch keine neuen gebaut werden. Auch das eigentlich positive zunehmende Umweltbewusstsein trägt nicht zur Entspannung bei. Im Gegenteil. «Die Elektrifizierung wird weiter zunehmen. Insbesondere im Bereich Verkehr. Heute geht man trotz immer energieeffizienteren Geräten und Fahrzeugen von einem zusätzlichen Strombedarf zwischen 60 und 70 Prozent im Vergleich zum Status quo aus», konstatiert Spicker. Aus diesem Grund wird die Schweiz in Zukunft wohl noch mehr von Stromimporten aus dem Ausland abhängig werden.
Stromabkommen ist seit Jahren blockiert
Aus diesem Grund wäre ein Stromabkommen mit der EU von enormer Wichtigkeit. Seit 2007 verhandelt die Schweiz über ein solches bilaterales Abkommen im Elektrizitätsbereich. Mit einem solchen Abkommen würde die Schweiz Zutritt zum europäischen Strommarkt erhalten. Gleichzeitig würden aber auch Sicherheitsstandards harmonisiert und ein Fokus auf die gegenseitige Versorgungssicherheit gelegt. Doch das Abkommen ist seit Jahren blockiert, da sich die EU querstellt.
«Die EU beharrt bislang darauf, dass ein Abkommen nur abgeschlossen wird, wenn die Schweiz ein Rahmenabkommen mit der EU unterzeichnet. Die EU nimmt die Schweiz somit in eine Art Geiselhaft», erklärt Spicker.
Strom geht den Weg des geringsten Widerstandes
Gleichzeitig hat die EU aber auch den Stromtransfer zwischen den EU-Ländern intensiviert. Gerade zwischen Frankreich und Deutschland findet ein reger Austausch statt. «Rund ein Drittel des Transfers erfolgt dabei über die Schweiz, ohne dass die Schweiz darüber informiert wird. Wir können die Transfertätigkeit jedoch aufgrund verschiedener Messwerte klar feststellen», sagt Spicker. Dabei macht die EU dies vermutlich nicht einmal extra. Vielmehr hat dies damit zu tun, dass sich der Strom den Weg des geringsten Widerstands sucht, wodurch die Schweiz aufgrund ihrer zentralen Lage und guten Vernetzung zu einer unerlässlichen Stromdrehscheibe wird.
Wer jetzt denkt, man könnte einfach so die Schalter öffnen oder – vereinfacht ausgedrückt – die Stromzufuhr in die Nachbarländer unterbinden, der irrt sich. «Dies käme einer Kriegserklärung an die EU gleich und würde insbesondere auch Italien treffen. Das wäre definitiv nicht im Sinne der Schweiz. Denn bislang hat sich Italien jedes Mal vehement für den Abschluss eines Stromabkommens mit der Schweiz ausgesprochen. Die Schweiz würde so einen wichtigen Verbündeten verlieren.» Eine stabile Stromversorgung ist aber essenziell für die Wirtschaft.
Blackout schädlicher als Kernkraftwerkunfall
«Betrachtet man nur die ökonomischen Zahlen, ist ein länger andauernder Blackout, also ein Ausfall des Stromnetzes, sogar schädlicher für die Schweiz als ein Kernkraftwerkunfall, denn heute geht einfach nichts mehr ohne Strom.» Bislang besitzt die Schweiz aber eines der besten und stabilsten Netze der Welt. Auch hinsichtlich der Verhandlungen mit der EU keimen immer wieder neue Hoffnungsschimmer auf.
Die Schweiz verfügt über viele Pumpspeicherkraftwerke. Das ist in dieser Dimension in Europa einzigartig. Sie sind deswegen so wichtig, da sie aufgrund der gespeicherten Energie Netzschwankungen ausgleichen können. Diese treten in Zukunft aber immer häufiger auf, da erneuerbare Energie nicht konstant geliefert werden kann. Netzschwankungen sind deswegen gefährlich, da sie nur schon bei geringen Abweichungen zu Stromausfällen führen können. «Deswegen sind die Pumpspeicherkraftwerke auch für die EU besonders interessant und ein gutes Verhandlungsargument», schliesst Spicker.