«Klare Verletzung des Kindesrechts»
14.01.2020 BremgartenAndreas Bucher, emeritierter Professor, ist Experte auf dem Gebiet der Kindesrückführung
Ein Glücksfall sei es, sagt Martina Hess, dass Andreas Bucher auf ihren Fall aufmerksam wurde. Er steht mit der Familie Hess bis heute in Verbindung. Sie fühlt sich ...
Andreas Bucher, emeritierter Professor, ist Experte auf dem Gebiet der Kindesrückführung
Ein Glücksfall sei es, sagt Martina Hess, dass Andreas Bucher auf ihren Fall aufmerksam wurde. Er steht mit der Familie Hess bis heute in Verbindung. Sie fühlt sich in ihrer Kritik an den gerichtlichen Vorgängen von ihm bestätigt.
Andreas Bucher, emeritierter Professor der Uni Genf, stand der Familie Hess in den kräftezehrenden Jahren mit Information und Rat zur Seite. In einem Interview mit dem «BBA» übte er Ende 2015 harsche Kritik am Vorgehen der Justizbehörden. Die Rechtslage war klar. Das Haager Übereinkommen schreibt bei Kindesentführung durch einen Elternteil vor, dass das Kind zurückgebracht werden muss. Bucher führte zwei Vorbehalte an. «Erstens: Wenn ein Kind mit der Rückführung nicht einverstanden und reif genug ist, muss man auf seinen Willen eingehen. Zweitens darf ein Kind durch die Rückführung nicht einer schweren Gefahr ausgesetzt werden.»
Ungenügend und dilettantisch
Dem Obergericht Aargau warf der Experte vor, eine Anhörung der achtjährigen Anna völlig unprofessionell durchgezogen zu haben. «Das Bundesgericht muss wissen, wie das Kind auf eine Rückführung reagieren würde. Das hätte nachgefragt werden müssen, was nicht geschehen ist. Diese Unterlassung stellt eine klare Verletzung des Kindesrechts auf Anhörung dar.»
Auch dem Bundesgericht warf er Fehlverhalten vor. «Eine völlig oberflächliche Abklärung genügte ihm.» Um die Situation des Kindes nach der Rückführung in den Herkunftsstaat abzuklären, wären sachliche Auskünfte vom Bundesamt für Justiz, von der Schweizer Botschaft und vom internationalen Sozialdienst erhältlich. «In Mexiko kommt es sehr darauf an, wo man wohnt.» Der Professor war Präsident der Expertenkommission, die das Bundesgesetz betreffend Kindesentführung ausarbeitete. «Vom Parlament wurde es einstimmig angenommen. Jetzt wird es vom Bundesgericht nicht angewandt. Deshalb helfe ich in Fällen von groben Rechtsverletzungen», erklärte er auf die Frage, weshalb er der Familie Hess zur Seite stehe.
Als rechtlich falsch, moralisch aber nachvollziehbar bewertete Andreas Bucher das Untertauchen von Martina und Anna Hess. «Im Grunde geht es um einen kleinen Fall. Die Entführung per Eisenbahn musste fehlschlagen. Jedenfalls ist damit bewiesen, dass sich das Kind der Rückführung widersetzte.» Dass Beni und Martina Hess in den anstehenden Verhandlungen die Anhörung Annas erwarten durften, bestätigt er. «Nach Artikel 12 der Kinderrechtskonvention hat Anna das Recht, angehört zu werden. Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen es berührenden Angelegenheiten frei zu äussern. Dabei soll seine Meinung entsprechend seinem Alter und seiner Reife angemessen berücksichtigt werden.» Anna könne zu wichtigen Fragen der Beurteilung der nun angeklagten Straftaten zumindest als Zeugin Aussagen machen. «Es gilt die Untersuchungsmaxime, das heisst, die Behörde ist verpflichtet, alle einschlägigen Tatsachen zu berücksichtigen.»
Die Anhörung Annas könnte das Vorliegen eines Straftatbestandes infrage stellen, vor allem, was Martina Hess betreffe. «Das Kind könnte darlegen, dass die sogenannten Straftaten moralisch durchaus vertretbar waren und dass seine Informationen als Rechtfertigungsgründe beachtet werden müssen.»
«Strafmass massiv übertrieben»
Für die angesprochenen Delikte gebe es in der Regel ein Strafmass von einigen Monaten oder Geldstrafe, führt Bucher aus. Die Strafanträge seien massiv übertrieben. «Bei Kindesentführungen kommt es nur dann zu massiv höheren Strafen, wenn der Täter das Kind ins Ausland gebracht hat und es dort versteckt, mit der Wirkung, dass es unmöglich ist, das Kind in die Schweiz zurückzubringen. Die Staatsanwaltschaft hat die Rechtfertigungsgründe nicht berücksichtigt, ja nicht einmal erwähnt. Das ist unprofessionell, denn die Untersuchungsbehörde muss alle Argumente für und wider die Bestrafung dem Gericht vortragen.»
Auf die Frage, ob ein Freispruch nach seinem Ermessen rechtlich vertretbar wäre, erklärt er: «Sicher, aber man soll dem richterlichen Ermessen nicht vorgreifen. Zu denken ist auch an den Schaden, den das ganze Verfahren dem Kind verursacht. Es muss zusehen, wie sich seine Eltern fast bis aufs Messer streiten, ohne dass das Gericht eingreift. Das wird in ihm ein schweres Trauma hinterlassen, das auch nach Jahren noch präsent sein wird. Und es muss das erdulden, nachdem das Gericht sich geweigert hat, es anzuhören.» --gla