«Fall Hess» vor Gericht
14.01.2020 BremgartenEs drohen bedingte Gefängnisstrafen
Martina und Beni Hess aus Bremgarten sind wegen Kindesentführung und Weiterem angeklagt. Ihre Verhandlungen finden nächste Woche vor dem Bezirksgericht Baden statt.
Der Der Fall wurde im Mai ...
Es drohen bedingte Gefängnisstrafen
Martina und Beni Hess aus Bremgarten sind wegen Kindesentführung und Weiterem angeklagt. Ihre Verhandlungen finden nächste Woche vor dem Bezirksgericht Baden statt.
Der Der Fall wurde im Mai 2015 publik. Grossmutter Martina Hess war mit ihrer Enkelin Anna (Name geändert) in Frankreich untergetaucht, um deren Rückführung zur Mutter in Mexiko zu verhindern. Mittlerweile darf die jetzt 14-jährige Anna dauerhaft bei ihrem Vater Beni Hess in Bremgarten leben. Das hat das Bundesgericht im Juli 2018 entschieden. Diesem Urteil ging ein dreijähriges Tauziehen zwischen den Eltern voraus. Dieses beinhaltete die gerichtlich angeordnete Rückführung Annas und die Umsiedlung auch des Vaters nach Mexiko. Im Februar 2018 reisten Vater und Tochter ohne Wissen der Mutter in die Schweiz zurück. In einer Rückblende auf die Geschehnisse in diesem Familiendrama äussert sich Professor Andreas Bucher, Experte auf dem Gebiet der Kindesrückführung. Er kritisiert das Vorgehen der Justizbehörden, sieht das Kindesrecht mehrfach verletzt. --gla
Langes Warten hat ein Ende
Fall «Anna Hess»: Vater Beni und Grossmama Martina Hess müssen sich vor dem Bezirksgericht Baden verantworten
Dieses Familiendrama machte landesweit Schlagzeilen. Die Angeklagten und Anna haben ihr Ziel erreicht. Tochter und Enkelin Anna darf bei ihrem Vater in Bremgarten leben. Das Gericht beurteilt jetzt Vorwürfe wie Kindesentführung und Entziehung einer Minderjährigen.
Lis Glavas
Seit ihrer Untersuchungshaft im Jahr 2015 wartet Martina Hess auf diese Gerichtsverhandlung. Ihre Anklageschrift ist auf September 2017 datiert. Zur Last gelegt werden ihr Freiheitsberaubung und Entführung sowie Entzug einer Minderjährigen. Mitangeklagt ist ihr Sohn Beni Hess. Er muss sich zum Vorwurf der mehrfachen Freiheitsberaubung und Entführung sowie mehrfachen Entziehung einer Minderjährigen und versuchten Nötigung verantworten. Das von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafmass beträgt für Martina Hess 20 Monate Freiheitsstrafe bedingt, für Beni Hess 24 Monate bedingt. Die Verhandlungen finden in der kommenden Woche statt.
«In Sicherheit gebracht»
Im Sommer 2014 hält sich die achtjährige Anna (Name geändert) mit ihrem Vater Beni Hess während drei Monaten in Bremgarten auf. Mit Einverständnis ihrer mexikanischen Mutter – die Eltern leben in Mexiko getrennt – soll festgestellt werden, ob Anna sich im hiesigen Schulsystem zurechtfinden könnte.
In dieser Zeit mehren sich Nachrichten von Opfern des Drogenkriegs und der Kriminalität in der Region La Paz. Dort ist Beni Hess zuvor als gut verdienender Ausländer ins Visier von Schutzgelderpressern geraten, seine Familie ist mehrfach bedroht worden. Aufgrund der sich nun verschlechternden Sicherheitslage beschliesst er, mit Anna in der Schweiz zu bleiben.
Im Januar 2015 stellt Annas Mutter beim Aargauer Obergericht ein Gesuch um Rückführung ihrer Tochter nach Mexiko. Das Gericht entscheidet ablehnend, die Mutter zieht den Fall weiter ans Bundesgericht. Ende April fordert dieses das Obergericht Aargau zur Neubeurteilung zugunsten der Kindsmutter auf. Am 6. Mai heisst das Obergericht das Gesuch von Annas Mutter gut und ordnet die Rückführung nach Mexiko an.
Anna hat Angst, ihr psychischer Zustand ist schlecht. Sie droht, sich aus dem Fenster zu stürzen, sollte die Polizei sie holen wollen. Beni Hess bringt sie am 6. Mai in die Notfallstation des Kantonsspitals Baden. Es wird Suizidgefahr diagnostiziert. Am 8. Mai kommt Annas Mutter in die Schweiz. Zwei Tage später holt der Vater Anna aus dem Spital zu sich nach Bremgarten, woraufhin Grossmutter Martina Hess mit ihrer Enkelin nach Frankreich reist, um die Rückführung zu verhindern.
Die Polizei findet die beiden am 22. Mai. Anna wird über Nacht in ein Kinderheim gebracht und am folgenden Tag von der Aargauer Kantonspolizei abgeholt. Martina Hess wird einem französischen Richter vorgeführt, der ihr uneingeschränkten Aufenthalt in der Region und freien Zugang zu den Medien erlaubt. Schliesslich stellt sie sich in der Schweiz der Polizei. Sie befindet sich vom 10. Juni bis 3. Juli in Untersuchungshaft, nachdem sie gegen die angeordnete dreimonatige U-Haft mit Erfolg Beschwerde geführt hat. Am 20. Juli wird Anna nach Mexiko zurückgeführt. «Dazu stellte man sie medikamentös ruhig», blickt Martina Hess zurück. «Wäre sie in der Lage gewesen, massiven Widerstand zu leisten, hätte sie nicht ausgeschafft werden dürfen.» Weiterhin steht sie auf dem Standpunkt, Anna nicht entführt, sondern in Sicherheit gebracht zu haben.
«Annas Wille ist das Wichtigste»
Nach der Rückführung zieht Beni Hess mit seiner Lebenspartnerin wieder nach Mexiko, um in der Nähe seiner Tochter zu sein. Zunächst darf er Anna einmal wöchentlich unter Aufsicht sehen. Er schöpft seine rechtlichen Möglichkeiten aus und bekommt schliesslich das Wochenende zugesprochen. Der Kontakt zu ihrer Schweizer Familie und ihren hiesigen Freunden wird Anna ein Jahr lang verboten. Die Sicherheitslage im Bundesstaat Baja California (Hauptstadt La Paz) verschärft sich weiter. Ein Mitglied von Annas mexikanischer Familie und zwei Brüder von Schulfreundinnen werden ermordet.
Im Februar 2018 fliegt Beni Hess mit Anna über Mexiko City und Cancun nach Zürich. Seine Lebenspartnerin hält sich seit drei Wochen wieder in der Schweiz auf. Das Paar nimmt mit Anna und dem gemeinsamen Sohn im Kanton St. Gallen Wohnsitz. Was ihm als Entführung und Entzug einer Minderjährigen zur Last gelegt wird, bezeichnet er als Flucht vor der in Mexiko latent drohenden Gefahr.
Die Hoffnung auf eine Einigung im Interesse Annas zerschlägt sich. Ihre Mutter stellt einen weiteren Rückführungsantrag. Über diesen hat nun das Kantonsgericht St. Gallen zu entscheiden. Es weist ihn zurück. Die Mutter rekurriert. Mit Urteil vom 9. Juli 2018 bestätigt das Bundesgericht das Verdikt des Kantonsgerichts. Einem Verbleib der 14-jährigen Anna in der Schweiz ist jetzt nichts mehr entgegenzusetzen. «Annas unglaublich starker Wille scheint mir in dieser ganzen Geschichte das Wichtigste gewesen zu sein», fasst Beni Hess zusammen.
Anhörung Annas nicht vorgesehen
Martina und Beni Hess werfen den Justizbehörden vor, den Kindeswillen nicht ausreichend geprüft und folglich nicht gewürdigt zu haben. Auch in den nun anstehenden Verhandlungen des Bezirksgerichts Baden ist die Anhörung Annas nicht vorgesehen. Verletzungen des Anhörungsrechts kritisiert im Fall «Anna Hess» auch Professor Andreas Bucher. Er ist Experte auf dem Gebiet der Kindesrückführungen (siehe Artikel unten).


