Weg in die weite Welt
30.07.2019 BremgartenSommerserie: «Freiämter im Ausland»: Markus Hartmann in Französisch-Polynesien
Er hatte genug vom Alltag und lief einfach los. Monatelang. Vom Freiamt auf den Jakobsweg. Auf seiner unglaublichen Reise fand er zuerst Erleuchtung – und dann seine ...
Sommerserie: «Freiämter im Ausland»: Markus Hartmann in Französisch-Polynesien
Er hatte genug vom Alltag und lief einfach los. Monatelang. Vom Freiamt auf den Jakobsweg. Auf seiner unglaublichen Reise fand er zuerst Erleuchtung – und dann seine Frau Fleure. Er gründete mit ihr eine Familie. Der Freiämter Markus Hartmann lebt heute mit seiner Familie in Französisch-Polynesien – und bald in Hawaii.
Stefan Sprenger
«Uuh. Heute ist es etwas kühl.» Erstmals seit Wochen braucht Markus Hartmann einen Pullover. Es ist windig auf Französisch-Polynesien. «Nicht normal» sei das. Denn in Moorea, wo er sich genau befindet, herrscht das ganze Jahr über ein tropisch-warmes Klima.
Er lebt dort mit seiner Frau Fleure und seinen Kindern Emile (7), Anouk (5) und Elliot (3). Auf die Frage «Seid ihr eine Nomaden-Familie?» antwortet Markus Hartmann: «Nein.» Ein paar Sekunden verstreichen. Und der 40-Jährige muss lachen. «Okay. Ein bisschen vielleicht.»
Von Bremgarten direkt auf den Jakobsweg
Zu Beginn dieses Jahres verkaufte die Familie ihr Haus in Kriechenwil nahe Bern und machte sich auf in die weite Welt. Zuerst nach Neuseeland, jetzt leben sie in Französisch-Polynesien, bald in Hawaii. Die Kinder unterrichten sie selbst. Und das Leben ist ihr grösster Lehrer. Die Familie verzichtet auf Luxus, achtet akribisch auf die Umwelt. Die Eltern arbeiten, «manchmal», wie der Vater sagt. Er bietet beispielsweise Wassertherapien an. Fleure ist im Online-Marketing tätig.
Markus Hartmann ist in Waltenschwil und Anglikon aufgewachsen und lebte dann jahrelang in Bremgarten. Es war seine letzte Station, bevor er losgelaufen ist. Von Bremgarten auf den Jakobsweg. «Ich bin über drei Monate gelaufen. Einfach gelaufen. Es war wertvoll und tiefgreifend», erzählt er. Im «Städtli» beginnt seine Geschichte. Die beeindruckende Geschichte von Markus Hartmann und seiner Familie. Sie ist mutig und inspirierend. Sie handelt von einem Mann und einer Frau, die sich nicht dem Alltagstrott ergeben haben. Und wenn sie ihren Kindern zum Einschlafen von den Kuschelbällchen erzählen, ist ihre Welt perfekt.
Die Familie Kuschelbällchen
Sommerserie «Freiämter im Ausland»: Markus Hartmann und seine Familie sind unterwegs in der Welt
So viel vor, so wenig Zeit. «Das Leben geht schnell vorbei, man sollte es auskosten», sagt Markus Hartmann. Und der Freiämter tut das. Mit seiner Familie verabschiedete er sich Anfang 2019 vom «normalen» Leben und zog hinaus in die Welt.
Stefan Sprenger
«Alles easy. Ich habe Zeit.» Elf Mal wird die Verbindung zwischen Markus Hartmann in Französisch-Polynesien und dem Journalisten in der Schweiz gekappt. «Der Handy-Empfang im Paradies ist eher mässig», sagt Hartmann lachend. Er wirkt tiefenentspannt. Der 40-Jährige befindet sich mit seiner Frau und den drei Kindern auf Moorea, mitten im südöstlichen Pazifik, auf halber Strecke zwischen Australien (5,700 km entfernt) und Kalifornien (6,200 km). «Mit Worten ist der Ort kaum zu beschreiben.»
Er war schon im Freiamt ein kleiner Nomade. Er wuchs in Waltenschwil auf. Im Alter von 14 Jahren zügelten die Hartmanns mit ihren drei Söhnen nach Anglikon. Sieben Jahre später ging Markus zurück nach Waltenschwil. Von 2003 bis 2008 lebte er dann in Bremgarten. Und das ist auch der Ort, wo seine eindrucksvolle Geschichte startet.
Drei Monate zu Fuss unterwegs
18. Juni 2008. Markus Hartmann ist 30 Jahre alt, arbeitet als Sozialpädagoge, er ist Single, macht viel Sport. Beim TV Wohlen und bei Dietikon-Urdorf spielte er Handball. Doch er war unglücklich. «Ich hatte genug. Und ich hatte in mir ein tiefes Gefühl, dass ich etwas tun muss. Ich wollte mich entwickeln, vorankommen», erzählt er heute. Er hatte so viel vor, doch so wenig Zeit. An jenem Tag macht er sich auf den Weg. Das Ziel für den Geist: Selbstfindung. Das Ziel geografisch: «Camino de Santiago», der Jakobsweg. Was er damals noch nicht wusste: Sein ganzes Leben wird sich durch diese Reise verändern.
Über 3 Monate ist er zu Fuss unterwegs. Schweiz, Frankreich, Spanien. «Ich hatte mein Ziel vor Augen. Oft war ich in einem meditativen Zustand. Es war wertvoll, tiefgreifend.»
Er fand ebenfalls Schmetterlinge in seinem Bauch. Denn auf dem Jakobsweg lernte er Fleure kennen, eine Französin, die sein Herz eroberte. Nach der Pilgerreise ging ihr Trip gemeinsam weiter, fast sechs Monate. Aus den Verliebten wird ein Liebespaar. Im Januar 2009 kehrt Markus Hartmann nach Bremgarten zurück. Doch nicht für lange. Mit Fleure geht er in eine Region, wo es für beide passt. «Mein Französisch war damals unbrauchbar schlecht. Also zügelten wir gemeinsam nach Fribourg. In eine Region, wo beide Sprachen vertreten sind.» Ein cleverer Schachzug.
Die Hypothek läuft, die Zeit auch
Fleure arbeitet als Masseurin und Markus erst als Sozialpädagoge in Bern und in der Westschweiz, später in Murten in der Schulsozialarbeit. Nach dem Jakobsweg und der langen Auszeit sind sie finanziell nicht auf Rosen gebettet. «Aber wir waren glücklich», so «Mäle» – wie er im Freiamt genannt wird. Ihre Wohnung hat 2,5 Zimmer. Dann kommt Sohn Emile zur Welt. Und sie zügeln in eine 4,5-Zimmer-Wohnung. Durch eine Erbschaft sind sie in der Lage, ein Haus in der Nähe von Fribourg zu kaufen. «Ein Leben mit finanzieller Last», nennt Hartmann diesen Teil seines Lebens. Tochter Anouk kommt 2014 zur Welt. Er arbeitet, die Frau ist zu Hause mit dem Sohn, die Hypothek läuft, die Zeit auch. «Wir hatten mehr Luxus, waren aber im Alltagstrott. Ich musste mehr arbeiten, hatte weniger Freizeit. Ich wollte abends noch so viele Dinge erledigen, doch ich hatte keine Energie.» Er hatte so viel vor, doch so wenig Zeit. «Wir wurden unglücklich. Wir mussten etwas tun.»
«So ein Seich»
Die Familie Hartmann kauft sich einen alten VW-Bus, fährt damit in die Ferien. Unterwegs erleben sie ein gemütliches Leben. Zurück im Alltag wächst der Drang für eine Veränderung. «Geld verdienen nur für die Kinder. So ein Seich», sagt Hartmann, der in dieser Phase nahe an einem Burn-out ist.
2016 kommt das dritte Kind: Elliot. «Die ersten zwei Jahre im Leben eines Kindes sind sehr intensiv», sagt der Vater. Wenn er nicht am Arbeiten war, dann bei der Familie. «Irgendwann wurde es zu viel. Ich brauchte mehr Zeit für die Familie, für mich.» Die Entscheidung ist gefallen. Die Familie Hartmann zieht los in ein neues Leben.
Sie verkaufen ihr Haus in der Nähe von Bern und wandern offiziell aus nach Frankreich. Hauptsächlich, weil man dort die Kinder problemlos von der Schule nehmen kann. Das wäre in der Schweiz nicht so einfach gewesen. Sie stellten sich die Frage: «Wo können wir das Leben führen, das uns am besten entspricht?» Ökologisch, in Harmonie mit der Welt, ohne grossen Luxus. Eine allgemeingültige Antwort gibt es nicht. Doch weil Markus Hartmann eine Ausbildung in Maori-Kultur begonnen hat, lautet die erste Destination Neuseeland. Es ist Februar 2019.
Paradies mit 118 Inseln
Drei Monate später geht es weiter, nach Französisch-Polynesien. Zu Beginn lebten sie in einer Unterkunft von «Airbnb». Durch Kontakte wohnen sie nun in einem Haus. Das Haus auf der Insel Moorea gehört einem italienischen Paar, das für mehrere Monate weg ist. «Wir passen auf das Haus und den Hund auf und müssen so nur einen sehr kleinen Betrag fürs Wohnen bezahlen und haben so ungewollten Luxus», erzählt Hartmann.
Die Eltern unterrichten die Kinder in allen Fächern. Sprachlich haben sie jedenfalls beste Voraussetzungen. Alle drei sprechen fliessend Französisch und Deutsch, die älteren beiden haben Grundkenntnisse in Englisch. Markus Hartmann und seine Frau sorgen für ein kleines Einkommen. Er bietet Kurse in «Wasserenergie» oder «Atma» (Körperarbeit) an. Seine Frau Fleure gibt Massagen und arbeitet im Online-Marketing. Auf Französisch-Polynesien, wo es nur eine geteerte Strasse gibt, haben sie «alles und noch mehr, was es zum Leben braucht», meint Hartmann. Es sei ein Paradies, 118 Inseln, viele Lagunen und unglaubliche Orte.
Die Geschichte von den «Chaudoudoux»
Die Familie Hartmann hat eine besondere Beziehung zu einer Geschichte des Autors Claude Steiner. «Les Chaudoudoux», zu Deutsch «Kuschelbällchen» oder «warme Flauschis». Er liest seinen Kindern jeweils daraus vor, bevor sie zu Bett gehen. Die Kurzfassung – beschrieben von Markus Hartmann selber: «Es gibt eine Welt, wo alle Menschen glücklich sind, weil alle von Geburt an einen Sack voller warmer Kuschelbällchen erhalten, der niemals leer wird. Doch eine Hexe lehrt die Menschen die Eifersucht und so wird nicht mehr miteinander geteilt, allen geht es schlechter, die Kuschelbällchen werden weniger. Die Rettung kommt durch eine Frau, die die Kinder wieder lehrt zu teilen und zu schenken. Die Frage ist: Schaffen es die Kinder mit ihrem Glück und ihrer Freude, die Welt zu verändern, oder behalten die Erwachsenen mit ihren Gesetzen und Verboten die Macht.»
Am 24. August zieht die Familie weiter. Ziel: Hawaii. Dort erhält «Mäle» Besuch von seiner Familie. Mutter Heidi kommt mit seinen Brüdern Ivo und Andreas. Sie wollen sich ausserdem einer Gruppierung anschliessen, die sich hauptsächlich selbst versorgt mittels Permakultur. «Ich möchte sehen und lernen, wie das funktioniert.» Ende September wollen die Hartmanns nach Mexiko und Guatemala. «Unser ältester Sohn Emile will nach Brasilien. Ich glaube, wir erfüllen ihm diesen Wunsch.» Er hat so viel vor und er hat so viel Zeit.
Irgendwann im Frühling 2020 werden sie zurückkehren. Wohin, das wissen sie nicht so genau. Nicht mehr in die Schweiz, vermutlich nach Frankreich. «Wir werden mit unserem VW-Bus einen Ort suchen, wo wir uns niederlassen können.» Und dort wollen sie möglichst viel Zeit mit ihren Kindern verbringen. Und glücklich sein.
Wer Markus Hartmann und seine Familie online verfolgen möchte, kann dies auf Instagram tun (www.instagram.com/les_ chaudoudoux) oder auf ihrem eigenen Reise-Blog unter www.chaudoudoux.com. Dieser wird allerdings auf französisch geführt.
«Freiämter im Ausland»
In der Schweiz leben viele Personen, die aus dem Ausland zugewandert sind. Aber auch viele Schweizer zieht es dauerhaft in die Ferne. In dieser Serie stellen wir einige Freiämter vor, die den Sprung ins Unbekannte gewagt haben und nun im Ausland leben und dort ihr Glück suchen.
Bisher sind in dieser Sommerserie «Freiämter im Ausland» in dieser Zeitung erschienen: Guido Honegger aus Bremgarten in Finnland (Ausgabe 56), Yasmine Henseler aus Rottenschwil in Schweden (Ausgabe 57), Roger Kündig aus Sarmenstorf in Irland (58) sowie Roger Karl Schärer aus Muri in Vietnam. Weitere werden folgen.