Schülern zum Abheben verholfen
30.07.2019 WohlenThomi Ineichen verabschiedet sich nach 24 Jahren an der Oberstufe der HPS in den Ruhestand
Als Quereinsteiger hat er in der Heilpädagogischen Schule seinen Traumberuf gefunden. Jetzt aber will der passionierte Gleitschirm�ieger vermehrt durch die ...
Thomi Ineichen verabschiedet sich nach 24 Jahren an der Oberstufe der HPS in den Ruhestand
Als Quereinsteiger hat er in der Heilpädagogischen Schule seinen Traumberuf gefunden. Jetzt aber will der passionierte Gleitschirm�ieger vermehrt durch die Lüfte segeln. «An die Zeit in Wohlen werde ich immer gerne zurückdenken», sagt Thomi Ineichen zum Abschied.
Chregi Hansen
«Es war ein komisches Gefühl, jetzt wieder nach Wohlen zu fahren», lacht Thomi Ineichen bei der Begrüssung. Dabei hat er diese Strecke fast täglich auf sich genommen. Meist ganz früh – oft war er schon um halb sieben in der Schule. Obwohl er 24 Jahre lang in Wohlen unterrichtete, lebte der Lehrer die meiste Zeit über in der Innerschweiz – aktuell in Küssnacht. «Ich habe auch mal in Wohlen gewohnt. Aber es zog mich zurück zu den Bergen», erklärt er.
Vor drei Wochen war er zuletzt im Freiamt – am Examenessen wurde er in den Ruhestand verabschiedet. «Noch ist es ungewohnt», berichtet er. Sonst habe er jeweils auch in den Ferien Ausschau gehalten nach Ideen und Materialien, die er für die Schule verwenden kann. Jetzt muss er sich nicht mehr darum kümmern. Ein ganz neues Gefühl.
Respekt und Konzentration
Dafür hat er mehr Zeit für sein grosses Hobby: das Gleitschirmfliegen. Seit 32 Jahren fliegt er in der Freizeit durch die Lüfte. «Ich gehörte zu den Ersten, die diesen Sport in der Schweiz ausübten», erzählt Ineichen. Er hat in den vergangenen Jahren etliche Lehrerkollegen und zum Teil auch Schüler auf Flüge mitgenommen. Letztere natürlich nur mit der Einwilligung der Eltern. «Es ist einfach herrlich, sich im Element Luft zu bewegen. Gleichzeitig braucht es auch viel Respekt vor den Gefahren und eine hohe Konzentration.» Fähigkeiten, die ihm auch in seinem Beruf zugute kamen.
Dass er später einst Lehrer werden würde, das hätte sich der junge Thomi Ineichen wohl nicht vorstellen können. Ursprünglich hat er Maschinenmechaniker gelernt. Ein Freund hat ihn dann in die Werkstatt der Stiftung Brändi gelotst, einer grossen Institution für Behinderte in der Innerschweiz. «Dort habe ich gespürt, wie viel Freude es mir macht, mit diesen Menschen zu arbeiten.» Er unterrichtete später als Quereinsteiger als Lehrer in der Schürmatt, absolvierte die Ausbildung zum Heilpädagogen und war später Schulleiter in der Stiftung Lebenshilfe in Reinach. Angelo Gwerder, langjähriger Lehrer und Schulleiter der HPS Wohlen, lockte ihn ins Freiamt. «Ich habe es nie bereut», sagt Ineichen.
Bei ihm wurde keiner an den Rand geschoben
24 Jahre hat er an der Oberstufe der HPS Wohlen gearbeitet. In dieser Zeit hat er viele Kinder und Jugendliche gefördert und sie fit gemacht fürs weitere Leben. «Das ist eine dankbare Aufgabe», sagt er. «Und es war immer wieder wunderbar, wenn ich für einen dieser jungen Menschen eine Lehrstelle gefunden habe.» Diese Kinder und Jugendlichen seien sich gewohnt, an den Rand geschoben zu werden. Darum gab es bei Ineichen im Schulzimmer stets runde Tische – «da kann keiner am Rand sitzen».
Individuum steht im Zentrum
Seine Arbeit bezeichnet er gleichsam als spannend wie auch als herausfordernd. Spannend, weil es darum ging, die Fähigkeiten und Stärken der einzelnen Schüler und Schülerinnen zu erkennen. Herausfordernd, weil alle diese Schüler eine individuelle Förderung brauchen. «Wer eine normale Schulklasse unterrichtet, der benutzt einen Lehrplan. Bei mir waren es teilweise neun unterschiedliche Pläne», lacht er. Aber das sei auch ein Vorteil. «Wir konnten viel freier arbeiten, auch Neues ausprobieren.»
Neues wagen, das gehört zu seinem Leben. Die Ausbildung zum Heilpädagogen absolvierte er spät als Familienvater im Vollzeitstudium. «Ich musste erst wieder lernen zu lernen. Und abends ging ich arbeiten, um Geld zu verdienen.» Auch der Wechsel nach Wohlen war ein Schritt in ein neues Umfeld. Zu Beginn unterrichtete er nicht im HPS-Gebäude, sondern im «normalen» Junkholzschulhaus. Später war die Oberstufe etliche Jahre wegen Platzmangel in einem Gewerbehaus eingemietet. Ineichen fand sich überall zurecht. Er setzte sich auch für die Gesamtschule ein, etwa im OK des Jugendfests oder als IT-Verantwortlicher der HPS. «Erst bei meiner Verabschiedung wurde mir so richtig bewusst, wie viele Lehrer ich aus den anderen Schulhäusern kenne», erzählt er. «Die vielen Glückwünsche von allen Seiten haben mich berührt.»
Die Schule steht vor Herausforderungen
In den letzten Jahren haben sich die Problemfelder der HPS-Schüler verändert. Immer häufiger kommen Kinder und Jugendliche, die wegen Verhaltensauffälligkeiten in der Regelschule nicht mehr tragbar sind. «Oft tun sie sich schwer am Anfang», weiss Ineichen. «Denn sie sind sich sicher, dass die HPS die unterste Stufe ist. Aber die meisten merken schnell, dass sie hier profitieren.» Ihm war auch wichtig, dass in seinen Klassen ein Wir-Gefühl entsteht. Viele Jahre war er darum als Leiter im Skilager auf dem Stoos dabei. Und hat da die freien Stunden genutzt für einen schnellen Flug vom Klingenstock herunter.
Mit seiner humorvollen und meist optimistischen Art kam er bei fast allen an. Auch bei den Eltern. «Man muss ihnen gegenüber ehrlich und authentisch sein. Es geht nicht darum, ihnen zu sagen, was sie falsch machen. Sondern ihnen eine andere Perspektive aufzuzeigen», sagt der erfahrene Lehrer. Er versuche immer, sich in andere hineinzudenken. Ihre Beweggründe zu erkennen. So, wie er beim Fliegen die Thermik erkennen muss. Die Arbeit als Lehrer in der HPS, sie sei nicht einfach, erklärt er. «Aber mit der Erfahrung wurde sie einfacher.»
Und das sei ein Problem. Es habe zu wenig Lehrer und zu wenig Heilpädagogen. Und viele würden die Schule nach einigen Jahren wieder verlassen. «Da ist die Politik gefordert. Nur mit Sparen macht man die Schule nicht attraktiv», sagt er. Dass er so lange geblieben sei, habe auch mit dem Team zu tun. Und mit den drei Schulleitern, mit denen er in den 24 Jahren zusammengearbeitet hat. «Ich hatte immer die Möglichkeit, mich bei der Gestaltung der Schule miteinzubringen», sagt er. Und dafür sei er dankbar.
In Zukunft nur noch selten in Wohlen anzutreffen
Ja, in Wohlen habe er sich wohlgefühlt. Und obwohl er in der Innerschweiz wohnte, wusste er stets Bescheid, was im Dorf so läuft. Auch dank den regelmässigen Besuchen im «Chäber». Und trotzdem: In Zukunft wird er vermutlich nur selten im Freiamt anzutreffen sein. Er hat dafür mehr Zeit fürs Motorradfahren. Und vor allem fürs Fliegen. «Ich muss wieder los», meint er denn auch nach dem zweiten Kaffee. «Ich gehe heute mit meinen Enkeln in die Luft.» Die Ausrüstung liegt gepackt im Kofferraum. Und schon geht es zurück in die Innerschweiz. Er wird diese Route für längere Zeit zum letzten Mal fahren. «Vielen Dank, Wohlen, für die schöne Zeit», sagt er, bevor er den Motor startet. Um schon kurz darauf wieder abzuheben.